Kiez-Perle Domenica trödelte auf der Partymeile
Von Jens Meyer-Odewald
Ordnung ist was anderes, keine Frage. Offene Kartons, ein Bollerwagen mit Papierbergen, darauf ein uralter Lederkoffer. Daneben ein merkwürdiges Gefährt, eine Art Mofa für ältere Leute. Mit Plattfuß und abmontiertem Reifen. Im Wohnzimmer.
In den Regalen stehen alte Uhren, Messingfiguren, Fotorahmen, kleine Skulpturen, Nippes. Eroberungsstücke vom Flohmarkt. Ein ausrangierter Fernseher auf dem Fußboden, eine indische Göttin an der Wand, Chaos auf dem Tisch. In der Mitte brennt eine Kerze mit biblischen Motiven. Die antike Stehlampe daneben ist außer Betrieb. Hat auch nur 10 Euro gekostet.
In der Hitliste ungewöhnlich und originell eingerichteter Wohnungen gebührt der kleinen Zweizimmerbutze im Herzen St. Paulis ein Spitzenplatz - als skurrile Melange aus Museum und Trödelladen. Individuelle Lebensart mit Seltenheitswert und Charakter. "Ich fühle mich pudelwohl hier", sagt die Hauptmieterin zur Begrüßung und steckt sich eine Filterzigarette an. "Endlich wieder heimisch in Hamburg." Glück hoch drei. Ein heftiger Hustenanfall, Keuchen, Nach-Luft-Schnappen folgen. "Die Bronchien", sagt sie. Diese verfluchten Antibiotika würden einfach nicht anschlagen. Der nächste Zug ist bedächtiger. Aus der Küche wird Stärkung gereicht: Kräutertee und Tomatenbrot, üppigst mit gewürfelten Knoblauchzehen bedeckt. Plötzlich klingelt es an der Tür. Mannomann, welch ein Auftakt! Dabei soll's noch stärker kommen.
Herzlich willkommen bei einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Hansestadt: Domenica Anita Niehoff, eine Lady mit extravaganter Note. In jüngeren Jahren dominante Aktivistin an der Herbertstraße. Mit aus- und für manchen einladenden Formen, mit Vorliebe für den devoten Herrn mit spezieller Neigung. "Dabei bin ich von Natur aus eine Kuschelmaus", flüstert sie. Domina Domenica, für nicht wenige Hamburger war der Name Programm. 63 Lebensjahre, viele davon im grellen Rotlicht, haben Spuren hinterlassen. Geblieben sind tiefgründige Augen, ein warmherziges Lächeln, Ausstrahlung. Charme pur. Immer noch.
An die Jahre danach erinnern Plakate an der Wand, bergeweise Fotos, Postkarten und Zeitungsausschnitte, ein gut verkaufter Bildband sowie eine Biografie auf dem hölzernen Teewagen. Dokumente einer Ära im Scheinwerferlicht. Domenica als Medienstar, Schauspielerin, Künstlerin. Als Kneipenchefin, als prominente Sozialarbeiterin. Domenica an der Seite von Klaus von Dohnanyi, Heidi Kabel, Horst Frank. Und so weiter. Domenica bei mehr als 150 Lesungen, auf der Bühne, bei Vernissagen, auf Partys der High Society, in Talk-shows - als Gast mit Schnauze, Herz und einem Hauch von Hautgout. Vorbei, aber nicht vergessen.
Im Koffer auf dem Bollerwagen liegt ein Stapel handschriftlicher Notizblätter. Basis für ein weiteres Buch, das kommendes Jahr im Verlag Droemer und Knauer erscheinen soll.
Niederschmetternde Erlebnisse sollen darin stehen, seelenlose Zeiten im Waisenheim, prügelnde Freier, brutale Luden, Vergewaltigungen, dramatische Todesfälle in der halb kölsch, halb italienisch geprägten Familie. "Ich bin als einzige übrig geblieben", sagt sie leise, aber trotzig. "Und ich halte durch!" Trotz der gewaltigen Brocken, die das Schicksal ihr zuletzt in den Weg legte. Existenzsorgen, gesundheitliche Probleme, Heimatlosigkeit.
Ein Besucher unterbricht das spannende Gespräch. Es ist Jürgen (alle Namen von der Red. geändert), nicht Lebensgefährte, aber Kumpel und zeitweise Wohnungspartner. Ein Messi, ein leidenschaftlicher Sammler und Jäger. Meilenweit abseits der Norm, jedoch eine Seele von Mensch. Rastlos mit Fahrrad und Trillerpfeife auf Tour durch die Hansestadt. Der ein Schnäppchen nach dem anderen aus dem orangefarbenen Seesack zieht.
Domenica reagiert perplex, aber nicht genervt. Zumal sich Jürgen anschließend in die Küche verzieht, Butterbrote mit Mettwurst und Käse schmiert, Kassler brät.
Alle dürfen mitfuttern. Auch Evelyn. Eine alte Freundin, gleichfalls jenseits der 60 und Barkraft in einem Stripschuppen um die Ecke, ist fröhlich aufmarschiert, um Domenicas persönliche Unterlagen zu sortieren, sprich einen Anflug von Licht ins Tohuwabohu zu bringen.
Ein Teil der Papiere, so scheint es, ist beim Umzug verschütt gegangen. Im Frühjahr, als Domenica nach fünf Jahren in der Eifel heimkehrte in ihre Wahlheimat Hamburg. Im Kaff Boos hatte sie ein kleines Häuschen vom zuvor verstorbenen Bruder geerbt, eine kleine Pension mit einer Handvoll Zimmer.
"Es war das Grauen", sagt die gebürtige Rheinländerin rückblickend. "Am Schluss habe ich mich eingeigelt, die Tür verschlossen und unter Depressionen gelitten." Alles zum Vergessen, bis auf die alte Hedwig. Hamburg lockte, der Kiez, die vertrauten Weggefährten. Mit verheerendem Verlust wurde das zwischenzeitlich renovierte Gebäude verkauft; Hals über Kopf ging's zurück gen Norden. Erst in ein Hotel, nun in eine Zweizimmerwohnung plus Wintergarten. Mittenmang, mit Blick auf Simon-von-Utrecht- und Talstraße. Dort, wo das Leben tobt. Dort, wo Domenica immer noch Gott und die Welt kennt.
Jürgen bringt Nachschub. Frisch gebrühten Kaffee, Stollen in dicken Scheiben. Auch für Inge, Weggefährtin aus dem Milieu, die zusätzlichen Trubel, aber auch noch mehr Lachen in die Bude bringt. Jürgen muss zusätzlich Knobi unters Messer legen.
Darauf eine weitere Zigarette. Hustenanfall, Schulterklopfen. Domenica nutzt die Ablenkung, um eine aktuelle Schote zu servieren. Vom Kochduell eines Privatsenders neulich, einer ganz schrägen Nummer wohl, die im Chaos versank. Leider noch nicht gesendet, aber immerhin ein Spot früherer Glitzerzeiten. Sonst ist's in der Öffentlichkeit ruhig geworden um die Lady in Rot, die ein etwas anderes Leben wählte. Oder in die Wiege gelegt bekam. Oder lernen musste. Oder von jedem etwas.
"Mir wurscht ...", sagt Domenica über verblassten Ruhm. "Ich lass mich nicht unterkriegen." Auch finanziell nicht. Während sie "ein Pfund" (20-Euro-Schein) in einen Umschlag steckt ("Für Werner, der hat noch weniger.") und Jürgen Einkaufsgeld übergibt, beichtet sie ihren wirtschaftlichen Kollaps. Kurz und knapp: alles weg! Irgendwie. Wie gewonnen, so zerronnen. Erst in zwei Jahren wird Rente gezahlt, Hartz-IV-Höhe in etwa. Wäre nicht der Vorschuss fürs aktuelle Buchprojekt, sie müsste "aufs Amt". "Anderes Thema", bittet die Wohnungschefin. Gut verdrängt ist halb gewonnen, Domenica? Die Antwort erfolgt in kölschem Dialekt: "Et hätt schon immer jot jejange." Es ist schon immer gut gegangen. Der Humor habe beim Überleben geholfen. Und Disziplin, erlernt im Waisenhaus. Standhaftigkeit ebenso, Voraussetzungen beim Auf und Ab des Anschaffens.
Sie erhebt sich, schreitet in Richtung Wintergarten, deutet auf ein leer stehendes Geschäft in der Ferne. "Da", schwört sie, "möchte ich einen Trödelladen eröffnen". Um mit dem zu handeln, was sie so liebt. Krimskrams, Kunststücke, Kurioses. Als Maklerin für Flohmarkthändler. Ihr optimistisches Lächeln erstickt aufkommende Skepsis im Keim. Und, Domenica, Hand aufs Herz, so die Schlussfrage nach sieben erstaunlichen Stunden: "Verlassen Sie oft die Wohnung?" Die Antwort lässt etwas warten: "In den letzten vier Wochen einmal." Es kommen ja alle zu ihr. So wie früher. Nur anders.
erschienen am 8. Dezember 2008
Abendblatt
http://www.abendblatt.de/daten/2008/12/ ... 4.html?s=1