1940 Fotografenlegende Weegee Die Blitzlichtgestalt
Im Rotlichtmilieu zu Hause: "Die erste Frau, die je 'Liebling' zu mir sagte, war eine Hure", schrieb Weegee einmal. Der Samstag, sein einziger freier Wochentag, war für ihn prinzipiell sein "Tag zum Rumhuren". Entsprechend oft tauchten Damen des Rotlichtmilieus auf seinen Bildern auf - wie diese 1946 fotografierte Tänzerin, von der Weegee behauptete, sie sei das Lieblingsmodell des mexikanischen Malers Diego Rivera gewesen.
.."Je mehr Blut und Sex, desto besser": In den dreißiger und vierziger Jahren hielt Arthur Fellig unter seinem Pseudonym Weegee die dunkelsten Seiten New Yorks fest. Um an seine spektakulären Motive zu kommen, griff der Fotoreporter immer wieder zu üblen Tricks.
Eine Polizeiwache in der Bronx, Ende der dreißiger Jahre: Polizisten brüllen eine Fotografenhorde an: "Keine Fotos!" Die Fotografen drängeln trotzdem weiter. Sie wittern ein Sensationsfoto. Eine Frau hatte ihren Mann erschossen, einen New Yorker Polizisten.
Nun stand sie selbst im Dauerfeuer der Blitzlichter, denn die Bildreporter vor dem Revier kümmerten sich wenig um die Ermahnungen der Polizisten - obwohl sie letztlich unbrauchbare Bilder schossen. Denn die Mörderin hielt sich einen Sack vors Gesicht. Nur ein untersetzter Fotograf mit Hut, eine Zigarre im Mundwinkel, löste sich unbemerkt von der Gruppe. Die Polizisten eskortierten indessen die Täterin langsam auf den Gefangenentransporter zu. Dort angekommen, floh sie vor der Meute ins schützende Dunkel des Wagens und konnte, sicher vor den Blicken der Presse, endlich den Sack vor ihrem Gesicht sinken lassen. Um sofort von einem Blitzlicht geblendet zu werden.
Der untersetzte Zigarrenraucher hatte sich im dunklen Wageninneren versteckt und seine Chance für ein Exklusivfoto genutzt. Er bedankte sich bei der verdutzten Mörderin für das schöne Foto und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Die Täterin war selbst zum Opfer geworden - Opfer des wohl einflussreichsten Pressefotografen New Yorks: Weegee. Niemand fing die Schattenseiten, das Elend und den Dreck New Yorks eindrucksvoller ein als er. Und niemand benutzte dabei so gerissene und skrupellose Tricks wie Weegee, der sich in der Bildsignatur stets "Der Berühmte" zu nennen pflegte.
Kapitalismus und Ponyreiten
Berühmt zu werden - schon als Kind übte nichts auf Weegee, der damals noch Arthur Fellig hieß, größere Faszination aus. Vielleicht, weil nichts der bettelarmen Welt, in der er als Sohn österreichischer Einwanderer in der East Side aufwuchs, mehr fehlte als Glanz und Glamour. 1909 hatte Arthurs Vater seine Familie in die USA nachgeholt - doch als armseliger Straßenhändler, der mit Handkarren umherzog, konnte er sie kaum ernähren.
Dem Alltagselend entfloh Arthur, indem er las - oft die ganze Nacht, denn er war ein ausgeprägter Nachtmensch. Er liebte die Romane von Horatio Alger, die sich um junge Männer drehten, die von abgrundtiefer Armut zu Reichtum aufstiegen. Entsprechend unternahm auch er bald alles, um es zu Geld zu bringen: So erbettelte er bei einem Großhändler für ein paar Dollar Süßigkeiten auf Pump - und verkaufte sie an Arbeiterinnen in Kleiderfabriken, die ihren Platz nicht verlassen durften, weiter. Zum doppelten Preis.
Mit 14 traf Arthur eine folgenschwere Entscheidung: Er kaufte sich seinen ersten Fotoapparat - und verließ die Schule, um als Straßenfotograf zu arbeiten. Er mietete ein Pony und spazierte damit durch die East Side. Bald folgten ihm Scharen von Kindern, und er ließ sie auf dem Tier reiten - um sie zu fotografieren. Ein paar Tage später klapperte er dann mit den Bildern die Häuser der Eltern ab - und machte ein Riesengeschäft. In seiner Autobiografie "Weegee by Weegee" erinnerte er sich 1961: "Egal, wie arm sie waren, irgendwie brachten sie das Geld zusammen. Die Leute liebten ihre Kinder über alles." Und Arthur lernte, die Fotografie zu lieben.
Der telepathische Bildreporter
Mit 18 floh er aus dem Elternhaus. Eine Weile lebte er obdachlos in einem Bahnhof und bestach die Bahnpolizisten mit Kleingeld aus Telefonzellen, damit sie ihn in Ruhe ließen. Dann versuchte er sich in verschiedenen Gelegenheitsjobs, bis er 1924 das Angebot bekam, als Fotolaborant bei der Bildagentur Acme Pictures anzufangen. Eigentlich sollte er nur in der Dunkelkammer arbeiten, doch nachts durfte er auch als Fotograf losziehen - was für die Agentur billiger war, als ihre eigenen Fotografen aus dem Schlaf zu klingeln und ihnen Überstunden bezahlen zu müssen. Arthur war genügsam: Um Miete zu sparen, baute er sich ein Bett in der Dunkelkammer auf und lebte dort.
Bald fiel Fellig auf, denn er war schneller als seine Konkurrenz. Dafür griff er oft tief in die Trickkiste: Bei einem Boxkampf etwa mieteten er und sein Fahrer einen Krankenwagen an und parkten vor dem Veranstaltungsort - um nach dem K.o. sofort mit Sirenengeheul davonzubrausen. Auf diese Weise bekamen sie keine Probleme mit der Polizei, als sie mit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Agentur durch den Stadtverkehr rasten. Polizeiwagen fuhren ihnen sogar als Eskorte voran und machten die Straße für sie frei. Unterdessen lag Fellig hinten auf dem Boden des Krankenwagens und entwickelte die Negative. Mit seinen Erfolgen wuchs auch sein Selbstvertrauen - so erklärte er einmal, der beste Fotograf, der ihm je begegnet sei, sei er selbst.
Mit der Zeit wurde gescherzt, Fellig könne hellsehen, da seine Fotos oft schon bei den Zeitungen waren, bevor eine Nachricht überhaupt bekannt wurde. Die Acme-Angestellten gaben ihm den Spitznamen "Weegee" - eine phonetische Schreibweise des "Ouija"-Bretts. Die spiritistische Alphabettafel aus Holz, mit der Kontakt mit dem Jenseits hergestellt oder die Zukunft vorhergesagt werden soll, war damals in den USA ein beliebter Zeitvertreib. Fellig gefiel sich in der Rolle des fotografierenden Zaubermeisters - schließlich, so schrieb er später in "Weegee by Weegee", habe er stets gewusst: "Ich war zu Großem bestimmt, zum Ruhm."
Eine Wohnung voller Leichen
Um diesem Ruhm näherzukommen, warf er den Job bei Acme hin und machte sich selbständig. Er wollte aus der Dunkelkammerarbeit raus und auf die Straßen der Stadt. Also verlegte er seinen Arbeitsort an das "Nervenzentrum der Stadt" - das Polizeihauptquartier von Manhattan. Nachts lungerte er in der Wache herum, hielt Smalltalk mit den Beamten, die um diese Zeit wenig zu tun hatten, und freundete sich mit ihnen an. Im Gegenzug durfte er die im Fernschreiber eingehenden Meldungen lesen - und wurde zu Tatorten mitgenommen. Er nahm sich ein Zimmer direkt hinter der Wache und hörte dort den Polizeifunk ab, um immer auf dem Laufenden zu sein.
Ab und zu steckte er den Polizisten etwas Schmiergeld zu. Im Gegenzug ließen sie es ihn wissen, wenn sie einen Gangster zur Wache brachten. Während eine Meute von Fotografen dann vor dem Haupteingang wartete, brachten die bestochenen Polizisten den Verhafteten durch einen Seiteneingang hinein, vor dem nur Weegee wartete und so sein Exklusivfoto bekam.
Seine Bilder waren bald voll von all dem, was Polizisten Nacht für Nacht sahen: Blutüberströmte Unfallopfer, Prostituierte, erschossene Gangster auf Bürgersteigen, Trunkenbolde, weinende Angehörige und vieles mehr, was den braven Bürgern am Tage verborgen blieb. Der Fotograf liebte sein neues Sujet, auch wenn sein Zimmer vor lauter Mordfotos inzwischen aussah, "als hätte ich mich im städtischen Leichenschauhaus eingemietet". Doch er verdiente gut mit den Schockbildern, die er an Zeitungen verkaufte - am liebsten an die "Daily News", denn: "bei denen ging alles; je mehr Blut und Sex, desto besser."
Teenagerliebe mit Axtmord
Der Job hinterließ seine Spuren. Bald schon war für Weegee ein zerquetschter Wagen, durch dessen zersplitterte Scheibe der Kopf des toten Fahrers ragte, etwas "Wunderbares". Und als er für eine Zeitschrift ein Teenagerpaar fotografieren sollte, das, von der Mutter des Mädchens beim Sex erwischt, diese mit einer Axt erschlagen hatte, ließ er das mörderische Liebespaar händchenhaltend und küssend wie für eine Foto-Lovestory posieren. Weegee pflegte zu sagen: "Ich habe keine Hemmungen - und meine Kamera auch nicht."
Entsprechend skrupellos war er bei der Wahl der Mittel, um seine Bilder zu kriegen: So fand er etwa, als er in ein Krankenhaus fuhr, um ein ausgesetztes Kleinkind zu fotografieren, das Baby glücklich strahlend vor - und fotografierte erst, nachdem eine Schwester es mit einer Nadel zum Schreien gebracht hatte. Oder er redete einer Juwelendiebin, die sich partout nicht fotografieren lassen wollte, ein, er könne sie wegen ihres guten Aussehens auf die Gesellschaftsseiten bringen und ihr damit Sympathien im Prozess verschaffen, obwohl ihm bewusst war, dass das "natürlich alles Quatsch" war.
In seinem Wagen bewahrte Weegee ein ganzes Sammelsurium an Verkleidungen auf, um Leute hinters Licht zu führen: Als er etwa einmal in Newark einen angeschossenen Betrüger fotografieren wollte, und die Polizei die Presse nicht ins Krankenhaus ließ, verkleidete er sich als Arzt mit Kittel und Stethoskop. So schlich er sich auf das Zimmer des jungen Mannes und wartete, bis das Personal den Raum verlassen hatte. Dann zog er aus der Arzttasche eine Kleinbildkamera und machte Aufnahmen von den Einschusswunden auf der Brust des Jungen.
Die nackte Stadt
Der große Durchbruch gelang Weegee schließlich am 12. April 1937: Das "Life"-Magazin veröffentlichte einen Artikel über den sonderbaren Fotografen, der jede Nacht in seiner Kleidung schlief, um als erster bei den Leichen, Verhaftungen, Razzien und Unfällen zu sein. Nun waren Weegees Name und sein Gesicht ebenso bekannt wie seine Fotos. Bald rissen sich die Auftraggeber um ihn: Die "Life", die renommierte Tageszeitung "PM", selbst die "Vogue", alle wollten einen echten Weegee in ihrem Heft haben. Und der ließ sich die Bilder gut bezahlen.
Endlich hatte er, wovon er sein Leben lang geträumt hatte - Geld und Ruhm. 1945 brachte Weegee schließlich seinen ersten eigenen Bildband heraus: "Naked City", ein Buch, das seine ganze Schaffensbreite zeigte: Schonungslos detaillierte Aufnahmen erschossener Verbrecher, reglos im Straßendreck. Lüsterne Blicke auf umschlungene Paare in dunklen Kinosälen, heimlich mit Infrarotfilmen aufgenommen. Und Aufnahmen der Schaulustigen, denen er immer wieder an Tatorten und Unfallstellen begegnete. Von all seinen Bildern waren sie die vielleicht Bestürzendsten. Nicht, weil die Blicke der Gaffer den Voyeurismus Weegees widergespiegelt hätten. Sondern den des Betrachters selbst.
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