Sexualbegleitung für geistig Behinderte
Was tun mit diesem Wunsch?
· Satt und sauber sein – das war lange Zeit alles, was geistig Behinderte vom Leben zu erwarten hatten. Lust war nicht vorgesehen. Nun aber gesteht man sie ihnen zu. Und hilft nach.
Sexualbegleitung, das bedeutet in der Regel Streicheln, Nähe, Körperkontakt, Massage und sexuelle Befriedigung ohne Küssen, Geschlechts- oder Oralverkehr.
Nie wird Elisabeth Kurz* jene Szene auf dem S-Bahnhof vergessen: Sie ging mit ihrem Sohn Peter, der damals etwa siebzehn war, an einem knutschenden Pärchen vorbei. „Da riss er mich plötzlich am Ärmel und schrie: ,Mach das weg, mach das weg!’ Ich fragte, was er denn meine, und er rief: ,Hose eng!’ Da dämmerte mir, dass er vermutlich eine Erektion hatte.“
Peter ist Autist. Sein Gedächtnis ist fotografisch, doch hat er kaum Empathie für andere Menschen und kann komplexen Unterhaltungen nicht folgen. Wenn er spricht, ist seine Sprache oft verwaschen. Physiotherapeutinnen, Ergotherapeuten, Logopädinnen und Psychologen haben sich von frühester Kindheit an um sein geistiges und körperliches Wohl gekümmert. Doch als er in die Pubertät kam, hatte Kurz, von Beruf Sozialpädagogin, plötzlich das Gefühl, „dass es da Bedürfnisse gab, die Peter nicht ausleben konnte“.
Wenn die Freundinnen seiner Schwester zu Besuch kamen, wich er ihnen nicht mehr von der Seite oder setzte sich auf deren Schoß. Wenn er allein in seinem Zimmer war, versuchte er erfolglos zu masturbieren. „Es zerriss mir das Herz, ihn so zu sehen. Ich hatte dann diese Gedanken: ,Ich habe ihn gefüttert, ich schneide ihm die Haare - warum kann ich ihm nicht auch das beibringen?’ Aber das ging nicht - ich bin ja auch nur ein Mensch und habe eine gewisse Hemmschwelle.“
Männer werden friedlicher, ruhiger, selbstbewusster
Da ist sie nicht die Einzige. „Angehörige sind oft entweder hilflos, oder sie wollen es nicht wahrhaben, wenn sie merken, dass ihr dementer Vater oder ihr geistig behinderter Sohn Lust hat“, sagt Natascha Mesic, Bereichsleiterin im Rudolf-Schloer-Stift, einer evangelischen Altenpflegeeinrichtung in Moers, in der auch geistig behinderte Bewohner leben. Und doch ist es nicht zu leugnen: Auch Menschen mit geistiger Behinderung haben Lust. Und wenn sie die nicht ausleben können, leiden sie entweder still vor sich hin, verletzen sich selbst oder belästigen diejenigen, die sich um sie kümmern.
Als Mesic daher in einer Altenpflegezeitschrift von der Möglichkeit der „Sexualbegleitung“ las, dachte sie: „Das könnte die Lösung für unser Problem sein.“ Diese Rechnung ist aufgegangen. Alle zwei Monate fährt nun ein demenzkranker Bewohner aus der Einrichtung zu einer Sexualbegleiterin; sein gesetzlicher Betreuer hat zugestimmt, bezahlen tut der Mann das selbst. „Das ist wie ein Ausflug“, erläutert Mesic. Und doch viel mehr.
„Es gibt so was wie eine Entspannung, die Männer werden friedlicher, ruhiger, oft auch selbstbewusster - ich glaube, weil sie ihre Bedürfnisse gemeinsam mit einem anderen Menschen ausleben konnten“, sagt Catharina König aus Bochum, eine der wenigen Sexualbegleiterinnen in Deutschland, die von ihrer Tätigkeit leben können. Sexualbegleitung, das bedeutet in der Regel Streicheln, Nähe, Körperkontakt, Massage und sexuelle Befriedigung ohne Küssen, Geschlechts- oder Oralverkehr. Und das alles gekoppelt an emotionale Zuwendung. Etwas anderes als klassische Prostitution sei das, sagen die Sexualbegleiterinnen. König formuliert es so: „Das Kino im Kopf, das mit den schmuddeligen Sachen - das hat nichts mit meiner Arbeit zu tun.“
Ethisch hoch umstritten
Nach dem Abitur hat König, 53, mehr als 25 Jahre lang als Steuerfachangestellte gearbeitet, vor sechs Jahren machte sie sich als Sexualbegleiterin selbständig, weil sie aus ihrem Job „rausgemobbt“ wurde. In Jeans und Pantoffeln öffnet sie die Haustür - man betritt eine helle, freundliche Wohnung mit breiten Dielen und einem großen Samowar in der Wohnküche. Kurze graue Locken hat sie, eine orangefarbene Brille, und so wenig wie eine Prostituierte sieht sie aus, dass sie vor kurzem jemand in einer Behinderteneinrichtung mit der Fußpflegerin verwechselt hat. Gleich hat sie einen Termin bei einem Kunden, der in einer diakonischen Einrichtung lebt. Schon seit vielen Jahren fährt sie zu diesem Mann, aber jedes Mal muss sie sich wieder neu vorstellen. Er hat sein Kurzzeitgedächtnis verloren.
Nicht alle Einrichtungen indes öffnen ihre Türen für Sexualbegleiterinnen. Das Thema ist ethisch hoch umstritten und das wohl letzte Tabu in der Behindertenarbeit. Manche Einrichtungen - auch kirchliche - halten einen eigenen Raum dafür vor. Andere verschließen kategorisch ihre Türen. So erinnert sich Elisabeth Kurz daran, dass ein Betreuer ihres heute 33 Jahre alten Sohnes zunächst „völlig entsetzt“ reagierte, als sie ihm mitteilte, sie wolle eine Sexualbegleiterin für Peter engagieren. Doch Kurz, die auch die gesetzliche Betreuerin ihres Sohnes ist, setzte sich durch und engagierte die 51 Jahre alte Nina de Vries aus Potsdam, von deren Existenz sie über eine Bekannte erfahren hatte.
Die gebürtige Niederländerin war 2001 die Pionierin der Sexualbegleitung in Deutschland, sie hält heute zahlreiche Vorträge und hat auch schon Sexualbegleiterinnen ausgebildet. „Ich war so froh, zu hören, dass es jemanden wie sie gibt. Und dann habe ich zum Peter gesagt: ,Die Nina ist wie deine anderen Therapeuten’“, berichtet Kurz. „,Es geht um deine Seele und darum, dass du dich in deinem Körper wohl fühlst.’“
Tiefer Graben zwischen Konservativen und Liberalen
Kritiker aber sind der Meinung, man könne sich bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht sicher sein, ob sie freiwillig mitmachten. Manche Wissenschaftler befürchten sogar, dass einige Sexualbegleiter die Abhängigkeit ihrer Klienten ausnutzen könnten, und die katholische Kirche ist strikt dagegen. Andreas Lob-Hüdepohl, wissenschaftlicher Sachverständiger im Kuratorium der Arbeitsstelle „Pastoral für Menschen mit Behinderung“ der Deutschen Bischofskonferenz, sagt: „Aus der Perspektive der katholischen Sexualmoral ist es nicht legitim, dass ein Pfleger jemandem, der in einer katholischen Behinderteneinrichtung lebt, eine Sexualbegleiterin vermittelt. Sexualität ist in einem solchen Fall nicht Ausdruck von Partnerschaft, und Missbrauch ist möglich. Es gibt auch kein Menschenrecht auf jede Form von Sexualität für Menschen mit Behinderung.“
Etwas anderes sei es allerdings, wenn Angehörige eines Heimbewohners eine solche Vermittlung auf dessen Veranlassung vornähmen. Wenn sie das moralisch verantworten könnten, müsse die katholische Kirche das als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes des Bewohners tolerieren.
In der Praxis setzt sich seine Kirche allerdings schon längst über diese Vorgabe hinweg. „Uns ist das bewusst mit dem Verbot, aber Sexualität und menschliche Nähe sind doch was Normales, und unser Leitbild in der Einrichtung besagt, dass wir die Würde des Menschen nicht außen vor lassen“, sagt die Pflegedienstleiterin eines katholischen Altenwohnheims am Rande des Münsterlandes. Es gebe zwar Medikamente, die den Trieb hemmten, aber die wirkten nur vorübergehend, deswegen komme es nicht in Frage, sie zu geben: „Und ich kann doch auch nicht von den mir anvertrauten Menschen verlangen, dass sie nach den gleichen Gesetzen leben, wie ich persönlich das tue. Die sind doch zum Teil nicht mal katholisch.“
Quer durch die Lager verläuft dieser Riss, der Graben tut sich auf zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Katholiken und Protestanten. Die evangelische Kirche nämlich steht Sexualbegleitung unter gewissen Voraussetzungen prinzipiell aufgeschlossen gegenüber, da „Liebe und Sexualität von Gott gewollt“ seien. Und doch bleiben Unsicherheiten, selbst bei den größten Befürwortern, zu denen Elisabeth Kurz gehört.
Sexualbegleitung als psychotherapeutische Leistung
Ein später Freitagabend Ende Januar. Kurz ist, wie so oft, zu ihrem Sohn in die Einrichtung gefahren, nun schläft er, und sie wird in einer Ferienwohnung übernachten, da ihr Wohnort zu weit entfernt ist. Nina de Vries war einige Tage zuvor bei ihm, Peter hat der Mutter davon erzählt, es war sehr besonders für ihn, obwohl die beiden schon seit fünf Jahren Kontakt haben: „Sein Blick, seine Haltung waren viel selbstbewusster, seine Stimme klang glücklich, er schwärmte davon, wie schön es war“, erzählt Kurz.
Und doch hat sie gespürt, „wie sich sein Wunsch nach Zweisamkeit verstärkt hat. Was tun wir mit diesem Wunsch?“ Peters Schwester hat die Mutter mal gefragt: „Ist das eigentlich gut, was wir machen? Das ist doch so, als würden wir Peter ein Rippchen Schokolade geben und ihm die Tafel dann wieder wegnehmen.“ Manchmal, sagt Kurz, ist Peter tatsächlich traurig darüber, dass er Nina nicht für sich allein haben kann; dann will er sie nicht mehr sehen und sagt die nächsten Treffen ab. Bis er sie dann wieder so vermisst, dass er unruhig wird und beginnt, Sachen zu zerreißen. Mit weinerlicher Stimme jammert er dann: „Ich brauch eine Frau, Nina soll kommen, ich brauch’ meine Nina.“
Kurz kennt Angehörige, die sich das voller Entsetzen anhören und sagen, sie wollten keine schlafenden Hunde wecken. Satt und sauber, das müsse reichen. „Aber wir wecken ja gar keine schlafenden Hunde“, meint Kurz. „Der Wunsch nach Sexualität ist beim Peter ja da, man kann das nicht wegreden.“ Darauf zu warten, dass Peter in seiner Einrichtung eine Partnerin finde, sei unrealistisch. Freundinnen hatte er zwar schon mehrere, aber diese Beziehungen waren rein platonisch.
Und so kommt sie weiterhin für die Bezahlung der Treffen mit Nina de Vries auf. Zwischen 90 und 130 Euro kostet eine Stunde, je nach Anfahrt. Kurz würde es Peter gern öfter gönnen, aber sie kann es sich nicht leisten. Nur wenn es ganz schlimm wird, kommt de Vries zu ihm. Ungefähr viermal im Jahr. Und einmal, als die Not zu groß wurde, hat auch schon seine 85 Jahre alte Großmutter Geld gegeben.
Kurz wäre sehr dafür, dass Sexualbegleitung vom Sozialamt bezahlt wird. Ab und zu geschieht das auch jetzt schon. In Berlin zum Beispiel hat der Sozialpsychiatrische Dienst dreizehn Besuche von Nina de Vries bei einem blinden körper- und geistig behinderten Mann befürwortet, der sich bei seinen Versuchen zu masturbieren verletzte. Abgerechnet wurde eine psychotherapeutische Leistung. „Man brauchte wesentlich weniger Psychopharmaka, die Menschen wären umgänglicher, das würde unglaubliche Kosten sparen“, glaubt Elisabeth Kurz.
Und Peter? Der würde das wohl auch begrüßen. „Es ist sehr schön, wenn die kommt, die Nina“, sagt er am Telefon. „Wir machen Kerzen an, trinken Tee, und dann“, er macht eine Pause und lacht, „ist schön.
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Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)
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