Anspruch auf Kostenübernahme von Sexualassistenz
Bayer. VGH, Urteil vom 10.05.2006 – Az: 12 BV 06.320 (ZFSH/SGB 2005, S. 529 f.)
Der 1954 geborene Kläger leidet an einer spastischen Cerebrallähmung und kann mit seiner linken Hand lediglich ein Notrufsystem bedienen. Bei ihm wurde ärztlicherseits ein gesteigertes sexuelles Verlangen bestätigt, das er aufgrund seiner Behinderung nicht aus eigener Kraft befriedigen könne. Er leide seelisch schwer unter seiner Übersexualität und der mangelnden Befriedigung. Er beantragte bei dem Sozialamt die Kostenübernahme für neun Ganzkörpermassagen mit sexueller Komponente von April bis Oktober 2003 in Höhe von jeweils 90 EURO. Mit Urteil vom 17.11.2005 verpflichtete das VG München das beklagte Sozialamt, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Der Kläger habe einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, die grundsätzlich auch die Durchführung von Ganzkörpermassagen mit sexueller Komponente umfasse. Der Begriff "Eingliederung in die Gesellschaft" sei weit auszulegen und umfasse alle Bereiche des menschlichen Lebens, aus denen ein behinderter Mensch aufgrund seiner Behinderung ausgegrenzt werden könne. Ein derartig umfassendes Verständnis gebiete auch das in Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 GG verfassungsrechtlich verankerte Benachteiligungsverbot von behinderten gegenüber nichtbehinderten Menschen. Eingliederungshilfe als Nachteilsausgleich könne nur für solche Bedarfslagen gewährt werden, für die auch bei nichtbehinderten Menschen ein sozialhilferechtlicher Bedarf anzuerkennen sei. Prüfungsmaßstab hierfür seien § 12 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1, 22 BSHG, die Deckung der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens. Dazu zähle auch die Erfahrung und das Erleben der eigenen Sexualität und die Möglichkeit ihrer Befriedigung. Die Aufwendungen für das Sexualleben seien dabei grundsätzlich im Regelsatz enthalten. Der Kläger könne jedoch nicht auf die ihm gewährte Regelsatzleistung verwiesen werden, weil er aufgrund der Schwere seiner Behinderung nicht in der Lage sei, sein sexuelles Bedürfnis aus eigener Kraft bzw. manuell zu befriedigen. Er sei daher auf die Hilfe dritter Personen angewiesen. Die Kosten hierfür betrügen bereits bei einmaliger monatlicher Inanspruchnahme ungefähr ein Drittel seines Regelsatzes und überträfen dabei den Anteil für Bedürfnisse des täglichen Lebens erheblich. Daher seien Leistungen der Eingliederungshilfe zusätzlich zu den Regelsatzleistungen zu gewähren. Gemäß § 4 Abs. 2 BSHG entscheide der Sozialhilfeträger über Form und Maß der Sozialhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen. Danach erscheine die Ermöglichung der sexuellen Befriedigung mindestens einmal im Monat als ermessensfehlerfrei.
Der VGH gab der Berufung gegen das Urteil des VG München durch das Sozialamt statt. Es handele sich bei der begehrten Leistung nicht um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe. Die Befriedigung seines sexuellen Bedürfnisses durch die Ganzkörpermassage ermögliche dem Kläger nicht die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, weil sie in einem von der Außenwelt abgesonderten, geschützten Intimbereich stattfinde und ihm keinerlei Kontakte nach außen vermittle. Es sei auch nicht ersichtlich, inwiefern diese Bedürfnisbefriedigung dem Kläger gesellschaftliche Kontakte erleichtern sollten. Sie dienten lediglich seinem persönlichen Wohlbefinden.
Zu prüfen sei eine Kostenübernahme im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Aufwendungen für das Sexualleben gehörten zu den Grundbedürfnissen des menschlichen Daseins (OVG Hamburg, Urteil vom 21.12.1990, Az: Bf IV 110/98 [juri], BVerwG vom 19.05.1994, FEVS 45, 146). Die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt könnten gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG abweichend von den Regelsätzen bemessen werden, soweit dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten sei. Der Kläger habe jedoch keinen Anspruch auf eine solche Erhöhung des Regelsatzes, da er nicht im Einzelnen nachgewiesen habe, dass er seinen notwendigen Lebensunterhalt infolge der Massagekosten nicht mehr vollständig habe decken können. Er habe für seine Ausgaben für die Ganzkörpermassage die ihm gewährten pauschalierte Eingliederungshilfe in Höhe 715 EURO verwandt. Da diese Pauschale nicht zweckgebunden sei, habe der Kläger diese Mittel dafür verwenden können, die ihm zum Ausgleich von Mobilitätsdefiziten gewährt werde. Ihm sei daher die Verwendung der Pauschale zuzumuten, weil er weder konkret vorgetragen habe noch ersichtlich sei, dass er die Mobilitätspauschale für Zwecke der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vollständig verbraucht habe.
https://www.lebenshilfe.de/de/themen-fa ... kosten.php
stellt sich also die Frage an alle: Wie würden Sie entscheiden?
Freue mich auf viele Beiträge


Kasharius grüßt
