Ohne Netz und Gummi Gesundheitspräventation im Sexmilieu

Hier soll eine kleine Datenbank entstehen, die sich vornehmlich mit über den Geschlechtsverkehr übertragbaren Krankheiten und dem Schutz vor ihnen beschäftigt
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fraences
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Ohne Netz und Gummi Gesundheitspräventation im Sexmilieu

Beitrag von fraences »

Zürich
Gesundheitsprävention im Sexmilieu
Ohne Netz und Gummi

Stéphane Praz

Werbung in einer Sexbox in Zürich Altstetten: Vor allem ältere Freier drängen auf Verkehr ohne Kondom. Werbung in einer Sexbox in Zürich Altstetten: Vor allem ältere Freier drängen auf Verkehr ohne Kondom. (Bild: Keystone)
Die Safer-Sex-Regeln sind einfach. Doch schwierig ist es für manche Sexarbeiterin, sie auch einfordern zu können: und zwar vom Kondom-Gebrauch bis hin zum Arztbesuch beim Verdacht auf eine Infektion.

Die Bilder des letzten Sommer eröffneten Strichplatzes in Zürich Altstetten mit seinen Sexboxen sind um die Welt gegangen. Das Interesse am schweizweit ersten derartigen Experiment war (und ist es bis heute) enorm. Auf vielen dieser Strichplatz-Fotografien fallen die grossen, knallgelben «Stop Aids»-Plakate auf, die an den Wänden der Sexboxen prangen. Bloss: Muss man den Sexarbeiterinnen wirklich noch sagen, dass ein Kondom sinnvoll ist? «Nein», findet Sandra. Die Kolumbianerin arbeitet an wechselnden Orten in der ganzen Schweiz. «Aber Aufklärung braucht es schon», sagt sie, «bei den Freiern!» Weit über die Hälfte wolle «ohne Gummi», und zwar umso mehr, umso älter die Männer seien.

Sandra lässt sich darauf nicht ein. Andere schon. Denn längst nicht alle Sexarbeiterinnen verfügen über den Wissensstand, den man vielleicht erwarten würde. «Es ist erstaunlich, wie wenig einige Frauen wissen», sagt Ulrike Wuschek, leitende Ärztin der Gynäkologischen Sprechstunde des Ambulatoriums an der Kanonengasse, das in Zürich viele Sexarbeiterinnen medizinisch versorgt. Das hänge oft mit dem Bildungsstand, oft aber auch mit kulturellen Hintergründen zusammen. Allerdings stimmt Wuschek mit Sandra überein, dass ein anderer Grund wichtiger ist, wenn Sexarbeiterinnen auf das Kondom verzichten: Die Freier bezahlen viel mehr für «ohne». Und nicht wenige Sexarbeiterinnen befinden sich in einer prekären finanziellen Lage.

Illegal und diskriminiert

Die wirtschaftlichen, die sozialen, die rechtlichen Verhältnisse: Sie sind entscheidend. Wenn es um geschützten Sex geht ebenso wie für den Zugang zur medizinischen Versorgung. Und dieser ist Voraussetzung für die dritte Safer-Sex-Regel: «Bei Juckreiz, Brennen oder Ausfluss zum Arzt». Einige Infektionen können auch bei konsequentem Gebrauch von Kondomen übertragen werden. «Doch viele Sexarbeiterinnen suchen – wenn etwas ist – erst sehr spät ärztliche Hilfe», sagt Regula Rother, Leiterin der Zürcher Stadtmission, welche die Sexarbeiterinnen-Beratungsstelle Isla Victoria betreibt. Dafür verantwortlich sei bei vielen die fehlende Krankenversicherung, dass sie sich illegal in der Schweiz aufhielten, oft aber auch schlicht die Angst, aufgrund des Berufes diskriminiert zu werden. Bestätigt wird diese Aussage durch eine 2008 erschienene, umfassende Studie über den Schweizer Sexmarkt. Für Fachleute ist deshalb klar, dass man HIV und sexuell übertragbare Infektionen nicht isoliert betrachten kann. Wirklich geholfen ist den Frauen nur, wenn sich ihre Gesamtsituation verbessert.

Natürlich sind die konkreten Lebensumstände der Sexarbeiterinnen vielfältig, und nicht für alle gestaltet sich der Zugang zur Gesundheitsversorgung schwierig. Aber für sehr viele. Und davon sind der weitaus grösste Teil Migrantinnen, die sich einmal kurz, einmal länger in der Schweiz aufhalten. Viele ihrer Probleme sind weniger unmittelbar durch den Beruf bedingt als vielmehr durch die Migrationssituation. Grazia Aurora, medizinisch-soziale Beauftragte von Isla Victoria, bringt den Frauen bei ihren Besuchen im Milieu deshalb nicht nur Kondome und handfeste medizinische Hilfe, sondern erklärt ihnen zudem das schweizerische Gesundheitssystem. «Manchmal sind Details wichtig», sagt sie, «etwa, dass man hier die ‹Pille danach› in Apotheken erhält, ohne Rezept.» In einigen Ländern brauche es dafür eine ärztliche Abklärung, in einigen bekomme man sie gar nicht. Und oft die wichtigste Information: In der Schweiz können auch Personen ohne Aufenthaltsbewilligung eine Krankenversicherung abschliessen.

Doch für viele Sexarbeiterinnen sind die Kosten für die medizinische Versorgung selbst mit Krankenversicherung hoch. Sei es bei gewöhnlichen Krankheiten, für den Check auf sexuell übertragbare Infektionen oder für Vorsorgeuntersuchungen. «Ich überlege es mir zehnmal, bevor ich einen Arzt aufsuche», sagt Sandra. «Mit Franchise und Selbstbehalt wird das schnell teuer.» Doch abgeschreckt fühle sie sich auch von der Art und Weise, wie sie als ausländische Sexarbeiterin behandelt werde. Damit ist sie nicht allein. Sowohl die Schweizer Sexmarkt-Studie wie mehrere europaweite Untersuchungen zeigen, dass viele Sexarbeiterinnen wenig Vertrauen in Ärzte und Spitäler aufbringen. Und viele Ärzte tun sich ihrerseits schwer mit der Thematik.
Vertrauen aufbauen

Es braucht deshalb Angebote wie das Ambulatorium an der Kanonengasse in Zürich. «Die Frauen kommen zu uns, weil unsere Institution über Jahre Vertrauen aufgebaut hat», sagt Wuschek. «Sexarbeiterinnen, die schon lange im Geschäft sind, schicken neue hierher.» Gerade in jüngerer Zeit, wo die Frauen manchmal nur kurz hier seien, sei das wichtig. Neunzig Prozent der Frauen, die ins Ambulatorium kommen, sind Migrantinnen. Sie stammen aus über sechzig Ländern und sind in allen Bereichen des Sexgewerbes tätig. Sie leiden an Beschwerden jeglicher Art, nicht selten aufgrund von sexuell übertragbaren Infektionen. Und sie kommen, weil die Hürden tief sind: Die Kosten sind moderat, Anmeldung ist keine erforderlich, die Patientinnen können anonym bleiben, wenn sie wollen. Gewisse Fragestellungen würden die Sexarbeiterinnen zudem mit anderen Ärzten kaum besprechen. «Zum Beispiel hegen viele Frauen einen aktuellen Kinderwunsch mit ihrem Partner, möchten im Job aber gleichzeitig die bestmögliche Schwangerschaftsverhütung», erzählt Wuschek.

Doch Angebote wie das Ambulatorium an der Kanonengasse sind rar. So gibt es etwa in der gesamten Deutschschweiz nichts Vergleichbares. «Die medizinische Versorgungslage ist für Sexarbeiterinnen in der Schweiz allgemein sehr schlecht», bringt es Wuschek auf den Punkt. Das erstaunt nicht, denn anders als in Zürich stellen viele Kantone und Gemeinden keinerlei Finanzierung für Gesundheitsanliegen von Sexarbeiterinnen bereit.

Wuschek sieht deshalb den Bund in der Pflicht: «Das Bundesamt für Gesundheit sollte sich stärker engagieren und spezielle Angebote für Sexarbeiterinnen finanziell unterstützen und an mehreren Orten in der Schweiz sicherstellen.» Ebenfalls viel bringen dürften einfacher zugängliche Lösungen bei der Krankenversicherung. Regula Rother von der Zürcher Stadtmission denkt etwa an eine Kollektivversicherung: «Ich glaube, dass die Krankenkassen nicht abgeneigt wären, denn schliesslich sind die meisten Sexarbeiterinnen gesund und längst wieder weg, wenn sie älter werden.» Ein besserer Zugang für Sexarbeiterinnen zum Gesundheitssystem muss ein ganz zentrales Ziel der Präventionsarbeit sein. Denn noch steht sie aus, die Antwort auf die andere grosse Frage: Wie bringt man den Freiern Safer Sex bei?

Stéphane Praz, der Autor dieses Beitrags, ist freischaffender Wissenschaftsredaktor. Er hat bis 2013 für das Publikationsorgan der Aids-Hilfe Schweiz, die «Swiss Aids News», gearbeitet.
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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