Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Hier könnt Ihr Eure Erlebnisse und Eure Gedanken zum Thema "Sexarbeit mit behinderten Kunden" aber auch "behinderte SexarbeiterInnen" posten, oder Anregungen holen, wie man mit dem sicherlich sensiblen Themen umgehen kann bzw. soll.
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Kasharius
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Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Kasharius »

Diese Frage würde ich hier gerne mal diskutieren und verweise als Einstieg mal auf die nachstehende Gerichtsentscheidung:

Anspruch auf Kostenübernahme von Sexualassistenz


Bayer. VGH, Urteil vom 10.05.2006 – Az: 12 BV 06.320 (ZFSH/SGB 2005, S. 529 f.)

Der 1954 geborene Kläger leidet an einer spastischen Cerebrallähmung und kann mit seiner linken Hand lediglich ein Notrufsystem bedienen. Bei ihm wurde ärztlicherseits ein gesteigertes sexuelles Verlangen bestätigt, das er aufgrund seiner Behinderung nicht aus eigener Kraft befriedigen könne. Er leide seelisch schwer unter seiner Übersexualität und der mangelnden Befriedigung. Er beantragte bei dem Sozialamt die Kostenübernahme für neun Ganzkörpermassagen mit sexueller Komponente von April bis Oktober 2003 in Höhe von jeweils 90 EURO. Mit Urteil vom 17.11.2005 verpflichtete das VG München das beklagte Sozialamt, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Der Kläger habe einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, die grundsätzlich auch die Durchführung von Ganzkörpermassagen mit sexueller Komponente umfasse. Der Begriff "Eingliederung in die Gesellschaft" sei weit auszulegen und umfasse alle Bereiche des menschlichen Lebens, aus denen ein behinderter Mensch aufgrund seiner Behinderung ausgegrenzt werden könne. Ein derartig umfassendes Verständnis gebiete auch das in Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 GG verfassungsrechtlich verankerte Benachteiligungsverbot von behinderten gegenüber nichtbehinderten Menschen. Eingliederungshilfe als Nachteilsausgleich könne nur für solche Bedarfslagen gewährt werden, für die auch bei nichtbehinderten Menschen ein sozialhilferechtlicher Bedarf anzuerkennen sei. Prüfungsmaßstab hierfür seien § 12 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1, 22 BSHG, die Deckung der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens. Dazu zähle auch die Erfahrung und das Erleben der eigenen Sexualität und die Möglichkeit ihrer Befriedigung. Die Aufwendungen für das Sexualleben seien dabei grundsätzlich im Regelsatz enthalten. Der Kläger könne jedoch nicht auf die ihm gewährte Regelsatzleistung verwiesen werden, weil er aufgrund der Schwere seiner Behinderung nicht in der Lage sei, sein sexuelles Bedürfnis aus eigener Kraft bzw. manuell zu befriedigen. Er sei daher auf die Hilfe dritter Personen angewiesen. Die Kosten hierfür betrügen bereits bei einmaliger monatlicher Inanspruchnahme ungefähr ein Drittel seines Regelsatzes und überträfen dabei den Anteil für Bedürfnisse des täglichen Lebens erheblich. Daher seien Leistungen der Eingliederungshilfe zusätzlich zu den Regelsatzleistungen zu gewähren. Gemäß § 4 Abs. 2 BSHG entscheide der Sozialhilfeträger über Form und Maß der Sozialhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen. Danach erscheine die Ermöglichung der sexuellen Befriedigung mindestens einmal im Monat als ermessensfehlerfrei.

Der VGH gab der Berufung gegen das Urteil des VG München durch das Sozialamt statt. Es handele sich bei der begehrten Leistung nicht um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe. Die Befriedigung seines sexuellen Bedürfnisses durch die Ganzkörpermassage ermögliche dem Kläger nicht die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, weil sie in einem von der Außenwelt abgesonderten, geschützten Intimbereich stattfinde und ihm keinerlei Kontakte nach außen vermittle. Es sei auch nicht ersichtlich, inwiefern diese Bedürfnisbefriedigung dem Kläger gesellschaftliche Kontakte erleichtern sollten. Sie dienten lediglich seinem persönlichen Wohlbefinden.

Zu prüfen sei eine Kostenübernahme im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Aufwendungen für das Sexualleben gehörten zu den Grundbedürfnissen des menschlichen Daseins (OVG Hamburg, Urteil vom 21.12.1990, Az: Bf IV 110/98 [juri], BVerwG vom 19.05.1994, FEVS 45, 146). Die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt könnten gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG abweichend von den Regelsätzen bemessen werden, soweit dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten sei. Der Kläger habe jedoch keinen Anspruch auf eine solche Erhöhung des Regelsatzes, da er nicht im Einzelnen nachgewiesen habe, dass er seinen notwendigen Lebensunterhalt infolge der Massagekosten nicht mehr vollständig habe decken können. Er habe für seine Ausgaben für die Ganzkörpermassage die ihm gewährten pauschalierte Eingliederungshilfe in Höhe 715 EURO verwandt. Da diese Pauschale nicht zweckgebunden sei, habe der Kläger diese Mittel dafür verwenden können, die ihm zum Ausgleich von Mobilitätsdefiziten gewährt werde. Ihm sei daher die Verwendung der Pauschale zuzumuten, weil er weder konkret vorgetragen habe noch ersichtlich sei, dass er die Mobilitätspauschale für Zwecke der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vollständig verbraucht habe.

https://www.lebenshilfe.de/de/themen-fa ... kosten.php

stellt sich also die Frage an alle: Wie würden Sie entscheiden?

Freue mich auf viele Beiträge :001 :001

Kasharius grüßt :006

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Aoife
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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kun

Beitrag von Aoife »

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Kasharius hat geschrieben:Wie würden Sie entscheiden?
Mangels juristischer Kenntnisse fällt es mir schwer die Entscheidung des Bayer. VGH zu kritisieren.

Die Argumentation scheint logisch, und wenn die Gesetzeslage tatsächlich so ist (was ich nicht beurteilen kann), dann scheint der Richterspruch o.k. zu sein.

Allerdings denke ich dass es andere Wege geben müsste, als die Sexualassistenz mit "gesellschaftlicher Eingliederung" zu begründen - weinn jemand beispielsweise eine spezielle teure Diät benötigt und diese ihm vom Kostenträger verweigert wird, würde er dann auch mit der Begründung "gesellschaftliche Eingliederung" klagen, auch wenn er beispielsweise alleine isst?

War es vielleicht ein strategischer Fehler seines Anwalts auf diesem Wege zu argumentieren? - und wenn ja, wäre dann vom Richter nicht soviel Menschlichkeit zu erwarten, dass er nicht nur den Widersinn der "gesellschaftlichen Eingliederung" bei alleine genossener Sexualität breittritt, sondern auch auf andere Bezahlungsmöglichkeiten von zum Wohlbefinden unabdingbaren Leistungen hinweist?

Wie würde also ich entscheiden? Nun, dass das nicht unbedingt aus dem Topf für gesellschaftliche Eingliederung genommen werden muss sehe ich auch so, finde aber dass aufgrund der WHO-Definition von Gesundheit der Betreffende absolut einen Anspruch auf Sexualassistenz hat.

Liebe Grüße, Aoife
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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

Liebe @Aoife

erstmal danke für deinen Beitrag. Es geht hier ja generell nur um jene Behinderte Kunden, die finanziell nur schwer bis gar nicht in der Lage sind, sexuewlle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Die Frage stellt sich dann nach einer möglichen rechtlichen Anspruchsgrundlage. Ich würde da die Aufmerksamkeit auf § 55 Sozialgesetzbuch IX (Gesetz zur Teilhabe und Rehabilitation ) lenken und zwar konkret auf :
Nr. 7:
1) Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden.
(2) Leistungen nach Absatz 1 sind insbesondere
1.
Versorgung mit anderen als den in § 31 genannten Hilfsmitteln oder den in § 33 genannten Hilfen,
2.
heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind,
3.
Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen,
4.
Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt,
5.
Hilfen bei der Beschaffung, dem Umbau, der Ausstattung und der Erhaltung einer Wohnung, die den besonderen Bedürfnissen der behinderten Menschen entspricht,
6.
Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten,
7.
Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben.

Und ergänzend auf die Verweisungsnorm in § 58 SGB IX

Die Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nr. 7) umfassen vor allem
1.
Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen,
2.
Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen,
3.
die Bereitstellung von Hilfsmitteln, die der Unterrichtung über das Zeitgeschehen oder über kulturelle Ereignisse dienen, wenn wegen Art oder Schwere der Behinderung anders eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht oder nur unzureichend möglich ist.

Die frage ist jetzt: Läßt sich eine solche Vorschrift unter das, was (selbstbestimmte) Sexarbeit bedeutet fassen oder hat das Gericht Recht wenn es die Auffassung vertritt, hier ginge es um einen abgeschotteten Bereich? Ist der emotionale Mehrwert nicht auch Ausdruck von Teilhabe? Das interessiert mich...?

Kasharius grüßt und schläft jetzt wirklich

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Beitrag von Aoife »

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Kasharius hat geschrieben:Die frage ist jetzt: Läßt sich eine solche Vorschrift unter das, was (selbstbestimmte) Sexarbeit bedeutet fassen oder hat das Gericht Recht wenn es die Auffassung vertritt, hier ginge es um einen abgeschotteten Bereich? Ist der emotionale Mehrwert nicht auch Ausdruck von Teilhabe? Das interessiert mich...?
Nun - da das ärztliche Gutachten anscheinend (aus der Urteilsbegrung so ersichtlich) damit argumentiert, dass die Sexualassistenz nur deshalb notwendig sei, weil der Betreffende nicht in der Lage ist zu masturbieren, wird es schwer fallen die "Begegnung und Umgang mit Nichtbehinderten" argumentativ in den Vordergrund zu stellen.

Auch wenn das objektiv ein positives Ergebnis der Sexualassistenz wäre - genau dieses wurde ja nicht eingeklagt.

Ich versuche hier innerhalb des Systems zu argumentieren, mich da hineinzudenken, was ein Richter unter gegebenen Umständen zu beachten hat ... dass ich grundsätzlich sowieso ganz anderer Meinung bin dürfte ja wohl jedem klar sein :002

Liebe Grüße, Aoife
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Marc of Frankfurt
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Sexualität ein Menschenrecht

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Ob es nur ein "emotionaler Mehrwert" ist der durch Sexwork erbracht wird ist fraglich.

Es ist möglicherweise viel mehr!


Für mache Kunden ist der regelmäßige Besuch beim Sexworker wie ein Grundnahrungsmittel!

Das wird in dem Urteil - was ich diesmal nicht auch noch sorgfältig gelesen haben, weil die juristische Sprache so anstrengend ist und m.E. die entscheidenden Knackpunkte gerne versteckt und sie daher kaum als Freizeitlektüre oder auch nur neben der Arbeit tauglich ist, wenn es nicht zugespitzt aufbereitet ist - möglicherweise völlig in Abrede gestellt, vermutlich, weil das kein Staat, keine Kasse glaubt bezahlen zu können, wenn da eine Welle losgetreten würde.


Dabei ermöglicht erst die sexuelle Betätigung und Befriedigung bei machen Menschen, dass sie menschlich ausgeglichen und sozial kompatibel werden.

Die Tabletten werden ja auch anstandslos bezahlt.

Weil die Notwendigkeit für Sex schwer zu beurteilen ist, will man sich ganz aus diesem Bereich heraushalten befürchte ich. Sie wird zumeist verneint. Zum persönlichen Überleben sei Sex ja nicht wesentlich. Lebensqualität tritt in den Hintergurnd. Der Anfangsgrund für Tabuisierung und Exklusion aller sexuellen Themen.

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RE: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kun

Beitrag von Aoife »

Allgemein gesehen stimme ich dir völlig zu Marc.

Nur sehe ich kaum eine Möglichkeit diese Argumentation auf den speziellen Fall anzuwenden, nachdem hier die Anspruchsbegründung eben gar nicht auf dem emotionalen Mehrwehrt oder noch viel mehr aufbaute, sondern auf der Unmöglichkeit der eigenhändigen Masturbation.

Dass der Kläger nur die Vollbringung (und deren Bezahlung) einer notwendig erscheinenden aber ihm selbst nicht möglichen mechanischen Leistung eingefordert hat können wir nicht dem Richter der diesen Fall zu entscheiden hatte vorwerfen.

Vorhalten können wir ihm hingegen, dass er nicht von sich aus darauf hingewiesen hat dass diese Aspekte auch nicht zu vernachlässigen sind und eine entsprechend formulierte Klage Aussicht auf erfolg haben könnte - wie ja beispielsweise das Verfassungsgericht in seiner Ablehnung der Klage gegen den damaligen §175 StGB ganz klar darauf hingewiesen hat, dass die Klage ungeeignet war zum Erfolg zu führen, weil sie eben nicht auf inhaltliche Verfassungswidrigkeit dieses Paragraphen einging sondern argumentierte der Paragraph müsse verfassungswidrig sein, weil er schon zu NAZI-Zeit bestanden hat.

Ebenso hätte dieser Richter im gegebenen Fall durchaus darauf hinweisen können, dass eben die Vorteile bezüglich Kontakt mit Nichtbehinderten eingeklagt werden müssten, er jedoch der Forderung einen bloßen Masturbationsersatz dem Kostenträger unter der Kategorie "kontaktfördernd" aufzubürden nicht nachkommen kann.

Liebe Grüße, Aoife
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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

@Aoife
@all,

mich interessiert hier ja mehr die Frage ob den Auch der Besuch einer/eines SW dem Kontakt mit Nichtbehinderten im Sinne der §§ 55, 58 Sozialgesetzbuch IX dient, oder scheidet das deshalb aus, weil es sich hier um eine intime, von der Gesellschaft abgeschotteten Begegnung handelt; so ja in etwa die Argumentation in der Entscheidung. Das Landessozialgericht Thüringen verweigerte die Kostenübernahme für Bordellbesuche mit den Argument: Bordellbesuche dienten nicht der Eingliederung in die Gesellschaft.

DAS aber ist die rechtliche und tatsächliche Kernfrage in diesem Kontext...

Kasharius grüßt und freut sich auf weitere Beiträge :006

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RE: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kun

Beitrag von annainga »

wenn du so konkret die frage stellst @Kasharius
"dient ein bordellbesuch der eingliederung in die gesellschaft?" fällt mir auf, dass bordellbesuche meist verheimlicht werden, um nicht in der gesellschaft negativ aufzufallen.
widerspricht aber nicht, sich dadurch dennoch in der gesellschaft eingegliedert zu fühlen, oder?
irgendwie ist das alles auslegungssache. der eine meint so, der andere anders. je nachdem wer und in welcher situation dazu was sagt.

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Re: RE: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh.

Beitrag von Aoife »

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annainga hat geschrieben:widerspricht aber nicht, sich dadurch dennoch in der gesellschaft eingegliedert zu fühlen, oder?
Nein, das ist bestimmt kein Widerspruch @annainga.

Auch das gemeinsame Gefühl eben nicht über alles sprechen zu können stellt auf psychischer Ebene eine Gemeinsamkeit her :002

Und vielleicht beruhen die juristischen "Schwiergkeiten" gerade auf dieser psychologischen Tatsache - wer den Bordellbesuch einklagt spricht ja darüber und verlässt somit eben diese Gemeinsamkeit.

Liebe Grüße, Aoife
Zuletzt geändert von Aoife am 22.04.2013, 15:26, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von Kasharius »

@annainga
@all

ich denke zumindest in Fällen, bei denen die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen gerade bei Menschen in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe eine von wenigen Mögklichkeiten der Kontaktaufnahme nach "Aussen" ist, wäre die Frage mit ja zu beantworten.

Was meint Ihr...?

Kasharius freut sich auf weitere Beiträge und grüßt

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RE: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kun

Beitrag von Tilopa »

Hier ein ziemlich sympathischer Artikel (der zur Abwechslung mal ohne die Worte 'Menschenhandel', 'Zwangsprostitution' und 'Zuhälter' auskommt) aus der Süddeutschen Zeitung: :001

Kurs für Prostituierte: Jenseits aller Tabus

"Sex und Zärtlichkeit für Behinderte: Postituierte lernen bei einer Beratungsstelle, wie sie auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingehen können. Die Diskussion, wie weit Sexualassistenz gehen soll, erinnert in ihrer Heftigkeit an weltanschauliche Grundsatzdebatten."

http://www.sueddeutsche.de/bayern/kurs- ... -1.1669851

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Beitrag von Kasharius »

Einer von vielen, sehr guten Artikeln der Süddeutschen Zeitung zum Thema Sexarbeit und Sexualassistenz. Herzlichen Dank lieber @Tilopa für das Einstellen dieses Artikels. Leider greifen nach meiner Wahrnehmung die politischen Parteien das Thema so nicht auf - oder übersehe ich da was. Gerade Deine Meinung als, wie ich finde, profunder politischer Analyst würde mich auch vor dem Hintergrund der Fragestellung dieses threats interessieren @Tilopa...?

Kasharius dankt und grüßt

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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Kasharius »

Bin gerade beim stöbern auf diese von mir mal angestoßene Debatte...äh...gestoßen (Aus der Reihe Deutsch für Deutsche...). Sie erscheint angesichts der heutigen Realität für SW und Menschen mit Behinderungen fast wie aus der Zeit gefallen. Zugleich aber auch eine Reminiszenz an drei wundervolle Forenmitglieder, die nicht mehr so aktiv sind; @Aoife, @annainga und @Marc of Frankfurt.

Wo immer ihr seid, ich grüße Euch von Herzen.

Kasharius grüßt

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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Zealot »

Ich bin hochgradig schwerhörig und nehme Paysex in Anspruch. Hochgradig heißt per Definition zwischen 20 und 40% normaler Hörleistung. Am Mittagstisch auf Arbeit krieg ich trotz teurer Hörgeräte nix mit und esse halt nur, statt mich an Gesprächen zu beteiligen. Für mich ist PS ein Segen, sonst wäre ich halt ein ungefickter Ü30er. :)

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Kasharius
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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Kasharius »

Hallo @Zealot

nach meiner Kenntnis aus der beruflichen Praxis existieren gute Hörgeräte, die auch in solchen Situationen in der Kantine eine Kommunikation ermöglichen. Leider ziehen die Kassen oft nicht mit. Kannst Du Dich den gut mit den SW verständigen mit denen Du dann zusammen bist und spielt die Behinderung da eine Rolle?

Kasharius grüßt Dich

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deernhh
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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von deernhh »

Das Problem bei den meisten Hoergeschaedigten ist, dass, wenn man mit mehreren Menschen zusammen sitzt und mehrere gleichzeitig sprechen, man die Gespraeche wie ein Wolfsknaeuel bzw. Durcheinander bzw. Gewusel wahrnimmt, man also nicht genau definieren/hoeren kann, wer was gesagt hat.

Ausserdem ist es in der Kantine recht laut. Die Hoergeraete verstaerken die Umweltnebengeraeusche ebenso mit wie das Gesprochene des Mitmenschen, so dass die Hoergeschaedigten die Nebengeraeusche und das Gesprochene nicht auseinanderhalten koennen.
Der Normalhoerende hat den Vorteil, die Nebengeraeusche etwas ausblenden/filtern zu koennen und sich auf das Gesagte konzentrieren zu koennen, was der Nachteil der Hoergeschaedigten ist.
An der Autobahn oder wenn ein Zug vorueberfaehrt, dann hat auch der Normalhoerende Schwierigkeiten.

Ausserdem haben Hoergeschaedigte noch eine Schwierigkeit: Sie koennen nur die Selbstlaute a, e, i, o, u hoeren, jedoch nicht die Mitlaute s, z, t, m, n, j, w und so weiter.
Das ist fuer Hoergeschaedigte umso schwierig, weil sie zusaetzlich auf den Mund des Gegenuebers schauen muessen (Lippen ablesen) und sich konzentrieren muessen, um die Woerter/Saetze und Satzzusammenhaenge verstehen zu koennen und sich zusammenreimen muessen.
Bedeutet, der Gespraechspartner sollte nicht unbedingt fuer den Hoergeschaedigten im Schatten stehen/sitzen, sondern im Licht.
Jedenfalls haben Hoergeschaedigte bei Nuschelnden und Dialektsprachlern Schwierigkeiten. Und: sehr langsam und extra laut sprechen ist auch absolut nicht noetig!!! Einfach nur normal sprechen und nicht nuscheln.
Die Hoergeschaedigten sind trainiert und trainieren ihr ganzes Leben lang.

Leider gibt es diese Super-Hoergeraete, die die Mitlaute mit aufnehmen und Nebengeraeusche wegfiltern, nicht.
Die Hightech-Hoergeraete schaffen vielleicht nur minimal die Reduzierung der Nebengeraeusche und diese kosten ca. 5.000 € ! Die Krankenkasse ersetzt leider nur Geraete bis zu einer bestimmten Standardsumme von bis zu 1000 €. Alles darueber hinaus muss man selber zahlen. Und meist muss man sich neue Geraete alle 4 bis 5 Jahre neu kaufen (wegen Hitze, Kaelte, Bedienung den ganzen Tag usw, eben wie bei einer Waschmaschine z.B.). Also ein teures "Vergnuegen".

Was Paysex angeht:
Hier absolut keine Probleme bei der Verstaendigung, da Umgebung ruhiger ist, man eigentlich zu zweit ist.

Uebrigens: Die Hoergeschaedigten schauen nicht nur auf die Lippen, sondern auch auf die Mimik und Koerperhaltung und Koerpersprache. Da haben, denke ich, Hoergeschaedigte "mehr Antennen" fuer als Normalhoerende. Grins ...

Und zu guter Letzt:
HOERGESCHAEDIGTE SIND NICHT DUMM !!!
Auch sie lesen Buecher, tolle Zeitschriften wie z.B. "Der Spiegel" und verstehen, um was es geht. Kultivierte Gespraeche (auch "Streitgespraeche") sind moeglich und auch erwuenscht!

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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Zealot »

@deernhh: Schöner Beitrag, du kennst dich offenbar aus. :)

Ich habe für meine Hörgeräte sehr viel selber bezahlt. Die KK bezahlt alle 6 Jahre so ca. 1.000€ dazu.
Für meine 2016er habe ich demnach 3.500 Eigenanteil berappt und muss mal gucken, was 2022 dann so geht.
Die Nebengeräusche sind in der Tat das größte Problem.

Bei one-on-one-Gesprächen geht es besser, wenn auch nicht gut, aber die klassische Kennenlernsituation hat leider meistens Nebengeräusche.
Im Paysex geht es einigermaßen, weil das ja meistens one-on-one-Gespräche sind. Gibt natürlich auch hier Situationen, wo ich keine Lust habe, mehrmals nachzufragen und dann lieber Informationen wegfallen lasse, die mich eigentlich interessiert hätten (Beispiel: ich wüsste gerne, was "ihr" Bruder beruflich macht, habs aber wiederholt nicht verstanden). Aber das lässt sich denke ich verkraften. Im Urlaub mit Freunden (wir gehen meistens in Hostels, da jung und arm) lasse ich meistens die anderen für mich mithören. Habe mit Fremdsprachen komischerweise mehr Probleme als mit Deutsch.
Zuletzt geändert von Zealot am 06.10.2018, 12:04, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Ursa Minor »

Dies ist auch ein Grund weshalb ich dieses Forum so schätze. Das grosse und umfangreiche Wissen welches sich hier vereint. Der empathische Umgang miteinander, und dass Aussenstehende sich äussern und teilhaben können.

Ich finde ebenfalls schön was deernhh geschrieben hat. Ich habe mir dazu auch meine Gedanken gemacht. (Ich hatte schon einen Beitrag angefangen, wohl den Entwurf nicht richtig gespeichert, denn als ich vorhin hochladen wollte, kam nix).

@Zealot
Ich hätte auch gesagt, dass es bei einem Treffen mit einer SW wohl weniger problematisch ist, da die Situation ruhig ist und zu Zweit. Zudem sind andere Sinne verstärkt, die wesentlich sind. Wie bei Sehbeeinträchtigung etwa, kommen andere Sinne verstärkt zur Geltung, wie die taktilen Sinne. Ich kann es aber nicht wissen, weil ich nicht betroffen bin, und es daher nicht wahrnehmen kann.
Wenn viele Geräuschquellen vorhanden sind, stelle ich mir vor, dass es schon anstrengend und schwierig ist, oder auch mühsam.
Mit den Hörgeräten ist es auch so eine Sache. Die sind teuer, und die Betroffenen tragen einen grossen Teil der Kosten selber. Zudem verstärken sie zwar den Schall, damit das Hören möglich wird, aber sie filtern nicht. Da dürfte es dann bei vielen Nebengeräuschen eher unangenehm und störend sein.

Deernhh hat bereits treffend geschildert wie der empathische Mensch sich in der Kommunikation verhalten kann.
Manchmal hilft auch eine tiefe Tonlage der Stimme, weil hohe Töne nicht mehr hörbar sind. Kommt wohl darauf an, was und wieviel betroffen ist. Der Blickkontakt und nicht um die Ecke rumsprechen ist schon eine Frage des Respekts zum Gesprächspartner an sich.

Was ich auch ganz wichtig finde; Das verminderte Hören (oder auch gar nix hören) hat mit den kognitiven Fähigkeiten absolut nix zu tun. Betroffene haben mir auch schon geschildert, dass man sie nicht für voll nahm (sprich für dumm oder weniger intelligent hielt) infolge der Hörschädigung. Dies ist wohl eine leider "noch" teilweise vorhandene Unkenntnis oder ein Vorurteil bei gewissen Mitmenschen.

Ich wünsche euch ein schönes Wochenende

Liebe Grüsse
ursaminor

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Re: Dient Sexarbeit der gesellschaftlichen Teilhabe beh. Kunden

Beitrag von Kasharius »

ZU den Hörgeräten: Es ist in der Tat eine Crux, daß viele Kassen hier nur Festpreise zahlen. Denn die (höchstrichterliche) Rechtsprechung sieht das zuweilen deutlich teilhabeorientierter. Insbesondere wenn die beruflichen Anforderungen dies erfordern, sind auch die Kosten hochwertiger Hörgeräte zu übernehmen. Meistens ist dann auch der Rententräger mit im Boot. Aber leider muss eben oft erst der Klageweg beschritten werden.

Zur Sexarbeit: Vor der one-one-Situation gibt es ja auch die "Ahnbahnungsphase". Das stelle ich mir in Clubs oder Laufhäusern, wo ja auch ein höherer Geräuschpegel vorherrschen kann, schwierig vor...?

Freue mich hier auf weitere Erfahrungsberichte zum Thema dieses threats und wünsche ein schönes Wochenende.

Kasharius grüßt