Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beiträge betreffend SW im Hinblick auf Gesellschaft bzw. politische Reaktionen
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NoraSW
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Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von NoraSW »

In Diskussionen über Sexarbeit, stoße ich immer wieder auf Argumente, wie
-ist ja nicht so schlimm
- gegen früher ist eh alles besser
- gegen andere Länder ist eh alles gut ......

Wir sind in Österreich. Wir leben und/ oder arbeiten in Österreich.
Grundsätzlich ist natürlich anzumerken, dass gerade in den letzten 10-15 Jahren viele grundsätzliche Dinge für und durch Sexarbeitende verbessert wurden.
Dennoch, es geht nicht nur darum den Status quo aufrecht zu erhalten.
Nicht nach Verbesserung zu streben bedeutet, Umstände zu akzeptieren, die durchaus verbesserungswürdig sind.
Es bedeutet auch den Fokus zu verlieren und unter Umständen auch Verschlechterungen nicht in seiner Anbahnung zu erkennen und eventuell dann auch nicht mehr aufhalten zu können.
Ich erkenne immer wieder eine gewisse österreichisch typische Wurschigkeit.
Zum Argument, der Staat schützt durch Regulierung. Der Staat muss auf eine große Gruppe Sexarbeitender, meistens mit migrantischen Wurzeln gemeint, aufpassen, da es Ihnen nicht zugetraut wird sich selbst zu schützen. Man nimmt halt auf die kleinere Gruppe der Privilegierten, wie es die öffentliche Meinung gerne nennt, weniger Rücksicht, um die anderen zu schützen.
Kaum jemand denkt darüber nach, dass dieses Verhalten Sexarbeitende viktimisiert.
Wenn man uns als Opfer wahrnimmt, geht Freiwilligkeit und Stärke verloren.
Natürlich ist es immer die Aufgabe des Staates, Opfer zu schützen und Täter zu verfolgen.
Aber Sexarbeitende automatisch in eine Opferrolle zu drücken, trägt sicher nicht dazu bei, Sexarbeitende und Ihre Rechte zu stärken.
Der beste Schutz ist Selbstbewusstsein, Rechte, geringe oder keine Abhängigkeitsverhältnisse und Entstigmatisierung.
Bordelle sind unheimlich wichtig, aufgrund der Arbeitsplätze, die dringend gebraucht werden.
Es kann trotzdem nicht Aufgabe eines Vermieters sein, Gesetze zu exekutieren oder dazu Beihilfe zu leisten.
Der Staat treibt Sexarbeitende in eine Abhängigkeit von Betreibern, die oftmals nicht unbedingt förderlich sind, selbstbestimmt zu agieren und unter Umständen auch ausgenutzt werden können und manchmal auch tatsächlich werden.
Menschenhandel zu bekämpfen ist natürlich eine gute Sache und wichtig, aber Menschenhandel ist keine Erfindung der Sexarbeit.
Menschenhandel passiert in vielen Bereichen, Erntehelfer, Küchenarbeiter, Haushaltshilfen, Aupair Pflege und vielen Bereichen mehr.
Nirgends wird mit dem selben Maß an Regulierungen entgegengewirkt, wie bei uns.
Ich habe keine statistischen Belege, ob in anderen Bereiche mehr Sklaverei und Menschenhandel passiert, als in der Sexarbeit.
Fakt ist aber, dass gerade bei uns man grundsätzlich zum Opfer oder als exotisch privilegiert erklärt wird.
Es gibt keine Grauzonen. Ich bin also Opfer oder ich werde nicht ernst genommen.
Als priviligiert betrachtet zu werden, spricht einem die Vergleichbarkeit mit Seinesgleichen ab.
Ihr selbsständigen, österreichischen Exoten, dieses implizierte Anders sein, fördert nur Diskriminierung in den eignen Reihen und wirkt teilweise sogar von Außen gewollt.
Diese aufbürdete Opferrolle gibt außerdem dem Radikalfeminismus einen fruchtbaren Boden.
Der Staat sagt, Regulieren, weil Opfer und die Prostitutionsgegner implizieren automatisch Zwang und Gewalt.
Starke, rechtssichere und selbstbestimmte Sexarbeit verhindert oder mindestens erschwert Gewalt und Zwang.
Da, wo dennoch Menschenhandel und Gewalt passiert, ist es sowieso Aufgabe des Staates, einzuschreiten, aber bessere Rechte erleichtern dies, Regulation und Niederdrücken erschwert es.
Es sollte also nicht vorherrschende Volksmeinung sein, ist ja alles nicht so schlimm, sondern der Diskurs gesucht werden, mit denen, die täglich darum kämpfen, dass sich Arbeitsbedingungen für viele tausend Sexarbeiter verbessern.
Experten für Sexarbeit sind doch in erster Linie Sexarbeitende und Menschen die täglich damit zu tun haben oder sehr nah dran sind.
Gerade in Zeiten wie diesen setzt man doch besonders in Österreich gerne auf Experten. :045
Expertenrunden sollten also auch in der Politik, Experten für Sexarbeit zulassen.

Zusammenfassend darf ich also anmerken, dass es eben nicht " wurscht " ist und auch nicht, " eh ned so schlimm ", solange Missstände und Diskriminierung auch nur im Ansatz vom Staat und der Öffentlichkeit akzeptiert und sogar indirekt und direkt gefördert werden.
Zuletzt geändert von NoraSW am 06.01.2022, 00:40, insgesamt 3-mal geändert.

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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Zwerg »

@nora
Ich habe mir erlaubt, ein "wichtig" für diesen Beitrag einzustellen. Einen Dankeknopf gibt es ja (leider) bei uns (noch) nicht.

christian

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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von friederike »

@Nora,

auch ohne einen eigenen Button kann man es sagen: danke. Danke für diese schönen, klaren Argumente.

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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von deernhh »

Danke, liebe Nora!

Top Beitrag! 👍👍👍

Liebe Grüße von deernhh

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Thorja
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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Thorja »

Es ist mehr als nur: entweder Opfer oder nicht ernst genommen werden.

Die beiden Seiten des Entweder-Oder sind: Opfer oder Täterin.

Gestehst du nicht, Opfer zu sein, oder gelingt es argumentativ nicht, dich zum Opfer zu stilisieren, wirst du automatisch zur Täterin, eben weil du dann Verräterin des Rettungsdiskurses bist.

Vielmehr dienen beide Seiten des Entweder-Oders dazu, nicht mehr ernst genommen werden zu müssen. Auf ein Opfer kann man herabsehen, das Opfer dient dazu, zu rechtfertigen, dass paternalistisch aufgepasst/gerettet werden muss, natürlich nach Regeln, die andere festlegen.

Als Täterin musst du ebenfalls nicht mehr ernst genommen werden, denn alles was du ab jetzt sagst, wird als auf deinen eigenen Vorteil abzielend, als "berechnend", "verschlagen", " verlogen" etc abgewertet. Eine Silencingstrategie.

Ich selbst wurde in einer öffentlichen Diskussion als "Kapo-Frau" tituliert. Nachdem die Gegenseite argumentativ nichts anderes mehr vorzubringen hatte, hieß es: "eine Sexarbeiterin, die öffentlich schreibt, ist Teil der Zuhälterlobby". Bumm. Geschickt gemacht! Somit muss man nie wieder zuhören, wenn eine Sexarbeiterin spricht und sie nicht als Opfer festlegbar ist: dann ist sie eben Teil der Zuhälterlobby und damit: Täterin. Erledigt.

Wie man damit weiter umgeht, weiß ich noch nicht. Es polarisieren sich sehr schnell die Positionen und weiterer Austausch wird sehr schwierig.

Hinzu kommt, dass man als Sexarbeiterin immer auf dem Präsentierteller sitzt. In einer "Expertenrunde" als Sexarbeiterin? Es aushalten, zu wissen, dass man von anderen auf Sexualität/Attraktivität reduziert wird? Dass man abschätzig beurteilt wird, und dann Dinge zu hören/lesen sein werden, wie: "solange sie noch attraktiv ist", "politisch aktiv weil sie kein Geschäft mehr macht", "ich finde sie einfach unattraktiv", obwohl all das mit dem Thema des Gesprächs überhaupt nichts zu tun hat?

Allein das ist schon eine ungleich schwierigere Verhandlungsposition als die ALLER anderen in einer Expertenrunde.
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Kasharius
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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Kasharius »

@Thorja

also die Bezeichnung als "Kapo-Frau" ist weit jenseits des erträglichen. Zur Erklärung des Begriffs Kapo s.hier https://de.wikipedia.org/wiki/Kapo_(KZ)

Wie hast Du auf diesen Anwurf reagiert

Solidarische Grüße

Kasharius grüßt

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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Thorja »

Ich habe versucht, einfach inhaltlich weiterzusprechen und mich möglichst wenig beeindruckt zu zeigen. Ich weiß nicht, wie man mit derlei Provokationen am besten umgeht. Mit einem Eingehen auf den Anwurf geschieht wahrscheinlich ein Stück weit das, was beabsichtigt ist: mich in dem, was ich sagen will, zu stören.
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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Kasharius »

@Thorja
im Grunde richtig. Aber diese KZ-Vergleiche verhönen ja auch die Opfer des Holocaust und Dich...ich war 1990 in Auschwitz auch in Birkenau mich hat das nicht mehr losgelassen und ich reagiere da sehr sensibel seit dem .

kasharius grüßt

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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Zwerg »

@Throrja
Ist diese unfassbare Entgleisung in einem Onlinemedium, oder bei einer Veranstaltung vor Ort, geschehen? Und steht dies noch öffentlich? Wir sollten dagegen etwas unternehmen.

Ich bedaure diesen Vorfall zutiefst! Gerade Du, welche Empathie nicht nur schweigend empfindest, sondern auch in Wort und Tat zum Ausdruck bringst, derart zu beleidigen, ist unerträglich.

Liebe solidarische Grüße

christian

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Kasharius
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Re: Ist ja alles nicht so schlimm ....

Beitrag von Kasharius »

@Zwerg

begrüßenswert.

Darüber soll aber der hervorragende Beitrag von @NoraSW in Vergessenheit geraten der hier weiterere Erörterung verdient !

kasharius grüßt