Grundrecht der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG

Wo melde ich meinen Beruf an, mit welcher Steuerlast muss ich rechnen, womit ist zu rechnen, wenn ich die Anmeldung verabsäume, ... Fragen über Fragen. Hier sollen sie Antworten finden.
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Kasharius
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Grundrecht der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG

Beitrag von Kasharius »

Im sehr vielen Gerichtsentscheidungen zur Sexarbeit ist immer wieder auch vom Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG die Rede. In seiner berühmten Apothekenentscheidung hat sich das Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich zur bis heute gültigen Reichweite, den Inhalt und den (einfachgesetzlichen) Schranken dieses Grundrechts welches unmittelbar für alle Deutschen und Unionsbürger gilt geäußert. Nachfolgend die amtlichen Leitsätze dieser Entscheidung:

1. In Art. 12 Abs. 1 GG wird nicht die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung proklamiert, sondern dem Einzelnen das Grundrecht gewährleistet, jede erlaubte Tätigkeit als Beruf zu ergreifen, auch wenn sie nicht einem traditionell oder rechtlich fixierten "Berufsbild" entspricht.
2. Der Begriff "Beruf" in Art. 12 Abs. 1 GG umfaßt grundsätzlich auch Berufe, die Tätigkeiten zum Inhalt haben, welche dem Staate vorbehalten sind, sowie "staatlich gebundene" Berufe. Doch gibt und ermöglicht für Berufe, die "öffentlicher Dienst" sind, Art. 33 GG in weitem Umfang Sonderregelungen.
3. Wenn eine Tätigkeit in selbständiger und in unselbständiger Form ausgeübt werden kann und beide Formen der Ausübung eigenes soziales Gewicht haben, so ist auch die Wahl der einen oder anderen Form der Berufstätigkeit und der Übergang von der einen zur anderen eine Berufswahl im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG.
4. Inhalt und Umfang der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG lassen sich schon durch eine Auslegung, die dem Sinn des Grundrechts und seiner Bedeutung im sozialen Leben Rechnung trägt, weitgehend sachgemäß bestimmen; es bedarf dann nicht des Rückgriffs auf die Schranke des Wesensgehalts (Art. 19 Abs. 2 GG).
BVerfGE 7, 377 (377)BVerfGE 7, 377 (378)5. Die Regelungsbefugnis nach Art. 12 Abs. 1 Satz GG erstreckt sich auf Berufsausübung und Berufswahl, aber nicht auf beide in gleicher Intensität. Sie ist um der Berufsausübung willen gegeben und darf nur unter diesem Blickpunkt allenfalls auch in die Freiheit der Berufswahl eingreifen. Inhaltlich ist sie umso freier, je mehr sie reine Ausübungsregelung ist, umso enger begrenzt, je mehr sie auch die Berufswahl berührt.
6. Das Grundrecht soll die Freiheit des Individuums schützen, der Regelungsvorbehalt ausreichenden Schutz der Gemeinschaftsinteressen sicherstellen. Aus der Notwendigkeit, beiden Forderungen gerecht zu werden, ergibt sich für das Eingreifen des Gesetzgebers ein Gebot der Differenzierung etwa nach folgenden Grundsätzen:
a) Die Freiheit der Berufsausübung kann beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen; der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen.
b) Die Freiheit der Berufswahl darf nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert. Ist ein solcher Eingriff unumgänglich, so muß der Gesetzgeber stets diejenige Form des Eingriffs wählen, die das Grundrecht am wenigsten beschränkt.
c) Wird in die Freiheit der Berufswahl durch Aufstellung bestimmter Voraussetzungen für die Aufnahme des Berufs eingegriffen, so ist zwischen subjektiven und objektiven Voraussetzungen zu unterscheiden: für die subjektiven Voraussetzungen (insbesondere Vor- und Ausbildung) gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in dem Sinn, daß sie zu dem angestrebten Zweck der ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit nicht außer Verhältnis stehen dürfen. An den Nachweis der Notwendigkeit objektiver Zulassungsvoraussetzungen sind besonders strenge Anforderungen zu stellen; im allgemeinen wird nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut diese Maßnahme rechtfertigen können.
d) Regelungen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG müssen stets auf der "Stufe" vorgenommen werden, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt
;
die nächste "Stufe" BVerfGE 7, 377 (378)BVerfGE 7, 377 (379)darf der Gesetzgeber erst dann betreten, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, daß die befürchteten Gefahren mit (verfassungsmäßigen) Mitteln der vorausgehenden "Stufe" nicht wirksam bekämpft werden können.
7. Das Bundesverfassungsgericht hat zu prüfen, ob der Gesetzgeber die sich hiernach ergebenden Beschränkungen seiner Regelungsbefugnis beachtet hat; wenn die freie Berufswahl durch objektive Zulassungsvoraussetzungen eingeschränkt wird, kann es auch prüfen, ob gerade dieser Eingriff zum Schutz eines überragenden Gemeinschaftsguts zwingend geboten ist.
8. Auf dem Gebiete des Apothekenrechts entspricht der Verfassungslage gegenwärtig allein die Niederlassungsfreiheit, verstanden als das Fehlen objektiver Beschränkungen der Zulassung.

Urteil
des Ersten Senats vom 11. Juni 1958
-- 1 BvR 596/56 --

http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv007377.html

An den Maßstäben dieser Entscheidung muss sich auch heute noch jeder messen lassen, der über die Tätigkeit von SW egal in welcher Form urteilt bzw. (politische) Urteile abgibt.

Kasharius grüßt :006

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Kasharius
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Österreichische Verfassungslage in Bezug auf Berufsfreiheit

Beitrag von Kasharius »

bei der Ausrichtung unseres Forums wäre es vielleicht nicht schlecht, auch die Verfassungslage in Österreich kurz darzustellen:

Die maßgeblichen Vorschriften in der österreichischen Verfassung lauten:

Artikel 6. Jeder Staatsbürger kann an jedem Orte des Staatsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen, Liegenschaften jeder Art erwerben und über dieselben frei verfügen, sowie unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben.
Für die todte Hand sind Beschränkungen des Rechtes, Liegenschaften zu erwerben und über sie zu verfügen, im Wege des Gesetzes aus Gründen des öffentlichen Wohles zulässig.

Artikel 18. Es steht Jedermann frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will



Der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab entspricht in etwa jenem des Bundesverfassungsgericht. Nachfolgend eine Entscheidung zu Art. 6 StGG; zum Prüfungsmaßstab Rndnr. 23


http://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-site/att ... _v8-11.pdf

Entscheidungen des Verfassungsgerichtshof zur Prostitution habe ich jetzt auf die schnelle nicht gefunden; das muss aber bei mir nichts heissen :002

Kasharius sagt leise servus :006

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Lycisca
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Beitrag von Lycisca »

Laut Graupner [2005, "Das späte Menschenrecht - Sexualität im europäischen, österreichischen und schweizerischen Recht" in Sexuologie] spielt Berufsfreiheit in den österr. VfGH Entscheidungen zu SW keine Rolle. Hingegen gibt es vom BGH in der Schweiz eine Entscheidung ausdrücklich zu SW unter dem Aspekt der Berufsfreiheit. (Graupner hat als Anwalt in mehreren Fällen homosexuelle Beschwerdeführer vor EGMR vertreten und bahnbrechende Urteile erreicht.)

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Kasharius
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RE: Grundrecht der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG

Beitrag von Kasharius »

@Lycisca

zunächst herzlichen Dank für den Hinweis.

Ich weis nicht genau, ob Du diese Entscheidung meinst aber hier wäre eine schon aus dem Jahre 1975 die passt:

Sie ist im Wortlautr auf Französisch aber die ermutigenden Leitsätze sind in Deutsch. Sie lauten wie folgt:

Art. 31 BV; Benutzung öffentlichen Grundes durch Prostituierte zum Zwecke der Kundensuche
1. Legitimation. Zulässigkeit erstmals in der Replik erhobener Rügen (E. 1).
2. Soweit die Prostitution nicht strafbar ist, geniesst sie grundsätzlich den Schutz von Art. 31 BV (E. 2).
3. Gesetzliche Grundlage des angefochtenen Reglementes (E. 4).
4. Wer von öffentlichem Grund einen gesteigerten Gemeingebrauch macht, um darauf eine Erwerbstätigkeit auszuüben, kann die Handels-und Gewerbefreiheit anrufen, soweit es die Zweckbestimmung des öffentlichen Grundes erlaubt (Änderung der Rechtsprechung; E. 5).
5. Das sich auf den ganzen Kanton Genf erstreckende Verbot, sich tagsüber auf öffentlicher Strasse der Prostitution hinzugeben, verletzt den Verhältnismässigkeitsgrundsatz (E. 6).



Zum Wortlaut der Entscheidung in franz. geht es hier:

http://www.bger.ch/index/juridiction/ju ... direct.htm

Das hier interessierende Verfassungsrecht ergibt sich aus Art. 27 der Schweizerischen Bundesverfassung. Er lautet:

Art. 27 Wirtschaftsfreiheit

1 Die Wirtschaftsfreiheit ist gewährleistet.

2 Sie umfasst insbesondere die freie Wahl des Berufes sowie den freien Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und deren freie Ausübung.

http://www.admin.ch/ch/d/sr/101/a27.html

Kasharius grüßt und freut sich auf weitere Beiträge/Anregungen :006