"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
Benutzeravatar
deernhh
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1640
Registriert: 17.06.2018, 13:17
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von deernhh »

Boris Büche hat geschrieben:
23.03.2021, 12:28
Ach!
Wird der Deutsche Dokumentarfilmpreis 2020 nun aberkannt?

Auf der Grimme-Preis-Seite ist er noch nominiert unter "Information & Kultur" - es gäbe als Sparten noch "Fiktion" und "Unterhaltung".

.......
Kein Grimme-Preis für "Lovemobil"
Nun reagierte auch das Grimme-Institut. "Nach Kenntnisnahme der massiven Vorwürfe rund um den Film 'Lovemobil' hat die Nominierungskommission entschieden, der Produktion auf Grund schwerwiegender Verstöße die Nominierung zu entziehen", teilte Grimme-Direktorin Frauke Gerlach am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur mit und betonte, man unterstütze diese Entscheidung der Kommission nachdrücklich.
.......

https://www.t-online.de/unterhaltung/tv ... zogen.html


Teils inszenierte Sexarbeit-Doku
Grimme-Institut zieht Nominierung für »Lovemobil« zurück
Weil Recherchen ergaben, dass wichtige Szenen der Dokumentation »Lovemobil« nicht authentisch sind, hat sich der mitproduzierende NDR distanziert. Auch für den Grimme-Preis kommt der Film nicht mehr infrage.
23.03.2021, 14.26 Uhr

Szene aus »Lovemobil«: »Zahlreiche Situationen sind nachgestellt oder inszeniert« Foto: Christoph Rohrscheidt / NDR

Als Reaktion auf bekanntgewordene Unstimmigkeiten bei dem Dokumentarfilm »Lovemobil« ist dessen Nominierung für den renommierten Grimme-Preis zurückgezogen worden. Grimme-Direktorin Frauke Gerlach teilte der Deutschen Presse-Agentur mit: »Nach Kenntnisnahme der massiven Vorwürfe rund um den Film »Lovemobil« hat die Nominierungskommission entschieden, der Produktion aufgrund schwerwiegender Verstöße die Nominierung zu entziehen.« Man unterstütze diese Entscheidung der Kommission nachdrücklich.

Am Montag hatte der Norddeutsche Rundfunk (NDR) den Fall bekannt gemacht. Der öffentlich-rechtliche Sender hatte den Film mitproduziert und sich nun wegen Unstimmigkeiten distanziert. Vorerst wurde er aus der ARD-Mediathek genommen und für Wiederholungen gesperrt. Teile des Films sollen nach NDR-Angaben inszeniert worden sein. Demnach soll der Film zwar auf Basis langjähriger Recherchen der Autorin entstanden sein. Zentrale Protagonistinnen des Films schilderten aber nicht ihre persönlichen Erfahrungen, »sondern spielen eine Rolle. Zahlreiche Situationen sind nachgestellt oder inszeniert.«

Mehr zum Thema
Interne NDR-Recherchen: Preisgekrönte Dokumentation über Sexarbeit gefälscht

Preisgekrönte Dokumentation über Sexarbeit gefälscht
In »Lovemobil« geht es um das Leben von Prostituierten in Wohnmobilen am Rande von Bundesstraßen in Niedersachsen. Der Film kam im Frühjahr 2020 in die Kinos und lief auf Festivals. Der NDR zeigte ihn im Dezember.

Die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss bat um Entschuldigung, wenn sich Menschen nun durch den Film betrogen fühlten oder sie sensible Gefühle von Zuschauerinnen und Zuschauern verletzt habe. »Das war nicht meine Absicht«, sagte sie am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Sie habe an einzelnen Stellen die mit wirklichen Prostituierten recherchierten Begebenheiten mit Darstellerinnen nacherzählt, um die Frauen zu schützen oder weil eine Filmaufnahme am Ende nicht möglich gewesen sei. »Im Film ist nichts ausgedacht, was es so nicht gibt. Wir haben es nur mit Darstellerinnen nacherzählt.«

Lehrenkrauss betonte auch: »Was natürlich ein Fehler war, war diesen Film nicht zu kennzeichnen.« Sie habe den NDR gebeten, den Film als künstlerischen Film zu kennzeichnen, das sei aber nicht geschehen. Es habe Schwierigkeiten bei der Kommunikation gegeben. Die Filmemacherin sprach sich dafür aus, den Film nachträglich besser zu kennzeichnen.

Der Film wurde auch mit Mitteln der Nordmedia Film- und Mediengesellschaft Niedersachsen/Bremen mbH gefördert. Auf Anfrage teilte der Bereichsleiter Film- und Medienförderung, Jochen Coldewey, am Dienstag mit: »Wir hatten im konkreten Fall keinen Anhaltspunkt, an der Authentizität zu zweifeln.« Der Film sei zudem über einen sehr langen Zeitraum von rund vier Jahren mit einer Vielzahl von Drehtagen und Protagonistinnen und Protagonisten entstanden. »Eine intensive Begleitung solcher Dreharbeiten ist für eine Filmfördereinrichtung nicht leistbar.«

https://www.spiegel.de/kultur/tv/lovemo ... 81b8556653

Online
Benutzeravatar
Zwerg
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 18062
Registriert: 15.06.2006, 19:26
Wohnort: 1050 Wien
Ich bin: engagierter Außenstehende(r)

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Zwerg »

Stellungnahme von Dona Carmen:

Im falschen Film:

Doku-Lüge „Lovemobil“ als Fake entlarvt!


– Ein Lehrstück über den stigmatisierenden Umgang öffentlich-rechtlicher Medien

mit dem Thema ‚Sexarbeit‘ –


Am 24.Oktober 2019 nahmen Juanita Henning von Doña Carmene.V. und die Sexarbeiterin Nicole Schulze auf Einladung der Veranstalter*innen an einem Filmgespräch im Marburger Kino Cineplex teil. Anlass war die Vorführung des Films „Lovemobil“ der Regisseurin Lehrenkrauss.Die ebenfalls zu der Filmvorführung eingeladene Regisseurin erschien seinerzeit nicht. Die Begründung: Ihr sei das Honorar zu gering, dass ihrdie Veranstalter*innen offerieren konnten.

Nicole Schulze, selbst Wohnmobil-Sexarbeiterin, und Juanita Henning bezeichneten den Film in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum unter Verweis auf offenkundig gestellte Szenen, die mit der Realität der Sexarbeit nichts zu tun haben, als das wenig überzeugende Machwerk einer Prostitutionsgegnerin.Wer tagtäglich und seit Jahren mit Sexarbeiter*innen arbeite oder selbst in diesem Beruf tätig sei,wisse, dass die im Film gezeigten Szenen so nicht passiert sein können, sondern dass eines exarbeitsfeindliche Agenda der eigentliche Skriptist, der dem Film zugrunde liegt.

Das führte erwartungsgemäß zu kontroversen Debatten mit dem erstaunten, vom Film zunächst einmal angetanen Publikum.

NDR:Film als Fake entlarvt

Damals konnte niemand wissen, was heute – anderthalb Jahre später – bekannt geworden ist. Gestern hat der an der Produktion des Films finanziell beteiligte NDR öffentlich eingeräumt, dass in der angeblich so „authentische“ Dokumentation Schauspieler*innen zum Einsatz kamen, die die Rollen der Sexarbeiter*innen und eines Kunden übernahmen und inszenierten. Keine der im Film als Sexarbeiter*innen porträtierten Frauen habe jemals als Sexarbeiterin gearbeitet. Sie hätten nicht ihre persönlichen Erfahrungen geschildert, sondern eine ihnen zugewiesene Rolle gespielt und zahlreiche Situationen im Film „nachgestellt und inszeniert“.

Absolut dreist und das Publikum verachtend ist das Statement, mit dem Regisseurin Lehrenkrauss ihrVorgehen, das sie gegenüber dem NDR und der Öffentlichkeit verschwiegen hat, nachträglich die Produktion alternativer Fakten zu rechtfertigen versucht:

"Ichkann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, die Realität verfälscht zu haben, weil diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe,ist eine viel authentischere Realität."

Lehrenkrauss setzt damit die von ihr selbst geschaffene Vorstellung von einer „authentischeren Realität“ über eine dokumentarische Befassung mit tatsächlichen Gegebenheiten. Das ist das konstruktivistische Strickmuster, das allen quasi-religiösen Herangehensweisen an die soziale Realität gemein ist: Man schreckt vor Fälschungen nicht zurück, sondern hält sie auch noch für die höhere Wahrheit.

Damit hat Lehrenkrauss nicht nur den NDR düpiert und das Publikum verarscht. Sie dokumentiert durch ihre gesamte Herangehensweise auch die abgrundtiefe Missachtung von Sexarbeiter*innen, denen sie ihre angeblich „authentischere Realität“ überstülpt – natürlich unter dem Deckmäntelchen der Empathie.

Öffentlich-RechtlicheMedien verletzen das Gebot der Ausgewogenheit undbeliefern die Abolitionisten-Szene

All diese Zutaten machten den Film vor allem für die Szene abolitionistischer Prostitutionsverächter besonders wertvoll. Denn er inszenierte und bediente die von ihnen immer wieder beschworenen Stereotype: dasElend in der Sexarbeit, die ständige Hoffnungslosigkeit, das Ausstiegsbedürfnis und die grundsätzliche Ausweglosigkeit von Frauen in der Prostitution. Schwarzers EMMA erschien Lehrenkrauss‘ Machwerk gerade deshalb als besonders „gelungen“:


„Wernachts auf dem Land unterwegs ist, kennt sie: heruntergekommene Wohnmobile, die irgendwo am Waldrand stehen und ein rotes Licht im Fenster haben. Die beeindruckende Doku "Lovemobil"begleitet zwei Frauen zwei Jahre lang an diesem hoffnungslosen Ort…Die Kamera liest Rita und Milena den Wunsch von den Augen ab, einfach abhauen zu wollen, es aber nicht zu können… ‚Letzen Endes wollte ich einen Film machen über eine fragwürdige Gesellschaft.‘ Das ist ihr gelungen.“

(„Im Abseits: Die Doku "Lovemobil", 8.12.2020, https://www.emma.de/artikel/freiwillig- ... bil-338285)



Fragwürdigist freilich nicht die Gesellschaft, die Sexarbeit akzeptiert. Fragwürdig sind vielmehr die miesen Tricks und Lügen, mit denen Filmschaffende die Klischees der Prostitutionsgegner bedienen und von den Medien die Gelegenheit erhalten, bedenkenlos die Öffentlichkeit täuschen.



Es verwundert nicht, dass der angebliche „Dokumentarfilm“ zum Zwecke der moralischen Erbauung anschließend in vielen abolitionistischen Geselligkeitsvereinen – von Solwodi über Terre des Femmes bis zu Sisters e.V. – die Runde machte, wo man Filmabende und Zoommeetings mit und ohne Lehrenkrauss organisierte.



NDR inszeniert sich nun als Opfer einer „Irreführung“



Nun ist der „Lovemobil“-Schwindel nach anderthalb Jahren öffentlich finanzierter Volksverdummung auf Kosten von Sexarbeiter*innen aufgeflogen und der NDR hat seinen „Fall Relotius“. Der Sender muss sich obendrein von der Regisseurin vorhalten lassen, „keine Nachfragen zur Authentizität gestellt zu haben“.

Das bestätigt der NDR auf seine Weise:

„Szenen und Protagonist*innen erschienen auch auf Nachfragen immer plausibel, es gab keinen Anlass, am dokumentarischen Charakter des Films und der Glaubwürdigkeit der Autorin zu zweifeln. Eine direkte Überprüfung der Angaben durch die Redaktion,etwa durch persönliche Treffen mit den Protagonist*innen, Anrufe beziehungsweise Schriftwechsel oder Umfeld-Recherchen, hat nicht stattgefunden.“ (https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/ ... he106.html)

Angesichts dessen ist es wenig überzeugend, wenn Frank Beckmann, Programmdirektion Fernsehen des NDR, den Sender jetzt als Opfer einer „Irreführung“ präsentiert.

Die vom NDR angekündigten weiteren Recherchen zum Hintergrund der Täuschungen im Zusammenhang der Filmproduktion „Lovemobil“ sind zwar lobenswert, aber keinesfalls ausreichend und können aber nur ein erster Schritt sein. Die vom NDR diesbezüglich angekündigteTransparenz darf sich nicht auf die Inszenierung des „Lovemobil“-Märchens beschränken.

DoñaCarmen e.V. fordert umfassende Transparenz statt Ablass für die Öffentlich-Rechtlichen

Doña Carmen e.V. fordert stattdessen, den aktuellen Fall zum Anlass zu nehmen, die Hintergründe der Entstehung und Produktion anderer so genannter „Dokus“ über Sexarbeit, mit denen die öffentlich-rechtlichen Medien das Publikum in den vergangenen Jahren geradezu überschwemmt haben, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Dazu zählen – um nur einige Beispiele zu nennen – „Frauenzimmer – Lust kennt kein Alter“ (Februar 2010), „Kauf mich! – Geschichten aus dem Rotlichtmilieu" (Oktober 2011),"Sex - Made in Germany" (Juni 2013), „Das Bel Ami - Eine Ehe im Rotlicht" (Juli 2014), „Bordell Deutschland“ (November 2017), „Prostitution: Kein Job wie jeder andere“ (März 2021).

Eine Überprüfung solcher Sexarbeits-Dokus muss von unabhängiger Seite, in Kooperation mit Wissenschaftler*innen sowie Vertreter*innen de rInteressensverbände von Sexarbeiter*innen erfolgen.

Denn Sexarbeiter*innen sind die eigentlich Geschädigten, wenn ihr Beruf in den öffentlich-rechtlichen Medien permanent schlechtgeredet wird und statt Aufklärung über ihre Tätigkeit Klischees und Vorurteilen Vorschub geleistet wird.

Benutzeravatar
deernhh
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1640
Registriert: 17.06.2018, 13:17
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von deernhh »

Danke @Zwerg,

dass Du den vollständigen Kommentar von Dona Carmen (danke an fraences!) eingestellt hast!
👍👍👍



Aus dem Link (danke an Lucille für die Einstellung!)
https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/ ... he106.html
.....
Das investigative Reportageformat STRG_F (NDR für funk) wird am Dienstag, 23. März 2021 um 17 Uhr, auf dem YouTube-Kanal von STRG_F berichten. STRG_F hat im Zuge der Recherchen mit Protagonist*innen des Dokumentarfilms, der Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss sowie dem NDR Redakteur gesprochen, der den Film "Lovemobil" betreut hat.
Im NDR Fernsehen berichtet Panorama 3 (Dienstag, 23. März, 21:15 Uhr).
.....

Und hier nun der YouTube-Film von STRG_F


Screenshot_20210323-170612.png
Zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken.

Benutzeravatar
deernhh
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1640
Registriert: 17.06.2018, 13:17
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von deernhh »

Käpt'n Blaubär (Seemannsgarn) --> Relotius --> Lehrenkrauss ...
Und das meint der Medienanwalt:

Relotius-Anwalt Christian Schertz zum Streit mit Moreno: Unsere 50-seitige Klageschrift ist fertig
08.02.2021 Marc Bartl

Christian Schertz, der Anwalt von Claas Relotius, erklärt im Interview mit der SZ, warum es zuletzt in der Auseinandersetzung mit Juan Moreno wegen dessen Buch über Relotius so merkwürdig still war. Und Schertz macht eine klare Ansage.

Mit Hilfe von Medienanwalt Christian Schertz war Claas Relotius im Herbst 2019 öffentlichkeitswirksam gegen Juan Moreno vorgegangen. Moreno hatte zuvor ein Buch mit dem Titel "Tausend Zeilen Lüge" im Rowohlt Berlin Verlag veröffentlicht, das schildert, wie Moreno Relotius als Hochstapler entlarvt und an der ein oder anderen Stelle auch über Relotius' Motive und seine Persönlichkeit spekuliert. Relotius forderte den Verlag auf, verschiedene Aussagen in dem Buch zu unterlassen. Danach ist es monatelang merkwürdig ruhig geblieben, wie kress pro im vergangenen März berichtete.

Relotius-Anwalt Christian Schertz sagt nun im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: "Wir haben das wegen Corona zurückgestellt. In so einer Zeit wollten wir keinen solchen Schauplatz eröffnen, es werden ja dann auch Spiegel-Mitarbeiter aussagen müssen vor Gericht. Unsere 50-seitige Klageschrift ist fertig."

Schertz äußert sich auch zur Zusammenarbeit mit Relotius: "Ich bin nicht nur Anwalt für die Schönen und Reichen, sondern auch für die, die von den Medien bereits als Verlierer verurteilt sind. Natürlich hat auch Relotius das Recht, korrekt dargestellt zu werden. Ich erwarte von jemandem, der ein Enthüllungsbuch schreibt, in dem er einen anderen der Lüge bezichtigt, dass er selbst in jedem Satz bei der Wahrheit bleibt."

Anlass des Interviews, das Laura Hertreiter für die SZ mit Christian Schertz geführt hat, ist die ARD-Serie Legal Affairs. Schertz dient als Vorbild für die Rolle, die von Lavinia Wilson gespielt wird.

Seinen Berufsalltag als Medienanwalt schildert Schertz in der SZ so: "Menschen davor zu schützen, vorgeführt zu werden. [...] Binnen Minuten können Menschen ihren guten Ruf verlieren, Sie müssen sich die Arbeit oft wie in der Notaufnahme vorstellen. Nur geht's bei uns nicht um Gesundheit, sondern um die persönliche Ehre oder die Reputation von Unternehmen. Das ist presserechtliche Erstversorgung, wie ich es nenne. Oft arbeiten wir twenty-four-seven."

Seit er als Jugendlicher "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" gelesen habe, sei er getrieben von der Wut "auf diese Form von Journalismus". Es ekle ihn, wenn Menschen für die Auflagensteigerung gegen ihren Willen und rechtswidrig an die Öffentlichkeit gezerrt würden. "Ich bin da humanistisch sozialisiert", so Schertz in der Süddeutschen.

Dass er in Redaktionen mitunter schlecht wegkomme, wenn er Berichterstattung verhindere oder erschwere, ist nach Ansicht von Schertz zu erwarten, wenn man diese Medien permanent angehe oder verklage. Aber es sei natürlich nicht so, dass der Anwalt der Ritter sei, und der Journalist der Böse. Es sei wichtig, dass der investigative Journalismus Missstände aufdecke, gleichzeitig könnten Journalisten schwere Schäden anrichten, wenn Sie Menschen vorverurteilten oder vorführten.

Viele Medien haben laut Schertz "offenbar weniger Ressourcen, Fakten selbst zu recherchieren oder nachzuprüfen". Heute verbreiteten sich Geschichten viel schneller, auch falsche. Andererseits merke er, dass es in vielen Häusern eine Scheu vor rechtlichen Auseinandersetzungen gebe, weil die Geld kosteten. Die Bild sei früher oft bei Presseprozessen durch alle Instanzen gegangen. Seit einigen Jahren drucke sie keine Paparazzifotos mehr, so Schertz.

Der Medienanwalt glaubt nicht an den Deutschen Presserat: Dessen Rügen interessierten weder Bild noch Spiegel, wird Schertz deutlich.

Bei Instagram und Twitter agiere er unter anderem Namen, weil er ja sehen müsse, was Mandanten von sich posteten, verrät er.

Christian Schertz gibt sich im SZ-Interview auch selbstkritisch: "Ich habe versucht, immer auf der richtigen Seite zu stehen. Aber manchmal, nicht oft, stellt man fest, dass man das nicht tut, weil die Wahrheit anders aussieht, als man anfangs dachte."

https://kress.de/news/detail/beitrag/14 ... ertig.html

Benutzeravatar
deernhh
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1640
Registriert: 17.06.2018, 13:17
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von deernhh »

Aufgedeckt: Preisgekrönter Dokumentarfilm nachgestellt
Sendung: Panorama 3 | 23.03.2021 | 21:35 Uhr
13 Min

Falsche Protagonisten, nachgestellte Szenen: Teile des preisgekrönten Dokumentarfilms "Lovemobil" der Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss, den der NDR mit produziert hat, sollen zum Teil gestellt sein. Das zeigen Recherchen des investigativen NDR Formats Strg_F.

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/ ... i3780.html

Das Video von der gestrigen Sendung siehst Du, wenn Du auf den Link klickst

Benutzeravatar
malin
PlatinStern
PlatinStern
Beiträge: 1205
Registriert: 01.09.2008, 18:26
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von malin »

Danke Deern, für den verlinkten Report! Irgendwie ist es ja schön und beruhigend dass unsere Sensoren so gut funktionieren, im Bezug auf „unglaubwürdig“.

Obwohl, den beiden Darstellerinnen hätte ich den Job im sexwork sofort abgenommen - nur die Storys stimmten eben nicht.
liebe grüsse malin

eventuell fehlende buchstaben sind durch meine klemmende tastatur bedingt :-)

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Hallo zusammen,

wollte man ernsthaft klären, wie es zu solchen "Stalking" Exzessen gegenüber Sex Workers und ihrer Tätigkeit kommen konnte, wird man meines Erachtens nicht in den achtziger Jahren, als Alice Miller ihre Mißbrauchsbücher schrieb, Halt machen können, sondern über die pseudowissenschaftlichen Sex Reports der Nachkriegszeit, über das Zeitalter von Exorzismus und Hexenverbrennung und der "peinlichen Befragung" durch den Klerus bis ins Mittelalter vordringen müssen.

Das was Kunden von Sex Workers ebenso lernen müssen, nämlich daß das Privatleben, und alles was dazu gehört, tabu ist, fällt der angeblich so wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zusehends schwerer. Darum muß gerade jene Theorie enttarnt werden, derzufolge alles Private auch Politisch sei. Und man sollte auch Erich Fromm's "Destruktivität" zu Rate ziehen, derzufolge wissenschaftliche Betätigung mit sadistischem Zerlegen und, des Zweckes wegen, der die Mittel heiligt, unvermeidbarem Zerstören einhergeht. Die "Liebe" ist ja nun auch so ein Konstrukt das nach Wahrheit und Erkenntnis strebt. Der Kunde eines Sex Worker lernt aber sehr schnell über den Geldbeutel und/oder Sexentzug, daß es sich nicht lohnt, Fragen zu stellen, oder sich nur annäherungsweise gedanklich und in der Fantasie mit dem Privatleben der Angebeteten zu beschäftigen. Sex Workers können sehr gut Konflikte managen. Geht zwar auf die Nerven, aber sie können es nun Mal aufgrund häufigerer Übungsintervalle und Erfahrung besser, und die Luft, äh Lust, ist dann allemal raus. Das wünsche ich jetzt auch allen m-w-d Abolitionisten, daß sie ab sofort wieder im eigenen Saft schmoren.

Ach ja, und Hure spielen ist halt auch immer wieder interessant, gell? Schnupperkurse gibt's leider erst nach Corona wieder.

Alles in allem erwarte ich von der Regisseurin und dem Sender eine tatkräftige Finanzspritze für die Sex Workers Community.
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Boris Büche
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 693
Registriert: 20.12.2014, 13:53
Wohnort: Berlin
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Boris Büche »

Gerade mal gekuckt, was Frau Mau dazu sagt:
"Das ist sehr schlimm. Denn viele Menschen haben diesen Film geschaut, und hatten Mitgefühl mit den Frauen, die sich in Wohnmobilen am Waldrand prostituieren. Jetzt steht die Glaubwürdigkeit des Films natürlich auf dem Spiel - und damit leider auch die Glaubwürdigkeit vieler von uns, die gegen Prostitution aktiv werden. Das hier wird uns, die wir Prostitution abschaffen wollen, leider massiv schaden. Der "Fake!"-Vorwurf, wir werden ihn jetzt öfter hören. Vor allem auch für uns Aussteigerinnen aus der Prostitution ist das belastend, denn wir hören ihn eh schon immer, er ist Teil der "Das hast du dir eh alles ausgedacht, so schlimm kann es gar nicht sein"-Verleugnung der Gesellschaft. Schade drum. Eine einzige Einblendung, dass die Szenen nachgestellt sind, hätte das verhindert.
Jetzt werden wir, die wir aus der Prostitution ausgestiegen sind und öffentlich sprechen, uns immer wieder dem Verdacht aussetzen, auch wir seien "gescriptet", "gecastet", "nachgestellt". Herzlichen Dank auch
."

Halb so wild, Huschke: Die Glaubwürdigkeit des Films steht bloß auf dem Spiel - stell' Dir vor, sie sei dahin: Das wäre erst schlimm . . .

Benutzeravatar
Kasharius
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 4100
Registriert: 08.07.2012, 23:16
Wohnort: Berlin
Ich bin: engagierter Außenstehende(r)

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Kasharius »

...und die Glaubwürdigkeit von gewissen "Überlebenden" gleich noch mit dazu...aber auch kein Ruhmesblatt für die vermeintlichen "Mainstream-Medien"...

Ich dachte immer, solche Dokus werden vorher abgenommen, bevor sie auf Sendung gehen.

Kasharius grüßt

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Hallo Kasharius,

zur Abnahme sagt ja der so betroffene Mitarbeiter vom NDR, "daß es keinen Anfangsverdacht gegeben habe", und er frägt in die Kamera, wann der Zeitpunkt dafür gewesen wäre.

Genauso mutmaßt die Regisseurin in die anklagende Kamera, daß sie wohl den Zeitpunkt für die von ihr so gerne losgetretene Diskussion über künstlerische Dokus verpaßt habe.

Alles eine Frage des Zeitpunktes? Ich glaub' die wollen mich vergageiern!

Märchenstunde

A und B verabreden im Vollrausch einen Banküberfall. Ab diesem Zeitpunkt ist der Zeitpunkt verpaßt, das Vorhaben noch zu stoppen, da sich der eine auf den anderen verläßt. Der Richter hat ein Einsehen, und setzt die Strafe zur Bewährung aus, weil die Tat im Suff verabredet wurde. Die Beute dürfen sie behalten, weil bereits im Suff darüber verfügt wurde. Der Zeitpunkt alles rückgängig zu machen war schlicht und ergreifend verpaßt worden, und kann durch nichts zurückgeholt werden. Das Urteil ergeht im Namen aller billig und gerecht denkenden Menschen, die wissen, wie es ist, wenn man Dreck am Stecken hat.

Viele Grüße
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Benutzeravatar
Kasharius
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 4100
Registriert: 08.07.2012, 23:16
Wohnort: Berlin
Ich bin: engagierter Außenstehende(r)

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Kasharius »

Ach lieber @floggy

Deine wie immer brillianten Ausführungen verschönern mir den Start ins Wochenende. Und ein Rechtsgelehrter ist auch noch an Dir verloren gegangen.

Lebe lang und in Frieden (sagt der Vulkanier in mir !)

Kasharius grüßt herzlich

Boris Büche
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 693
Registriert: 20.12.2014, 13:53
Wohnort: Berlin
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Boris Büche »

FRAU distanziert sich:

Geschäftsstelle Ostalb-Bündnis gegen Menschenhandel und (Zwangs-)Prostitution:

Film "Lovemobil" - wir distanzieren uns!

Wir haben diesen Film im Januar als Stream zur Verfügung gestellt und hatten anschließend als Ostalb-Bündnis in Kooperation mit dem Ulmer Bündnis gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution, dem Kino am Kocher Aalen, der efi Ellwanger Filminitiative, dem Gmünder Kino Brazil und dem Freudenstädter Programmkino Subiaco in Alpirsbach einen gut besuchten Online-Talk mit der Regisseurin organisiert.

Wir sind enttäuscht, im Nachhinein von den Produktionsumständen zu erfahren und umso mehr von den Aussage, die Frau Lehrenkrauss in der Diskussion gemacht hat. Für mehr Informationen der Recherchen des NDR STRG_F:

[Link oben im thread]
Der Beitrag enthält auch einen youtube-link mit Filmausschnitten und einer Befragung von Frau Lehrenkrauss.

Auch wenn Frau Lehrenkauss beteuert, die Realität nicht verfälscht zu haben, ist dennoch ein großer Schaden entstanden, im Kampf für eine Gesellschaft ohne Prostitution.

Boris Büche
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 693
Registriert: 20.12.2014, 13:53
Wohnort: Berlin
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Boris Büche »

. . . Den Dok-Filmpreis 2020 inklusive Prämie hat Frau Lehrenkraus dem SWR gestern zurückgegeben -
da bleibt dem Sender mehr Spielraum, "Grautöne zwischen Realität und Inszenierung akzeptieren" [Artikelüberschrift]
"In Wahrheit erzähle uns der Film „Lovemobil“ eine ganze Menge darüber, was für Klischees wir alle im Kopf haben."

Soso. Aber erst jetzt, nach der Aufdeckung!

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

"Es wird nicht in Projekte investiert, die ergebnisoffen sind." [Quelle 1]

Darum steht das Urteil bereits bei Vertragsabschluß fest:

"es handelt sich also um ein Globalisierungsphänomen und vor allem: um schlimmste Armutsprostitution." [Quelle 2]

"Sender wie die Festivaljurys [ist] den schönen Bildern aus dem größten Elend erlegen." [Quelle 2]

"Elke Lehrenkrauss hat geliefert, was ankommt." [Quelle 2]

Okay, spätestens jetzt ist die Sex Workers' Community im Bilde, daß es nicht um ihre Befindlichkeiten bei der Aufarbeitung in dieser unappetitlichen Angelegenheit geht, sondern um die von Sender, Regisseurin, Festivaljurys, Zuschauern, Dokumentarfilmern, und last but not least um die von Abolitionisten.

"Sie [Elke Lehrenkrauss] habe die Zuschauer nicht verletzen wollen und möchte sie um Entschuldigung bitten." [Quelle 2]

Ach ja, die Zuschauer! Und die vermeintlichen Sex Workers, Kunden, und der eine Barbesitzer? Wie konnte Rita als vermeintliche Prostituierte nur in die USA einreisen? Leck im Sicherheitssystem des Heimatschutzes, oder Heldin der Abolitionisten?

"Der Skandal um die Doku hat die Branche tief erschüttert." [Quelle 1]

Gemeint ist natürlich nicht die Erotik Branche, sondern die Filmbranche.

"Dieser Film ist zu schön, um wahr zu sein." [Quelle 1]

Ja endlich! An dem Film ist nun auch gar nichts wahr. Endlich hat das jemand gesehen und ausgesprochen.

Aber dann doch wieder volle Kehrtwendung:

"klarer Betrug nicht nur an der Redaktion . . . sondern am Vertrauenspakt mit dem Zuschauer." [Quelle 1]

Tja, lieber Fernsehkonsument, Fernsehstunde ist Märchenstunde.

Der eigentliche Skandal, "Lehrstück über den stigmatisierenden Umgang öffentlich-rechtlicher Medien mit dem Thema Sexarbeit", wie das Doña Carmen e.V. - Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten - formulierte, setzt sich unbemerkt fort. Da bin ich erst Mal sprachlos, und gespannt, was noch kommt.

Quelle 1: https ://www .sueddeutsche .de/medien/lovemobil-dokubranche-debatte-elke-lehrenkrauss-1.5247139
Quelle 2: https ://www .sueddeutsche .de/medien/lovemobil-ndr-dokumentation-prostitution-faelschung-1.5243743
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Benutzeravatar
Adultus-IT
Fachmoderator(in)
Beiträge: 1165
Registriert: 23.08.2010, 15:38
Wohnort: Palma (Islas Baleares) / Santa Ponsa - Calviá / Berlin
Ich bin: BetreiberIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Adultus-IT »

Hier mal etwas zum nachhören von "Inforadio"... u.a. mit Aussagen der Regisseurin die auch gleichzeitig Produzentin war.

Hier - Hördauer ca. 15 Minuten
(auf das Lautsprechersymbol klicken)
Fachmoderator im Spezialgebiet:
Telefonmehrwertdienste Bereich Erotik (Telefonsex/Hotline/Anbieter/Agenturen)
weitere Themengebiete: Grundlagen im Bereich der Online-Erotik
Kontakt: (Freecall DE) 08000 1 40 44 42

Online
Benutzeravatar
Zwerg
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 18062
Registriert: 15.06.2006, 19:26
Wohnort: 1050 Wien
Ich bin: engagierter Außenstehende(r)

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Zwerg »

Hurenfeindlichkeit und antiasiatischer Rassismus

Über „Love Mobil“ und die Dimension der Gewalt gegen Sexarbeiter*innen in Bezug auf die Morde in Atlanta.
30.03.21 > Christian Schmacht

Relaxen nach der Sexarbeit war nie wichtiger. Die Kund*innen sind noch komplizierter, weil sie durch Corona langsam am Rad drehen, mensch selbst ist nervös wegen Kriminalisierung und Ansteckungsgefahr und ich persönlich bin sowieso einfach nur exhausted. Aber was kriege ich von Netflix, Patronin der stumpfen Entspannung? Eine humorvoll überspannte Krimiserie über Prostituierte namens „Sky Rojo“, von den Leuten, die auch „Haus des Geldes“ kreiert haben. In Wirklichkeit ist die Serie ein Lehrbuch des Hurenstigmas. Die Frauen werden durchwegs sexualisiert gezeigt. Besonders in Gewalt- und Zwangssituationen werden ihre Körper erotisiert und ihre Charaktere misogyn und klassistisch verhöhnt. Die erste „Dead Hooker“, also die Trope der toten Prostituierten, die in keinem hurenfeindlichen Werk fehlen darf, erleben wir schon in Episode eins. Auch sonst fehlt es an nichts: Gewalt, Drogenkonsum und naive Nutten in Sexkostümen, die Folge für Folge gequält, erniedrigt und sexualisiert werden. Ihre scheinbare Selbstbefreiung gelingt nur, weil eine der Frauen nicht nur Prostituierte ist, sondern auch was im Kopf hat – nämlich ein abgeschlossenes Studium. Puh, zum Glück. (Sarkasmus!) Wer diese Kolumne kennt, merkt es schon – die Serie erzählt einen SWERF-Epos* zum Verlieben. Aber dafür ist Netflix ja auch da – nimm alles, was an unserer Welt problematisch ist, und schlachte es aus.



Anderes erwartet mensch vom Format Dokumentarfilm in den Öffentlich-Rechtlichen. Doch nun stellt sich raus, dass die preisgekrönte Sexarbeit-Doku „Love Mobil“ von der Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss ein Fake ist. Ein Großteil der Szenen ist geskriptet, die Mehrheit der Protagonist*innen sind weder Sexarbeitende, Zuhälter oder Freier, sondern Schauspieler*innen. Lehrenkrauss unterließ es, ihre Darsteller*innen, ihren Auftraggeber NDR sowie ihr Publikum über diese Tatsachen zu informieren. In einer Recherche von „STRG F“ findet Mariam Noori heraus, dass die Schauspieler*innen überrascht bis unglücklich damit sind, nun der ganzen Welt als Prostituierte bzw. Zuhälter bekannt zu sein. Sie dachten, sie seien für einen fiktiven Spielfilm gecastet worden. Darüber hinaus erfand die Regisseurin kurzerhand einen Zuhälter, einen Polizeieinsatz und eine „Dead Hooker“ für die Dramaturgie ihres Films. Lehrenkrauss selbst verteidigt ihr Vorgehen – ihre Darstellung sei eben authentischer als die Realität. Hat sie zu viel „Sky Rojo“ geguckt?

Als abgebrühte Hure denkt mensch sich bei solchen Storys eigentlich nur noch LOL. Thema LOL – Lichtblick in diesen Tagen ist einzig der neue Song „Lola“ von Nura, die sich gewohnt hurensolidarisch im Video mit echten Sexarbeiter*innen zeigt und aus der Perspektive der Stripperin Lola singt.

Der heitere Teil dieser Kolumne ist vorüber.

Eine Zuspitzung von Hurenfeindlichkeit und Rassismus mussten wir im März in den USA beobachten. Ein weißer cis Mann erschoss acht Menschen, sechs davon asiatische Frauen, in einer Serie von Angriffen auf Massagesalons.

Ihre Namen sind Hyun Jung Grant, Xiaojie Tan, Delaina Ashley Yaun, Daoyou Feng, Soon C. Park und Suncha Kim sowie Paul Andre Michels, Elcias Hernandez Ortiz. Ihnen gilt meine Trauer und Solidarität.

Ich weiß nicht, wer von diesen Menschen Sexarbeiter*innen waren, und das geht mich auch nichts an. Es ist wahrscheinlich, dass einige Massagearbeiter*innen in den angegriffenen Salons auch sexuelle Dienstleistungen verkauften, andere wiederum nicht. Im Freierforum RubMaps finden sich jedenfalls Einträge, die auf die Existenz von Sexarbeit in den betroffenen Salons schließen lassen. Außerdem waren sie im Fokus von Anti-Prostitutionseinsätzen der örtlichen Polizei[1]. Der Täter, selbst Kunde, entschied sich, Menschen anzugreifen, die er für Sexarbeiter*innen hielt. Hurenfeindlichkeit ist immer auch vermischt mit Rassismus und Klassismus, und die asiatischen Massagearbeiter*innen waren von allen drei Marginalisierungen betroffen. Esther K, von der Sexarbeiter*innen-Selbstorganisation Red Canary Song bringt es im „Guardian“ auf den Punkt: „Die Vermischung von Massagesalons und Sexarbeiter*innen ohne jede Nuancierung ist ein Merkmal von anti-asiatischem Rassismus gegen asiatische Frauen“.[2] Dieser Rassismus hat eine lange Geschichte und ist eng verknüpft mit zwei stereotypen, diskriminierenden Frauenbildern, die tief in die nordamerikanische und europäische Kulturproduktion eingeschrieben sind. Demnach ist eine asiatisch gelesene Frau entweder eine kaltherzige, verführerische Domina oder eine unterwürfige, willige Dienerin, jeweils mit einer ordentlichen Portion orientalistischer Exotifizierung versehen. Diese Tropen finden sich bereits im Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“, der Oper „Madame Butterfly“ und im Musical „Miss Saigon“. Dabei sind diese Kulturprodukte ein Echo des orientalistischen Blicks Marco Polos, der im 14. Jahrhundert seinen asiatischen Reisereport erdichtete.

Und um es nicht unbenannt zu lassen: Diskriminierung und Gewalt erfahren asiatische Sexarbeiter*innen auch in Deutschland. Zuletzt bei Razzien in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein, u. a. gegen Bordelle, in denen vietnamesische Migrant*innen arbeiteten. Mit der typischen Mischung aus Lust und Empörung bleibt die Berichterstattung dabei, von Menschenhandel und Zwangsprostitution zu sprechen, ohne dass auch nur eine Stimme von Betroffenen gehört wurde, um diese Deutung zu verifizieren.

Das Hurenstigma trifft nicht nur die, die Huren sind, sondern auch die, die für Huren gehalten werden. So berichteten nach dem Anschlag viele Menschen, die Sexismus und antiasiatischen Rassismus erfahren, auf Twitter von ihren Erfahrungen mit meist weißen Männern, die sie für Sexarbeiter*innen, also für willig und verfügbar, gehalten und dementsprechend belästigt haben. Das Hurenstigma gegen asiatische Menschen geht so weit, dass in Deutschland fast jeder Salon, der reguläre Thai-Massage anbietet, mit Schildern darauf hinweisen muss, dass an diesem Ort keine Sexarbeit angeboten wird. Bei einer Physiopraxis, in der weiße, deutsche Menschen arbeiten – nicht vorstellbar.

Der antiasiatische Rassismus, der seit Ausbreitung der Coronapandemie zunimmt, reicht nicht als alleinige Erklärung für die Morde. Der Täter, gläubiger Christ und selbst bezeichneter Sexsüchtiger, sagte aus, er habe die Frauen bestrafen wollen, da sie ihn in Versuchung führten. Damit klingt er wie eine Mischung aus rechtem Incel und europäisch-mittelalterlichem Hexenjäger. Berichten zufolge hatte er vor, nach seinen Morden in den Massagesalons, in den Bundesstaat Florida zu fahren und dort „die Pornoindustrie“ zu attackieren. Bevor er dies in die Tat umsetzen konnte, wurde er gestellt und verhaftet.

* SWERF = Sex Work Exclusionary Radical Feminism

[1]

[2] https://www.theguardian.com/us-news/202 ... ism-sexism

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Zufällig entdeckt, und dann hab' ich mir gedacht:

Schon wieder eine (Frau), die seit ihrer Jugend vor Neugierde platzt. Wie die Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss. Was das mit den Frauen macht, sollte doch Spuren in ihren "Dokumentationen" hinterlassen, und Auskunft darüber geben?

https ://www .main-echo .de/ueberregional/kultur/swingerclub-und-strassenstrich-recherchen-im-rotlicht-art-4427555

Wenn ich jetzt von Nora Bossong über sich selbst in der Leseprobe von amazon lese, wie ausgeschlossen und neugierig sie sich zusammen mit ihrer Freundin fühlte, dann fallen mir die enthusiastisch begeisterten Frauen ein, die zur Frankfurter Bahnhofsnacht eine Bordellführung, oder wenigstens einen Table Dance Eintritt, ergattert hatten; und die Enttäuschung derer, die leer ausgingen, und sich auch nicht trösten ließen, daß es jeden Monat Bordellführungen gegen Unkostenbeitrag gibt.

Nora Bossong, Rotlicht: Die Lust, der Markt und wir.
https ://www .amazon .de/Rotlicht-Nora-Bossong/dp/3446254579

Ich bin mir nicht sicher, aber das Verruchte scheint nur solange interessant und verklärend zu wirken, solange es sich außer Reichweite befindet. Kommt der Kontakt zustande, ist Irritation der Fall, und schlägt in Ablehnung um.

Ein neuer Forschungsgegenstand? Die weibliche Reaktion auf das Verruchte? Und was es mit Frauen macht, nicht dazu zugehören.

Trifft es tatsächlich zu, daß für Frauen in der Erotik- und Sex Branche keine Gestaltungsmöglichkeiten bestehen? Beate Uhse hatte Hausfrauen über Empfängnisverhütung per Post in den Briefkasten informiert. Und nicht nur das.
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Benutzeravatar
deernhh
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1640
Registriert: 17.06.2018, 13:17
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von deernhh »

Beitrag von Hanna Lakomy alias Salomé Balthus

Ich gebe dir Geld, und du machst, was ich will!
Wie der NDR-Produzent Timo Großpietsch die Regisseurin Elke Lehrenkrauss zum Bauernopfer machte. Analyse eines Skandals.

Hanna Lakomy, 3.4.2021 - 09:49 Uhr

Foto: Uwe Hauth
Hanna Lakomy schaut hin.

Berlin - Ich war ziemlich geladen, als ich zu ihr fuhr. Mit dem Fahrrad von Neukölln nach Moabit: Die Regisseurin Elke Lehrenkrauss hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Sie war bereit, mit mir zu sprechen.

Sie haben es vielleicht in den Zeitungen verfolgt: Der preisgekrönte NDR-Dokumentarfilm „Lovemobil“, der die Arbeit von Straßenprostituierten in Wohnwagen zeigt, ist in die Kritik geraten. Das sendereigene Format „STRG+F“ hat herausgefunden, dass die angeblich authentischen Szenen nachgestellt sind, teilweise mit Schauspielern. Ganze Passagen frei erfunden. Die Doku, die sich rühmte, so nah an der Realität der Prostitution zu sein wie keine zuvor: ein Fake. Sogar ein Mord soll erfunden worden sein, ein Mord an einer Sexarbeiterin. Einfach so, weil es zum Klischee passte. Weil man das eben so hinnimmt, unsereins wird halt öfter mal ermordet.

Die Regisseurin Elke Lehrenkrauss, konfrontiert mit den Vorwürfen, antwortet, das sei nicht weiter schlimm, denn ihre Darstellung sei die viel authentischere Realität.
Peng. Eine Bombe ist hochgegangen. Alle Leitmedien stürzten sich auf diesen neuen Relotius-Skandal. Verständlich, denn alle, die sich jetzt empören, waren dem Film auf den Leim gegangen und sind nun peinlich berührt. Von der eigenen Dummheit.

Reality-Check
Wie konnte es dazu kommen? Oder, wie sich der verantwortliche Redakteur, Timo Großpietsch, in der Recherche von „STRG+F“ betroffen fragt: Wann hätte es mir auffallen müssen? Ja, wann wohl? Wer, der bei Verstand ist, hält solche Szenen für echt? Freier, die sich für ihren Stich am Straßenstrich ausgerechnet den Wohnwagen aussuchen, der von einem Filmteam umstellt ist? Und sich beim intimen Tête-à-Tête filmen lassen? Illegale Prostituierte, die mit ihren Luden vor der Kamera streiten? Zuhälter und Menschenhändler, die ungeniert aus dem Nähkästchen plaudern? Und ein Drehteam, das darauf hin nicht in einem Zeugenschutzprogramm verschwindet? Wenn hingegen ich mich in der Öffentlichkeit äußere, heißt es immer, alles, was ich sage, sei mit Vorbehalt zu betrachten. Ich sei ja nur die Ausnahme. Nicht das wahre Gesicht der Prostitution.

Kaum ein Archetyp vereint so gegensätzliche Extreme in sich wie die Hure: Ist sie ein willenloses Stück Fleisch oder eine verschlagene Verführerin? Mir ist nur meine kleine Nische vertraut. Aber ich habe viele Kolleginnen aus anderen Zweigen der Branche, wir sind schließlich vernetzt. Das, was sie erzählen, ist ganz anders als „Lovemobil“. Aber das gilt für so ziemlich alle TV-Dokus über Sexarbeit in Deutschland, seit sie legalisiert ist. Darum hat der Skandal uns nicht wirklich überrascht. Dokus mit reißerischen Titeln wie „Kauf mich! – Geschichten aus dem Rotlichtmilieu“ (2011), „Sex – Made in Germany“ (2013), „Bordell Deutschland“ (2017), „Rotlichtreport Deutschland“ (2018) oder jüngst „Prostitution: Kein Job wie jeder andere“ (März 2021).

Sie alle zeigen ein stereotypes Bild von Prostituierten – in der Mehrheit hilflose, gern etwas dümmliche Opfer, die für Geld alles tun, was fiese Wüstlinge von ihnen verlangen. Wesen, die Alice Schwarzer an ihren „toten Augen“ erkennen will. Und auf der anderen Seite die vermeintlichen Nutznießer dieses Leids, nämlich die bösen Huren, gern lacklederne Dominas inmitten ihrer Arbeitsinstrumente. Ein ehemaliger Rocker, der heute eine Kampfsportschule leitet. Ein pensionierter Polizist, der seine Storys von vor der Jahrtausendwende auspackt. Und zwischendurch benutzte Kondome auf dem Spielplatz, Nahaufnahme. Je mehr Ekel und Leid, desto besser für die Quote. So anders ist „Lovemobil“ nicht. Der Film zeigt genau das, was die Mehrheitsgesellschaft schon immer über Prostitution dachte, weil sie es regelmäßig im „Tatort“ sieht.

Verdammt! Die gesamte Filmwelt hat keine Sekunde an der Authentizität dieser Elendspornografie gezweifelt. Niemand kam auf die Idee, dass es vielleicht arg klischeehaft sein könnte, dass die Überraschungsmomente so gänzlich fehlen, die Wirklichkeit eigentlich ausmachen. Man gefiel sich allseits in seiner Bestätigung. Ich dachte, während ich zu Lehrenkrauss radelte: Was, wenn „Lovemobil“ in Wirklichkeit vom Team Jan Böhmermann wäre, als Köder, um zu testen, was Jurys und Gremien alles durchgehen lassen? Hat ja lange gedauert, bis ihr’s endlich gemerkt habt!

Inszenierte Realität
Warum hat Lehrenkrauss diesen Film gemacht? Das wollte ich von ihr selbst hören.
Sie saß erschüttert in ihrer Wohnung. Unter Schock. Sie hatte noch nicht einmal alles gelesen, was an Artikeln und Kommentaren über sie im Umlauf war. Was würde nun mit ihren weiteren Projekten werden? Sie dachte, wenn sie ganz still hielte, würde man ihr irgendwann verzeihen oder die Sache vergessen. Sie blockte alle Medienanfragen ab. Nur mich lud sie ein, die Huren-Lobbyistin. Als hätte sie darauf gewartet, dass ich mich melde. Sie wollte mir dringend etwas sagen, und dann auch wieder nicht. Erst nach mehreren Anläufen gab sie es preis, Stück für Stück.

Es gab den Mord. Polizeiakten belegen es. Und es ist ja wahr, so etwas geschieht, dass Huren Opfer von Gewalt werden, von Hassverbrechen. Einfach weil sie Huren sind. Weil sie an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Warum müssen diese Frauen auch in Wohnwagen arbeiten, die man mit einem Taschenmesser aufbrechen kann, mitten im Nirgendwo? Wem nützen eigentlich die Sperrbezirke? Übrigens ist der Film auch sonst so unwahrhaftig nicht: Es gibt die Protagonistinnen. Und sie stehen hinter dem Film. Lehrenkrauss spielte mir Sprachnachrichten vor. Mehr Wirklichkeit geht eigentlich kaum.

Allen Autor*innen ist zu misstrauen, sofern sie behaupten, sie bildeten die Realität ab. Bilder zu machen bedeutet, bewusst einen Ausschnitt zu wählen, zu beschneiden, Dinge in eine künstliche Ordnung zu bringen. Zusammenhänge zu konstruieren. Zu bewerten, zu suggerieren. Je vermeintlich dokumentarischer, umso tückischer. Man kann uns ja alles erzählen, was über unsere unmittelbare eigene Erfahrungsmöglichkeit hinausgeht. Und wir glauben es umso eher, je mehr es zu unseren Vorurteilen passt.

Mich erinnert diese Gier nach Authentizität an Tierfilme. Schaut, diese Bilder von kopulierenden Amurleoparden wurden so noch nie im Fernsehen gezeigt! Spektakulär!

Nur dass wir keine Tiere sind, sondern Menschen. Wir wissen, dass eine Kamera eine Kamera ist. Auch ich wurde schon von Fernsehleuten gefragt, ob sie mich mal an einem „typischen Arbeitstag“ mit der Kamera „begleiten“ könnten. Mit „begleiten“ meinten sie, ins Hotelzimmer gehen, wo ich dann ganz „typischen“ Geschlechtsverkehr mit einem „typischen“ Kunden haben sollte. Dem ich dann sagen würde, da ist heute übrigens ein Drehteam von Spiegel TV, lass dich nicht stören! So dachte sich das die Redaktion.

Es gibt keinen Sex vor der Kamera, der keine Pornografie ist, also Sex für die Kamera. Es sei denn, die Kamera ist eine versteckte Kamera. In diesem Fall handelte es sich aber um eine Straftat. Alles, was Menschen vor einer Filmkamera tun, von der sie wissen, ist gestellt.

Die Ordnung wiederherstellen
Jetzt hat der NDR die Sache also mit einer hauseigenen Investigativ-Recherche aus der Welt geschafft, ohne selbst Schaden zu nehmen. Das Vertrauen ist wiederhergestellt. Oder? Wir haben bei diesem Skandal die klassische Trias, die auch beim Reden über Prostitution immer auftaucht: Es gibt Täter, Opfer und Retter.

Die Täterin ist allein Lehrenkrauss. Die Medien zogen sie am Ring durch die Manege. Sie ist der Prototyp der betrügerischen, anmaßenden Frau. Die Lügnerin, die Hochstaplerin, die andere getäuscht hat, aus Eitelkeit und Selbstgefälligkeit. Die Hybris in Person. Man zweifelt sogar an ihrer Zurechnungsfähigkeit, sie ist wohl eine Spinnerin, vielleicht gar psychisch krank. Wie dem auch sei, sie ist durch, erledigt. Nie wieder soll sie es wagen, im Filmgeschäft etwas zu wollen. Der Redakteur Timo Großpietsch ist das Opfer.

Er fragt sich betroffen, wie und wann er denn den Betrug hätte bemerken können. Meine Alarmglocken schrillen bei so viel Selbstgefälligkeit. Er zeigt sich betreten. Ein guter Mann, dem übel mitgespielt wurde. Ja, er ist nicht unfehlbar, auch er kann einer Täuschung unterliegen. Wenn sie so dermaßen perfide ist. Gut, dass der NDR so selbstkritisch damit umgeht. Gut auch, dass man endlich was gegen Lehrenkrauss haben kann, die Frau galt doch als so begabt.

Die Retter: Das Team von „STRG+F“. Sie sind mit dem Fall bekannt geworden. Aber warum geht die Aufklärung nicht weiter? Was ist mit all den anderen Dokus über Sexarbeit? Hat auch dort eine ideologische Voreingenommenheit den kritischen Blick vernebelt? Doña Carmen e.V. fordert anlässlich des „Lovemobil“-Skandals „eine Überprüfung solcher Sexarbeits-Dokus von unabhängiger Seite, in Kooperation mit Wissenschaftler*innen sowie Vertreter*innen der Interessensverbände von Sexarbeiter*innen.“ Doch soweit ich weiß, hat „STRG+F“ nichts dergleichen vor. Der Fehler ist korrigiert worden, die Einzelperson, die ihn gemacht hat, wurde aussortiert, alles ist wieder in Ordnung. Ist es nicht übrigens etwas speziell, wenn die Aufarbeitung eines solchen Skandals von der eigenen Firma kommt und finanziert wird statt von unabhängiger Stelle? Wie kann man denn sicher sein, dass wirklich alles aufgedeckt wird und nicht nur oberflächliche Maßnahmen zur Gesichtswahrung erfolgen?

Warum hat eigentlich die Cutterin Irem Schwarz, von der der Hinweis stammt, die Täuschung erst nach anderthalb Jahren aufgedeckt? Kurze Internetrecherche, Homepage, E-Mail an sie, Telefongespräch: Sie sagt es ganz offen, sie hatte Angst und Grund dazu.

Ira
Lehrenkrauss wollte eigentlich einen ganz anderen Film machen. Ein „Kaleidoskop“ der Vielseitigkeit der Sexarbeit, am kleinen Ausschnitt der Landstraße. Über die Frauen, deren Mut sie bewunderte, seit sie diese rot und bunt beleuchteten Wohnwagen in ihrer Kindheit bei Gifhorn gesehen hatte. Ihr Vater war Gynäkologe. Die Frauen kamen zu ihm in die Praxis. Sie faszinierten sie, diese Außenseiterinnen am Rand der Gesellschaft. Sie wusste nichts von politischen Debatten über Prostitutionsverbote. Sie begriff, glaube ich, erst durch unser Gespräch, wofür ihr Film benutzt wurde. Ein Film, der, wie sie immer wieder beteuerte, doch nicht die Sexarbeit abbilden sollte, sondern nur die Geschichten ihrer Protagonistinnen – von denen es am Ende nur zwei in den Film schafften.

Interessant ist, welche es nicht schafften: Da wäre nämlich eine Figur namens Ira, die so ziemlich das Gegenteil der beiden verzweifelten jungen Armutsprostituierten ist. Eine 60-jährige Sexarbeiterin, die ihren Job liebt. Von über 100 Stunden Gesamtmaterial fällt angeblich fast ein Drittel auf Iras Geschichte. Eine Geschichte, die mir viel glaubwürdiger vorkommt als der restliche Film: Iras Leben in dem kleinen Dorf, wo sie niemandem von ihrer Arbeit erzählen konnte, wo niemand von ihrem Wohnwagen wusste. Ihr Outing vor der besten Freundin, die erstaunlich liebevoll reagiert. Und die Treue zu ihrem Mann, den sie pflegt und versorgt und nach über 23 Jahren heiratet. Er erlag seiner Krankheit noch während der Drehzeit. Eine Geschichte, die zum Gesamtbild gehört? Die Redaktion war anderer Meinung. Timo Großpietsch mochte Ira nicht, die Geschichte sollte raus.

Was tut nun Lehrenkrauss, die Debütantin ohne Standing, ohne Produktionsfirma, der man ihren Debütfilm auf diese Weise kaputt machen will? Protestiert sie? Riskiert sie einen Konflikt? Weigert sie sich schlichtweg? Kann sie das überhaupt, wenn am Ende der Sender das letzte Wort hat? Sie ist vertraglich gebunden. Wenn der Film der Redaktion nicht gefallen hätte, wäre es ihr erster und letzter Film gewesen. Zumindest musste sie das vermuten. Ich denke an das, was im Film die Freier zu den Frauen sagen: „I gave you the money, you do what I want.“ The money: 36.000 Euro. Für drei Jahre Arbeit und das ganze Team. Es handelt sich also hier um Billigprostitution von Dokfilm-Nutten. Sie tun es freiwillig. Niemand ist gezwungen, aber wer nicht mitmacht, trägt allein die Konsequenzen. In der Sexarbeit wie im Kulturbetrieb kommt es darauf an, die Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern.

Nach unserem Kennenlernen ist Lehrenkrauss entschlossen, Iras Geschichte auf eigene Faust zu erzählen. Ich wünsche ihr viele Unterstützer*innen. Ich bin eine davon.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Samstag am Kiosk oder hier im Abo.

https://www.berliner-zeitung.de/wochene ... -li.149442

Boris Büche
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 693
Registriert: 20.12.2014, 13:53
Wohnort: Berlin
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Boris Büche »

Ich glaube, nirgendwo wird Frau Lehrenkraus fairer behandelt als hier.
Dank an Salomé für die Recherche!

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Kaleidoskop = Schönbildseher oder "schöne Formen sehen", aber auch "bunte Mischung", Allerlei

Ja, das wird der Regisseurin Elke Lehrenkrauss niemand in Abrede stellen wollen, daß sie einen Film mit schönen Bildern, die beeindrucken, geschaffen hat. Juristisch aber ging der Film halt mal in die Hose, weil nicht drauf steht, was drin ist, abgesehen davon, daß es genau an der "bunten Mischung" mangelt. Ich finde das Verhalten = Raushalten vom NDR auch feige, und höchst bedenklich und aufklärungswürdig.

Was ich eigentlich schreiben wollte: Beim Stöbern bzw Ausmisten bin ich auf die Dissertation "Selbst- und Fremdbild von Sexarbeiterinnen" zur Erlangung des akademischen Grades Doktorin der Philosophie von Magistra Elisabeth Maier vom November 2016 gestoßen.

Widmung: Für Oma, weil mit dir das Lernen stets am schönsten war.

Motto: Fasziniert uns das Fremde, dann wollen wir ihm begegnen, sonst wehren wir ab (Kast, 1996, S. 71)

Anmerkung: Kast, Verena (1996). Liebe im Märchen. Zürich: Walter.

Stoffsammlung: Lernen, Faszination, Fremdheit, Begegnung, Abwehr, Liebe, Märchen.

Kann man eine Dissertation auch verfilmen? Ich meine, dokumentarisch?

Das Thema "Selbst- und Fremdbild von Sexarbeiterinnen" paßt doch als Strafaufgabe und Wiedergutmachung hervorragend. Und der NDR muß das neugeschaffene Genre zur besten Sendezeit bringen.
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.