Historisch Herbertstraße: So kam der Sex nach St. Pauli

Historische Betrachtungsweisen der Prostitution - Ein Spiegel der jeweiligen Zeit und Moral.
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Historisch Herbertstraße: So kam der Sex nach St. Pauli

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Herbertstraße So kam der Sex nach St. Pauli

St. Pauli -

Die Herbertstraße ist – neben der Reeperbahn – die bekannteste Straße der Stadt. Abgesperrt und doch rund um die Uhr offen. Autofrei und doch mit regem Verkehr. Geschaffen wurde dieser unsittliche Ort ausgerechnet von Moralaposteln der Stadtverwaltung. Die glaubten, dass sie die Huren besser kontrollieren können, wenn sie sie in einer Straße kasernieren. So entstand am 1. Januar 1900 die berühmte Bordell-Passage.
Herbertstraße (1)

60 Meter lang und etwa sieben Meter breit ist diese ganz besondere Fußgängerzone. Richtige Läden gibt es nicht, aber jede Menge Schaufenster. Und wenn Männer vorbeischlendern, dann machen die Frauen, die sich darin präsentieren, durch Trommeln gegen das Fenster auf sich aufmerksam: „Na, wie wär’s, willst du reinkommen, Schatz?“

Bis ins 13. Jahrhundert reicht sie zurück: die Geschichte der Prostitution in Hamburg. 1428 hat die Stadt bereits acht offizielle „Frauenhäuser“. Sie befinden sich unter anderem auf dem Kattrepel (Altstadt) und an der Neustraße. Wirklich angesehen sind Prostituierte nicht, aber sie werden geduldet.
Herbertstraße (2)


Das ändert sich im 17. Jahrhundert im Zuge der Reformation und der sich ausbreitenden Geschlechtskrankheit Syphilis. 1666 errichten die Stadtväter am Alstertor ein Spinnhaus, in dem Frauen, die der Prostitution überführt sind, zwangsarbeiten müssen. Zusätzlich werden Huren am Pferdemarkt an den Schandpfahl gekettet und öffentlich zur Schau gestellt.

Wildes Millerntor
Herbertstraße


Doch alle Versuche, das älteste Gewerbe der Welt auszurotten, scheitern. Die leichten Mädchen verschwinden nicht, sie weichen aus, siedeln sich außerhalb der Stadtmauern an – nämlich vor dem Millerntor. Es ist eine wilde Gegend, in der allerlei Gesindel Unterschlupf sucht. Vor allem im Bereich des Hamburger Bergs wird die „Venus Cloacina geheiligt“, wie es Ariane Barth in ihrem Standardwerk „Die Reeperbahn“ beschreibt. Tausende Matrosen werden hier um Gesundheit und Lohn gebracht.

1806 besetzen napoleonische Truppen die Stadt. Und damit wird die käufliche Liebe wieder gesellschaftsfähig. Jede Menge neuer Bordelle entstehen. Gibt es 1833 in Hamburg 113 Freudenhäuser, sind es 1863 bereits 180. Sie tragen blumige Namen wie „Goldener Engel“ oder „Vier Löwen“. Die Zahl der registrierten Huren verdoppelt sich in diesem Zeitraum von 569 auf 1047.
Herbertstraße (5)


Sogar ein Huren-Reglement gibt es: Es besagt, dass die Bordellwirte die Frauen beköstigen und ihnen Morgen-Kaffee bereitstellen müssen. Außerdem darf keine Dirne zum Beischlaf gezwungen werden. Geregelt ist auch, dass die Wirte den käuflichen Damen nicht mehr als die Hälfte ihres Hurenlohns für Kost und Logis abnehmen dürfen.

1860 fällt die Torsperre, was den Gunstgewerblerinnen weiteren Zulauf beschert. Mit der Industrialisierung bekommt die Prostitution Ende des 19. Jahrhunderts neuen Auftrieb, weil immer mehr Schiffe Hamburg anlaufen. Zunächst wird das noch geduldet, aber bald gewinnen Spießbürgertum und Doppelmoral die Oberhand: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es erklärtes Ziel der Sittenpolizei, die Huren zu vertreiben. Sie werden fast vollständig entrechtet: Die Frauen dürfen zu bestimmten Zeiten das Haus nicht verlassen, die Straßen rund um die Alster nicht betreten. Ihnen ist auch untersagt, Theater, Konzerte, Tanzlokale und sogar Badeanstalten zu besuchen.
Strenges preußisches Recht

Ganz schlimm wird es nach der Reichsgründung 1871. Denn jetzt gilt sittenstrenges preußisches Recht – und das bedeutet: Hamburg müsste eigentlich sämtliche Bordelle schließen. Doch dank eines kleinen Etikettenschwindels kann das Gesetz umgangen werden: Freudenhäuser werden einfach umbenannt. Jetzt heißen sie mit einem Mal „Beherbergerhäuser“ und sind legal.

Ab 1880 bemüht sich die Stadt, die Prostitution auf einige wenige Straßen zu begrenzen. Die Heinrichstraße auf St. Pauli ist eine davon. Schon seit sie 1790 erbaut worden ist, gibt es dort Bordelle. Aber jetzt explodiert die Zahl: 1883 sind es sechs, 1885 schon zehn und 1887 sogar 20 Freudenhäuser. Schließlich wird ab dem 1. Januar 1900 der konzessionierte Bordellbetrieb in St. Pauli auf diese eine Straße beschränkt. Und 1922 wird aus der Heinrich- die Herbertstraße – und erlangt unter diesem Namen Weltruhm.

Der Sex und die Nazis

Der Erste Weltkrieg und die Inflation geben dem Kiez-Gewerbe einen Dämpfer, aber in den wilden 20ern floriert das Geschäft mit dem Sex wieder. Zuhältervereinigungen wie der „Sparclub Fidelio“ entstehen. Mitglied darf nur werden, wer mindestens ein Mädchen laufen hat.

Ab 1933 tun die Nazis zunächst alles, um der Prostitution, dieser „Vergiftung des Volkskörpers“, ein Ende zu bereiten. 1527 Huren werden in Schutzhaft genommen. Trotzdem gelingt es nicht einmal ihnen, dem Sex-Gewerbe das Wasser abzugraben. Die braunen Machthaber lassen zwar an der Herbertstraße die bis heute vorhandenen Metall-Sichtblenden aufstellen, aber um das, was dahinter passiert, kümmern sie sich nicht. Das Motto dieser Aktion lautet: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Herbertstraße (3)

Nach dem Zweiten Weltkrieg boomt das Gewerbe erneut: Erst die englischen Besatzer, später vor allem Skandinavier füllen die Geldbörsen der Damen und ihrer „Beschützer“. 1967 wird dann Willi Bartels’ „Eros-Center“ auf der Reeperbahn eröffnet. Prostitution ganz deutsch: sauber, ordentlich und reglementiert. Es folgen Zuhälterkriege, die Taten des St. Pauli-Killers Pinzner, Aids, die wilden 90er Jahre mit Dutzenden Schießereien und schließlich im Jahr 2000 die Übernahme des Eros-Centers durch die „Hells Angels“ – inzwischen alles Kiez-Geschichte.

Heute arbeiten in der Herbertstraße rund 220 Frauen. Und es gibt kaum einen Männer-Wunsch, der dort nicht befriedigt wird. Wer’s mag, kann sich sogar von einer Domina fesseln, auspeitschen, anpinkeln oder mit Stromstößen malträtieren lassen.

Von allen Prostituierten, die je in der Herbertstraße gearbeitet haben, ist sie unangefochten die bekannteste: Domenica. Von 1972 bis 1990 ist Deutschlands berühmteste Hure die „Königin der Herbertstraße“. Als sie im Februar 2009 stirbt, führt ein Trauerzug quer durch St. Pauli. Hunderte schließen sich ihm an, trauern um die ehemalige Hure.

http://www.mopo.de/hamburg/historisch/h ... alReferrer
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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Fakten und Infos über Prostitution

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Als auf der Bühne noch “geliebt” wurde


Jahrzehntelang arbeitete Jeff Pierron als Choreograf in den Live-Sex-Cabarets an der Großen Freiheit. Anekdoten eines ungewöhnlichen Lebens.

Meine erste Begegnung mit Jeff Pierron liegt inzwischen mehr als zweieinhalb Jahre zurück. Um es ehrlich zu sagen: Es war nicht die angenehmste Begegnung. Im Gegenteil: Ein befreundeter Türsteher des Live-Sex-Theaters Safari an der Großen Freiheit lud einen Kumpel und mich bei unserem abendlichen Rundgang über den Kiez auf einen Blick in den legendären Nachtclub ein. Dem Hausherrn gefiel diese freundliche Geste jedoch gar nicht und so setzte er uns nach nicht einmal zwei Minuten im hohen Bogen und wüster Ausdrucksweise wieder vor die Tür.

Zweieinhalb Jahre später sitze ich seit Stunden im Wohnzimmer von eben jenem Jeff Pierron, der mir in seiner mehr als herzlichen Art und mit einem ebenso charmanten französischem Akzent erneut eine Tasse Kaffee anbietet. Selbst das gute Silberbesteck seiner Mutter kommt heute einmal zum Einsatz. Einen so freundlichen Gastgeber wie den langjährigen Choreografen und Mitinhaber des Safaris, erlebt man selten. Es scheint, als hätten diese beiden, der Jeff Pierron von damals und der von heute, so gar nichts miteinander zu tun.
Jeff Pierron an der Großen Freiheit

Jeff Pierron im Herbst dieses Jahres vor seiner ehemaligen Wirkungsstätte (Foto: Schaefer)

„Die letzte Zeit im Safari war sehr schwer“, sagt der heute 66-Jährige, ohne auch nur zu ahnen, dass wir uns zu dieser Zeit bereits einmal begegnet sind. „Ich war nicht mehr ich selbst.“ Die Geschäfte liefen schlecht und Pierron ahnte bereits, dass es mit dem Safari nicht mehr lange gut gehen würde. Während er immer wieder über einen Neustart des Cabarets mit verändertem Konzept nachdenkt, beharrt Chef und Gründer Hans-Henning Schneidereit auf dem Bestehenden. „Das Safari war sein Werk und es war klar, dass er es niemanden überlassen würde. Er wollte es mit ins Grab nehmen.“

Am Ende kommt es, wie es kommen musste: Nur wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes, beschließt Emilia Schneidereit, die Witwe des Verstorbenen, ihre Mehrheitsanteile an dem Live-Sex-Theater zu verkaufen. Pierrons Überlegungen, das Safari mit Hilfe von Olivia Jones und einem neuen Konzept doch noch am Leben zu erhalten, scheitern an den hohen finanziellen und behördlichen Hürden. Am 13. Dezember 2013 gehen an der Großen Freiheit Nr. 24 endgültig die Lichter aus: Der mächtige Elefant über der Straße, der über die Jahrzehnte längst zu einem Symbol des Kiezes geworden war, leuchtet nicht mehr.
“Die Leute wollen nur noch Porno”

An jenem Dezembertag stirbt nicht nur irgendein Laden auf St. Pauli. Für viele St. Paulianer ist es das Ende einer Ära. Denn mit dem Safari geht auch das letztverbliebene Live-Sex-Cabaret seiner Art auf dem Kiez verloren. Wo sich früher noch unzählige Cabarets wie Regina, Tabu, Colibri oder Salambo aneinanderreihten, beherrschen heute vor allem Diskotheken und Billig-Bars das Bild der Straße. Der Wandel vom Rotlicht- zur Partymeile mag auf ganz St. Pauli zu spüren sein – auf der Großen Freiheit ist er unübersehbar.
Die "Grosse Freiheit" in Hamburg mit Leuchtreklame zur blauen Stunde, Foto dpa

Die Große Freiheit vor einigen Jahren bei Nacht. Das Safari existierte damals noch (Foto: dpa)

„Früher schwärmten die Besucher vom verruchten Charme St. Paulis und verglichen die Cabarets und Shows an der Großen Freiheit mit Paris“, sagt Jeff Pierron und lacht. In Zeiten von Youporn und Co. sei die Nachfrage dagegen eine ganz andere. Der Reiz des Geheimnisvollen, des Sündigen und Sinnlichen sei längst verloren gegangen. „Die Leute wollen keine Show mehr außenherum, sie wollen einfach nur Porno.“

Doch als Porno-Regisseur hat sich Jeff Pierron nie verstanden. Der Sex sei immer nur ein Mittel zum Zweck gewesen, um die Show für die Besucher interessanter zu machen. Schmuddelfilme dienten für ihn nie als Vorlage. Als Choreograf versteht er sich als Künstler, ein Ästhet mit dem Blick für die kleinen Details. Bis heute hat Pierron eine Schwäche für Operetten, Musicals und französische Spielfilme, schwärmt für Ava Gardner oder Catherine Deneuve. „Arte“ läuft fast in jeder freien Minute. Doch wie aber landet so jemand in einem „Bumsladen“ (Mopo) auf dem Kiez?

„Am Ende ging es mir immer darum, meinen Mitmenschen etwas zu beweisen.“
Von der Pariser Staatsoper nach St. Pauli

Das beginnt bereits bei seinem Vater, einem streng-konservativen Unternehmer, der im Stadtteil Saint-Denis nördlich von Paris ein kleines Import/Export-Unternehmen betreibt, in dem Jeffs Mutter als junge Sekretärin arbeitet. Als Jeff nach dem Abitur 1968 beschließt, an einer Pariser Universität Geschichte und Geografie zu studieren, ist der Vater hoch auf zufrieden. Doch als der Sprössling die Uni immer mehr vernachlässigt, um sich stattdessen als Statist an der Paris Staatsoper zu verwirklichen, versucht der Vater dem Treiben seines Zöglings schnell ein Ende zu setzen: „Solange du die Füße unter meinen Tisch steckst, machst du, was ich dir sage.“
Jeff Pierron (Foto: privat)

Der junge Jeff Pierron wuchs in Saint-Denis nördlich von Paris auf (Foto: Pierron, privat)

Als Jeff nur wenige Tage später von Zuhause auszieht, ist es der erste Beweis, den der Sohn seinem Vater erbringen will: Ich kann auch ohne dich. Um Geld zu verdienen, jobbt Jeff zunächst weiter als Statist, später als Moderator und Promoter, bevor er sich mit Anfang 20 als Regisseur und Schauspieler dem französischen Tourismus-Unternehmen Club Méditerranée anschließt, das bis heute mehr als 60 Ferienanlagen weltweit betreibt. Eine Tätigkeit, die den jungen Mann um die halbe Welt führt und bei der er immer wieder interessante Menschen kennenlernt. So wie an jenem Herbsttag 1972 in einem Feriendorf in der Karibik.

„Am nächsten Tag saß ich vor der großen Bühne des Clubs und schaute den Proben für die neue Show zu. Mir fiel der Choreograf auf. Ein gutaussehender, junger Mann, sehr talentiert. Mit Ruhe und Überlegenheit setzte er das Programm zusammen. (…) Der junge Mann begann mich zu interessieren. Im Geiste sah ich ihn schon im Salambo. Ich nahm mir vor, ihn bei seiner erfolgreichen Arbeit genauer zu studieren. (…) Je mehr ich dem Choreografen zuschaute, desto sicherer wurde ich mir, dass es genau der Richtige war.“

So schilderte Renate Durand, die Frau des von vielen Medien als „Sex-Papst“ bezeichneten Salambo-Gründers René Durand, ihre erste Begegnung mit Jeff Pierron später in ihrer Autobiografie. Immer wieder versucht die attraktive Frau den jungen Franzosen in der Folgezeit von St. Pauli, vom Salambo und von René zu überzeugen. „Als ich meinen Eltern davon erzählt habe, ahnten sie bereits, um was für eine Art Theater es sich da auf St. Pauli handelt“, sagt Jeff Pierron. „Aber ich war neugierig und wollte beweisen, dass ich keine Angst davor habe.“ Gemeinsam mit zwei Freunden bricht er nur wenige Wochen später nach Hamburg auf.
“Ficken als inszeniertes Kunststück”

Die Große Freiheit in den 70er Jahren ist gesäumt von frivolen Nachtcabarets, die sich dicht an dicht aneinanderreihen und vor deren Türen gut gekleidete Portiers in teuren Anzügen, die vorbeischlendernden Passanten abzufangen versuchen. Zu den bekanntesten und größten Cabarets dieser Zeit zählt ohne Frage das Salambo von René Durand an der Großen Freiheit 39, dem ehemaligen Star Club. „Die Bühne war unglaublich riesig“, erinnert sich Jeff Pierron an seinen ersten Eindruck. „Einige Szenen bestanden aus bis zu 20 Darstellern.“

Liedermacher und Schauspieler Klaus Hofmann fasste das Programm des Salambo später ein seiner Biografie wie folgt zusammen:

„Im Unterschied zu anderen Läden wurde hier alles auf der Bühne gezeigt. Es war Kleinkunst. Ficken als inszeniertes Kunststück oder das, was René dafür hielt. Es gab Orgien, Männer, die immer konnten, Frauen, die von Zwergen geliebt wurden, Nonnennummern, Sadomasogeschichten, und alles im Vaudeville-Stil inszeniert. Sie trieben es zu zweit, zu dritt, in Gruppen, lehnten während des Aktes an Laternen, sangen dabei und boten sich in aufreizenden Posen den ersten Reihen dar.“

Für all das zeichnet sich ab 1972 auch Jeff Pierron mitverantwortlich. Gemeinsam mit René Durand soll der junge Franzose das Programm erweitern und stetig neue Darsteller in die Show miteinbinden. Doch die Suche nach passenden Bewerbern gestaltet sich als schwierig. „René legte Wert auf schöne und große Penisse“, erinnert sich Pierron. Daher sei es anfangs seine Aufgabe gewesen, die Penisgröße potentieller Bewerber zu kontrollieren. „16 Zentimeter waren Mindestmaß.“ Meist habe er die Männer zunächst hinter einen Vorhang geschickt, bis sie soweit waren. „Viele haben vor Aufregung gar keinen hochbekommen, weshalb schnell klar wurde, dass das hier nichts wird.“

Dass er, als ehemaliger Klavierschüler aus einem bürgerlich-konservativen Familienhaus, mit einem Mal in einem Nachtlokal auf St. Pauli die Größe von Geschlechtsteilen inspizieren muss, sei für ihn jedoch kein Problem gewesen. „Ich habe früh meine Erfahrungen gemacht“, sagt Pierron und schweigt geheimnistuerisch. Ein Kind von Traurigkeit sei er jedenfalls nie gewesen, fügt er an, weshalb ihm der selbstverständliche Umgang mit dem Sex schon damals nicht schwergefallen sei.
Rene Durand (Foto: Zint)

“Salambo”-Gründer und “Sex-Papst” René Durand im Kreise seiner Mitarbeiterinnen (Foto: Zint)

Um den Sex sei es ihm jedoch bei der Arbeit nie gegangen. Im Vordergrund habe vielmehr die Dramaturgie des Stückes, die Kostümierung der Darsteller oder die passende Auswahl der Musik gestanden. „Das Stoßen des Mannes musste zum Takt der Musik passen. Wichtig war auch, dass das Paar von jeder Seite einmal zu sehen war. Das Publikum sollte bei ihm erkennen, wie seine Muskeln am Rücken und an den Pobacken sich zusammenziehen. Bei ihr wippten bestenfalls die Brüste noch im Takt der Musik.“

Sein Anfangsoptimismus weicht jedoch schnell, denn die Zusammenarbeit mit Durand gestaltet sich als äußerst schwierig. Der Mann mit dem Schnauzbart, dessen Kopf das Logo des Salambo ziert, gilt als Freigeist, ein verrückter Idealist, der nach dem einen oder anderen Joint die bizarrsten und wahnwitzigsten Ideen entwirft. Sogar eine Sex-Nummer mit einem Esel sei zwischenzeitlich in Planung gewesen. Auch wenn das Stück – angeblich aus Angst vor Tierschützern – am Ende nicht aufgeführt wird, so gehen die Vorstellungen des jungen Choreografen und seines Chefs bisweilen weit auseinander.
Viermal am Abend, fünfmal die Woche

Als Durand Mitte der 70er Jahre aufgrund seiner Vorliebe für opulente Inszenierungen vermehrt in finanzielle Schwierigkeiten gerät, kommt es zu einer ungewöhnlichen Allianz an der Großen Freiheit: Gemeinsam mit Hans-Henning Schneidereit, einem ehemaligen Kapitän, der 1964 das Erotik-Cabaret Safari gründet und in der Folgezeit auf dem Kiez immer weiter expandiert, errichtet Durand an der Großen Freiheit 11 das „Cabaret Salambo“, das vom Ruf des großen Bruders und Namensgebers profitieren soll. Doch die Zusammenarbeit währt nur kurz: Bereits nach gut einem Jahr gehen die beiden ungleichen Geschäftspartner getrennte Wege. „Schneidereit war ein ganz anderer Typ“, erinnert sich Pierron. Ein fleißiger Geschäftsmann sei er gewesen, der großen Wert auf Stil und Etikette gelegt habe. „Das konnte nicht lange gutgehen.“

Am Ende eines monatelangen Rechtstreits bekommt Schneidereit nicht nur das „Cabaret Salambo“ zugesprochen, in dem er kurz darauf das Nachtlokal Alkazar eröffnet, sondern zieht auch Durands langjährigen Chefchoreografen auf seine Seite: „Ich weiß, wieviel sie verdienen. Bei mir bekommen sie das Doppelte“, verspricht der gewiefte Geschäftsmann dem jungen Franzosen bei einem Gespräch im September 1976. Ein Angebot, über das Pierron nicht lange nachdenken muss.
Colibri an der Großen Freiheit (Foto: Pierron)

Das ehemalige “Colibri” an der Großen Freiheit (Foto: Pierron, privat)

Nachdem der Choreograf zunächst im neu eröffneten Cabaret Alkazar Regie führt, übernimmt er wenig später auch die künstlerische Leitung im Colibri und im Safari. Statt sich wie bisher der Inszenierung ausschweifender Orgien hinzugeben, konzentriert sich Pierron dabei zunehmend auf die Interpretation von Musicals, Operetten und Theaterstücken, die er mit nur wenigen Darstellern umzusetzen versucht und bei denen er sogar selbst ab und zu in eine der Rollen schlüpft. Die Oper „Carmen“ gehört zu seinen ersten Interpretationen: „Es war eine aufwendige Inszenierung mit sehr viel Handlung. Ich habe es immer gehasst, wenn bereits ein Bett auf der Bühne stand und jeder wusste, was gleich passiert.“

Immer öfter versucht der Choreograf den Sex daher in kleinen Theaterepisoden zu verpacken, deren Länge 20 Minuten nur selten überschreitet. Ergänzt wird die Show dabei immer wieder von kleineren Tanz- und Solonummern, damit die Paare zwischen den Auftritten Zeit zur Regeneration bekommen – insbesondere die männlichen Darsteller, die mindestens viermal am Abend, an fünf Tage die Woche auf der Bühne ihren Mann stehen müssen. „Natürlich ist der Mann nicht jedes Mal zum Orgasmus gekommen“, verrät Jeff Pierron und schmunzelt. Auf Dauer wäre das auch keinem zumutbar gewesen. „Wenn du mehrmals die Nacht einen Orgasmus hast, drehst du irgendwann durch.“
Show in einem Cabaret an der Großen Freiheit (Foto: Zint)

Showeinlage in einem Cabaret an der Großen Freiheit (Foto: Zint)

Anders als viele Außenstehende es vielleicht erwarten würden, ist das Kopulieren vor Publikum für die Darsteller alles andere als ein Vergnügen. Der Sex an sich spielt nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr verlangt der Choreograf von seinem Team eiserne Disziplin, wenn es darum geht, Bewegungen richtig auszuführen oder die Stimme gezielt einzusetzen. Sein zum Teil übertriebener Perfektionismus ist bei seinen Mitarbeitern gefürchtet. „Unser Choreograf ist auch schon mal ausgeflippt“, sagen ehemalige Mitarbeiter über Jeff Pierron, der auch vor harten Worten nicht zurückgeschreckt habe. „Du bist so sexy wie ’ne Tür“, sei dabei noch das Netteste gewesen.

„Ich war oft sehr hart“, sagt Jeff Pierron heute selbstkritisch. „Es hat mich verletzt, wenn sie meine Inszenierungen nicht so umgesetzt haben, wie ich es mir eigentlich vorgestellt hatte.“ Tatsächlich aber muss der ehrgeizige Regisseur seinen eigenen Anspruch, den Charme des Pariser Etablissements nach St. Pauli bringen zu wollen, immer wieder zurückschrauben. Denn letztendlich wollen auch die Besucher auf St. Pauli damals schon vor allem eines sehen: Sex, Sex und nochmal Sex.
“Biene Maja” und der Anfang vom Ende

Anders als heute lassen die Touristen in den 80er Jahren dafür noch eine Menge Geld springen. Die Cabarets an der Großen Freiheit laufen gut – sofern sie nicht gerade mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Denn immer wieder geraten Live-Sex-Theater wegen des Verdachts der Förderung der Prostitution ins Visier der Polizei. Dem Zuspruch tut das jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: Auch Prominente wie Curd Jürgens, Udo Lindenberg oder James Last zählen zu den illustren Gästen, die in den Cabarets auf der Großen Freiheit die eine oder andere Flasche Champagner springen lassen.

Die Geschäfte laufen so gut, dass Schneidereit sein Cabaret Safari kurz nach der Wende für gut eine halbe Million Mark komplett sanieren lässt. Jeff Pierron übernimmt dabei die Funktion eines Innenarchitekten, der das Nachtlokal nach seinen Vorstellungen gestalten soll. „Du machst das schon, mein Junge“, erinnert sich der 66-Jährige an die Worte seines ehemaligen Chefs, der manchmal wie ein Vater zu ihm gewesen sei. Im Jahr 2000 macht Schneidereit seinen Choreografen sogar zum Mitgesellschafter und verkauft ihm 49 Prozent seiner Firma.
Jeff Pierron Colibri

Show im Colibri in den 80er Jahren. Jeff Pierron als Darsteller (l.) auf der Bühne (Foto: Pierron, privat)

Das nahende Internet-Zeitalter mit seinem allgegenwärtigen Totalsex setzt die Branche auf St. Pauli jedoch zunehmend unter Druck. Als das Cabaret-Sterben an der Großen Freiheit bereits in vollem Gange ist und Salambo, Tabu oder Regina längst Geschichte sind, träumt Jeff unbeirrt von einem Neuanfang, von einer neuen Ära der Erotik-Unterhaltung auf dem Kiez. „Ohne die Bewahrung seiner Tradition als Vergnügungsviertel mit viel Sex und Erotik hat St. Pauli keine Zukunft“, prophezeit er im Jahr 2000 in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt. „Daher müssen wir uns jetzt erneuern, zeitgemäßer und überraschender werden ohne die einmalige Atmosphäre im Safari zu zerstören.”

Doch statt neue Investitionen zu tätigen, um das Programm dem Wandel der Zeit anzupassen, dreht Schneidereit, der gesundheitlich angeschlagen ist und sich zunehmend aus dem Geschäft zurückzieht, den Geldhahn zu. Das Verhältnis der beiden ehemals eng befreundeten Partner kühlt in der Folgezeit deutlich ab. Erst recht, als Schneidereit seinen Choreografen dazu anhält, das Stück „Biene Maja“ im Abendprogramm aufzunehmen. Eine Anweisung, der Pierron nur äußerst widerwillig folgt. „Das hatte mit Erotik und Sinnlichkeit nichts mehr zu tun“, schimpft Pierron. „Die Leute haben sich einfach nur kaputtgelacht.“ Es ärgert ihn spürbar, dass das Safari bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung häufig nur auf dieses eine Stück reduziert wird.
Live Sex auf der Bühne im Salambo (Foto: Zint)

Bis in die 90er Jahre lief das Geschäft mit dem Live-Sex auf der Bühne durchaus erfolgreich (Foto: Zint)

Das Cabaret an der Großen Freiheit kann jedoch auch Willi mit seinem dicken Stachel nicht mehr retten. Es fehlt das Geld für neue Investitionen, für Dekoration und Kostüme. In der Folge kehren immer mehr Mitarbeiter dem Safari mehr oder weniger freiwillig den Rücken zu und versuchen ihr Glück in anderen Branchen. Viele ahnen bereits, dass das kein gutes Ende nehmen wird. Neuen Nachwuchs findet Jeff Pierron auf dem Kiez, der nun nicht mehr von Cabarets und Stripclubs, sondern von Diskotheken und Bars gesäumt ist, kaum mehr. Für 70 Euro netto die Nacht will sich kaum einer mehr Willis Flügel auf den Rücken schnallen.

Damit nimmt auch die Qualität des Programms spürbar ab. „Die Show war am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst“, sagt Jeff Pierron selbstkritisch. Bis heute schämt er sich für diese letzte Zeit im Safari und ein wenig wohl auch für sich selbst. „Ich war am Boden zerstört, fühlte mich allein und überfordert mit der ganzen Situation.“ Um die wenigen Gäste zu besänftigen, bietet er am Ende sogar Führungen durch das Safari an. Der Blick in die Garderobe als Entschädigung für eine Show, die nur noch an ein Trauerspiel erinnert. Es war wohl einer jener Abende als wir uns zum ersten Mal begegneten.
“Ich kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen”

Mehr als zwei Jahre sind inzwischen vergangen. Jeff Pierron steht vor den verschlossenen Türen des „Safari Bierdorf“ und blickt in das dunkle Innere des Raumes. Bis auf einen gusseisernen Schriftzug, der heute in der hinteren Ecke seines Wohnzimmers steht, hat er bei seinem Auszug aus dem Gebäude nichts mitgehen lassen. Alles Übrige wurde von den neuen Betreibern inzwischen längst entsorgt. An die ehemals plüschige-kitschige Inneneinrichtung erinnert hier nichts mehr. Nur der leuchtende Schriftzug mit dem Elefanten prangt wie eh und je über der Straße.

Doch in Pierrons Gesicht spiegeln sich weder Trauer noch Verbitterung. „Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen“, sagt der 66-Jährige gelassen. „Aber ich kann versuchen, die Erinnerung wachzuhalten.“ Seit einigen Monaten arbeitet er daher als „Kiez-Experte“ für Kult-Dragqueen Olivia Jones und erzählt neugierigen Touristen Anekdoten aus einem außergewöhnlichen Berufsleben. „Wenn ich den Menschen von meiner Arbeit erzähle, sehe ich die Bühne immer noch vor mir“, sagt Pierron. Und manchmal sei es, als inszeniere er die Stücke in den Gedanken der Menschen noch einmal von neuem. „Ich glaube, die Show lebt in den Köpfen weiter.“

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Zweieinhalb Jahre später sitze ich seit Stunden im Wohnzimmer von eben jenem Jeff Pierron, der mir in seiner mehr als herzlichen Art und mit einem ebenso charmanten französischem Akzent erneut eine Tasse Kaffee anbietet. Selbst das gute Silberbesteck seiner Mutter kommt heute einmal zum Einsatz. Einen so freundlichen Gastgeber wie den langjährigen Choreografen und Mitinhaber des Safaris, erlebt man selten. Es scheint, als hätten diese beiden, der Jeff Pierron von damals und der von heute, so gar nichts miteinander zu tun.
Jeff Pierron an der Großen Freiheit

Jeff Pierron im Herbst dieses Jahres vor seiner ehemaligen Wirkungsstätte (Foto: Schaefer)

„Die letzte Zeit im Safari war sehr schwer“, sagt der heute 66-Jährige, ohne auch nur zu ahnen, dass wir uns zu dieser Zeit bereits einmal begegnet sind. „Ich war nicht mehr ich selbst.“ Die Geschäfte liefen schlecht und Pierron ahnte bereits, dass es mit dem Safari nicht mehr lange gut gehen würde. Während er immer wieder über einen Neustart des Cabarets mit verändertem Konzept nachdenkt, beharrt Chef und Gründer Hans-Henning Schneidereit auf dem Bestehenden. „Das Safari war sein Werk und es war klar, dass er es niemanden überlassen würde. Er wollte es mit ins Grab nehmen.“

Am Ende kommt es, wie es kommen musste: Nur wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes, beschließt Emilia Schneidereit, die Witwe des Verstorbenen, ihre Mehrheitsanteile an dem Live-Sex-Theater zu verkaufen. Pierrons Überlegungen, das Safari mit Hilfe von Olivia Jones und einem neuen Konzept doch noch am Leben zu erhalten, scheitern an den hohen finanziellen und behördlichen Hürden. Am 13. Dezember 2013 gehen an der Großen Freiheit Nr. 24 endgültig die Lichter aus: Der mächtige Elefant über der Straße, der über die Jahrzehnte längst zu einem Symbol des Kiezes geworden war, leuchtet nicht mehr.
“Die Leute wollen nur noch Porno”

An jenem Dezembertag stirbt nicht nur irgendein Laden auf St. Pauli. Für viele St. Paulianer ist es das Ende einer Ära. Denn mit dem Safari geht auch das letztverbliebene Live-Sex-Cabaret seiner Art auf dem Kiez verloren. Wo sich früher noch unzählige Cabarets wie Regina, Tabu, Colibri oder Salambo aneinanderreihten, beherrschen heute vor allem Diskotheken und Billig-Bars das Bild der Straße. Der Wandel vom Rotlicht- zur Partymeile mag auf ganz St. Pauli zu spüren sein – auf der Großen Freiheit ist er unübersehbar.
Die "Grosse Freiheit" in Hamburg mit Leuchtreklame zur blauen Stunde, Foto dpa

Die Große Freiheit vor einigen Jahren bei Nacht. Das Safari existierte damals noch (Foto: dpa)

„Früher schwärmten die Besucher vom verruchten Charme St. Paulis und verglichen die Cabarets und Shows an der Großen Freiheit mit Paris“, sagt Jeff Pierron und lacht. In Zeiten von Youporn und Co. sei die Nachfrage dagegen eine ganz andere. Der Reiz des Geheimnisvollen, des Sündigen und Sinnlichen sei längst verloren gegangen. „Die Leute wollen keine Show mehr außenherum, sie wollen einfach nur Porno.“

Doch als Porno-Regisseur hat sich Jeff Pierron nie verstanden. Der Sex sei immer nur ein Mittel zum Zweck gewesen, um die Show für die Besucher interessanter zu machen. Schmuddelfilme dienten für ihn nie als Vorlage. Als Choreograf versteht er sich als Künstler, ein Ästhet mit dem Blick für die kleinen Details. Bis heute hat Pierron eine Schwäche für Operetten, Musicals und französische Spielfilme, schwärmt für Ava Gardner oder Catherine Deneuve. „Arte“ läuft fast in jeder freien Minute. Doch wie aber landet so jemand in einem „Bumsladen“ (Mopo) auf dem Kiez?

„Am Ende ging es mir immer darum, meinen Mitmenschen etwas zu beweisen.“
Von der Pariser Staatsoper nach St. Pauli

Das beginnt bereits bei seinem Vater, einem streng-konservativen Unternehmer, der im Stadtteil Saint-Denis nördlich von Paris ein kleines Import/Export-Unternehmen betreibt, in dem Jeffs Mutter als junge Sekretärin arbeitet. Als Jeff nach dem Abitur 1968 beschließt, an einer Pariser Universität Geschichte und Geografie zu studieren, ist der Vater hoch auf zufrieden. Doch als der Sprössling die Uni immer mehr vernachlässigt, um sich stattdessen als Statist an der Paris Staatsoper zu verwirklichen, versucht der Vater dem Treiben seines Zöglings schnell ein Ende zu setzen: „Solange du die Füße unter meinen Tisch steckst, machst du, was ich dir sage.“
Jeff Pierron (Foto: privat)

Der junge Jeff Pierron wuchs in Saint-Denis nördlich von Paris auf (Foto: Pierron, privat)

Als Jeff nur wenige Tage später von Zuhause auszieht, ist es der erste Beweis, den der Sohn seinem Vater erbringen will: Ich kann auch ohne dich. Um Geld zu verdienen, jobbt Jeff zunächst weiter als Statist, später als Moderator und Promoter, bevor er sich mit Anfang 20 als Regisseur und Schauspieler dem französischen Tourismus-Unternehmen Club Méditerranée anschließt, das bis heute mehr als 60 Ferienanlagen weltweit betreibt. Eine Tätigkeit, die den jungen Mann um die halbe Welt führt und bei der er immer wieder interessante Menschen kennenlernt. So wie an jenem Herbsttag 1972 in einem Feriendorf in der Karibik.

„Am nächsten Tag saß ich vor der großen Bühne des Clubs und schaute den Proben für die neue Show zu. Mir fiel der Choreograf auf. Ein gutaussehender, junger Mann, sehr talentiert. Mit Ruhe und Überlegenheit setzte er das Programm zusammen. (…) Der junge Mann begann mich zu interessieren. Im Geiste sah ich ihn schon im Salambo. Ich nahm mir vor, ihn bei seiner erfolgreichen Arbeit genauer zu studieren. (…) Je mehr ich dem Choreografen zuschaute, desto sicherer wurde ich mir, dass es genau der Richtige war.“

So schilderte Renate Durand, die Frau des von vielen Medien als „Sex-Papst“ bezeichneten Salambo-Gründers René Durand, ihre erste Begegnung mit Jeff Pierron später in ihrer Autobiografie. Immer wieder versucht die attraktive Frau den jungen Franzosen in der Folgezeit von St. Pauli, vom Salambo und von René zu überzeugen. „Als ich meinen Eltern davon erzählt habe, ahnten sie bereits, um was für eine Art Theater es sich da auf St. Pauli handelt“, sagt Jeff Pierron. „Aber ich war neugierig und wollte beweisen, dass ich keine Angst davor habe.“ Gemeinsam mit zwei Freunden bricht er nur wenige Wochen später nach Hamburg auf.
“Ficken als inszeniertes Kunststück”

Die Große Freiheit in den 70er Jahren ist gesäumt von frivolen Nachtcabarets, die sich dicht an dicht aneinanderreihen und vor deren Türen gut gekleidete Portiers in teuren Anzügen, die vorbeischlendernden Passanten abzufangen versuchen. Zu den bekanntesten und größten Cabarets dieser Zeit zählt ohne Frage das Salambo von René Durand an der Großen Freiheit 39, dem ehemaligen Star Club. „Die Bühne war unglaublich riesig“, erinnert sich Jeff Pierron an seinen ersten Eindruck. „Einige Szenen bestanden aus bis zu 20 Darstellern.“

Liedermacher und Schauspieler Klaus Hofmann fasste das Programm des Salambo später ein seiner Biografie wie folgt zusammen:

„Im Unterschied zu anderen Läden wurde hier alles auf der Bühne gezeigt. Es war Kleinkunst. Ficken als inszeniertes Kunststück oder das, was René dafür hielt. Es gab Orgien, Männer, die immer konnten, Frauen, die von Zwergen geliebt wurden, Nonnennummern, Sadomasogeschichten, und alles im Vaudeville-Stil inszeniert. Sie trieben es zu zweit, zu dritt, in Gruppen, lehnten während des Aktes an Laternen, sangen dabei und boten sich in aufreizenden Posen den ersten Reihen dar.“

Für all das zeichnet sich ab 1972 auch Jeff Pierron mitverantwortlich. Gemeinsam mit René Durand soll der junge Franzose das Programm erweitern und stetig neue Darsteller in die Show miteinbinden. Doch die Suche nach passenden Bewerbern gestaltet sich als schwierig. „René legte Wert auf schöne und große Penisse“, erinnert sich Pierron. Daher sei es anfangs seine Aufgabe gewesen, die Penisgröße potentieller Bewerber zu kontrollieren. „16 Zentimeter waren Mindestmaß.“ Meist habe er die Männer zunächst hinter einen Vorhang geschickt, bis sie soweit waren. „Viele haben vor Aufregung gar keinen hochbekommen, weshalb schnell klar wurde, dass das hier nichts wird.“

Dass er, als ehemaliger Klavierschüler aus einem bürgerlich-konservativen Familienhaus, mit einem Mal in einem Nachtlokal auf St. Pauli die Größe von Geschlechtsteilen inspizieren muss, sei für ihn jedoch kein Problem gewesen. „Ich habe früh meine Erfahrungen gemacht“, sagt Pierron und schweigt geheimnistuerisch. Ein Kind von Traurigkeit sei er jedenfalls nie gewesen, fügt er an, weshalb ihm der selbstverständliche Umgang mit dem Sex schon damals nicht schwergefallen sei.
Rene Durand (Foto: Zint)

“Salambo”-Gründer und “Sex-Papst” René Durand im Kreise seiner Mitarbeiterinnen (Foto: Zint)

Um den Sex sei es ihm jedoch bei der Arbeit nie gegangen. Im Vordergrund habe vielmehr die Dramaturgie des Stückes, die Kostümierung der Darsteller oder die passende Auswahl der Musik gestanden. „Das Stoßen des Mannes musste zum Takt der Musik passen. Wichtig war auch, dass das Paar von jeder Seite einmal zu sehen war. Das Publikum sollte bei ihm erkennen, wie seine Muskeln am Rücken und an den Pobacken sich zusammenziehen. Bei ihr wippten bestenfalls die Brüste noch im Takt der Musik.“

Sein Anfangsoptimismus weicht jedoch schnell, denn die Zusammenarbeit mit Durand gestaltet sich als äußerst schwierig. Der Mann mit dem Schnauzbart, dessen Kopf das Logo des Salambo ziert, gilt als Freigeist, ein verrückter Idealist, der nach dem einen oder anderen Joint die bizarrsten und wahnwitzigsten Ideen entwirft. Sogar eine Sex-Nummer mit einem Esel sei zwischenzeitlich in Planung gewesen. Auch wenn das Stück – angeblich aus Angst vor Tierschützern – am Ende nicht aufgeführt wird, so gehen die Vorstellungen des jungen Choreografen und seines Chefs bisweilen weit auseinander.
Viermal am Abend, fünfmal die Woche

Als Durand Mitte der 70er Jahre aufgrund seiner Vorliebe für opulente Inszenierungen vermehrt in finanzielle Schwierigkeiten gerät, kommt es zu einer ungewöhnlichen Allianz an der Großen Freiheit: Gemeinsam mit Hans-Henning Schneidereit, einem ehemaligen Kapitän, der 1964 das Erotik-Cabaret Safari gründet und in der Folgezeit auf dem Kiez immer weiter expandiert, errichtet Durand an der Großen Freiheit 11 das „Cabaret Salambo“, das vom Ruf des großen Bruders und Namensgebers profitieren soll. Doch die Zusammenarbeit währt nur kurz: Bereits nach gut einem Jahr gehen die beiden ungleichen Geschäftspartner getrennte Wege. „Schneidereit war ein ganz anderer Typ“, erinnert sich Pierron. Ein fleißiger Geschäftsmann sei er gewesen, der großen Wert auf Stil und Etikette gelegt habe. „Das konnte nicht lange gutgehen.“

Am Ende eines monatelangen Rechtstreits bekommt Schneidereit nicht nur das „Cabaret Salambo“ zugesprochen, in dem er kurz darauf das Nachtlokal Alkazar eröffnet, sondern zieht auch Durands langjährigen Chefchoreografen auf seine Seite: „Ich weiß, wieviel sie verdienen. Bei mir bekommen sie das Doppelte“, verspricht der gewiefte Geschäftsmann dem jungen Franzosen bei einem Gespräch im September 1976. Ein Angebot, über das Pierron nicht lange nachdenken muss.
Colibri an der Großen Freiheit (Foto: Pierron)

Das ehemalige “Colibri” an der Großen Freiheit (Foto: Pierron, privat)

Nachdem der Choreograf zunächst im neu eröffneten Cabaret Alkazar Regie führt, übernimmt er wenig später auch die künstlerische Leitung im Colibri und im Safari. Statt sich wie bisher der Inszenierung ausschweifender Orgien hinzugeben, konzentriert sich Pierron dabei zunehmend auf die Interpretation von Musicals, Operetten und Theaterstücken, die er mit nur wenigen Darstellern umzusetzen versucht und bei denen er sogar selbst ab und zu in eine der Rollen schlüpft. Die Oper „Carmen“ gehört zu seinen ersten Interpretationen: „Es war eine aufwendige Inszenierung mit sehr viel Handlung. Ich habe es immer gehasst, wenn bereits ein Bett auf der Bühne stand und jeder wusste, was gleich passiert.“

Immer öfter versucht der Choreograf den Sex daher in kleinen Theaterepisoden zu verpacken, deren Länge 20 Minuten nur selten überschreitet. Ergänzt wird die Show dabei immer wieder von kleineren Tanz- und Solonummern, damit die Paare zwischen den Auftritten Zeit zur Regeneration bekommen – insbesondere die männlichen Darsteller, die mindestens viermal am Abend, an fünf Tage die Woche auf der Bühne ihren Mann stehen müssen. „Natürlich ist der Mann nicht jedes Mal zum Orgasmus gekommen“, verrät Jeff Pierron und schmunzelt. Auf Dauer wäre das auch keinem zumutbar gewesen. „Wenn du mehrmals die Nacht einen Orgasmus hast, drehst du irgendwann durch.“
Show in einem Cabaret an der Großen Freiheit (Foto: Zint)

Showeinlage in einem Cabaret an der Großen Freiheit (Foto: Zint)

Anders als viele Außenstehende es vielleicht erwarten würden, ist das Kopulieren vor Publikum für die Darsteller alles andere als ein Vergnügen. Der Sex an sich spielt nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr verlangt der Choreograf von seinem Team eiserne Disziplin, wenn es darum geht, Bewegungen richtig auszuführen oder die Stimme gezielt einzusetzen. Sein zum Teil übertriebener Perfektionismus ist bei seinen Mitarbeitern gefürchtet. „Unser Choreograf ist auch schon mal ausgeflippt“, sagen ehemalige Mitarbeiter über Jeff Pierron, der auch vor harten Worten nicht zurückgeschreckt habe. „Du bist so sexy wie ’ne Tür“, sei dabei noch das Netteste gewesen.

„Ich war oft sehr hart“, sagt Jeff Pierron heute selbstkritisch. „Es hat mich verletzt, wenn sie meine Inszenierungen nicht so umgesetzt haben, wie ich es mir eigentlich vorgestellt hatte.“ Tatsächlich aber muss der ehrgeizige Regisseur seinen eigenen Anspruch, den Charme des Pariser Etablissements nach St. Pauli bringen zu wollen, immer wieder zurückschrauben. Denn letztendlich wollen auch die Besucher auf St. Pauli damals schon vor allem eines sehen: Sex, Sex und nochmal Sex.
“Biene Maja” und der Anfang vom Ende

Anders als heute lassen die Touristen in den 80er Jahren dafür noch eine Menge Geld springen. Die Cabarets an der Großen Freiheit laufen gut – sofern sie nicht gerade mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Denn immer wieder geraten Live-Sex-Theater wegen des Verdachts der Förderung der Prostitution ins Visier der Polizei. Dem Zuspruch tut das jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: Auch Prominente wie Curd Jürgens, Udo Lindenberg oder James Last zählen zu den illustren Gästen, die in den Cabarets auf der Großen Freiheit die eine oder andere Flasche Champagner springen lassen.

Die Geschäfte laufen so gut, dass Schneidereit sein Cabaret Safari kurz nach der Wende für gut eine halbe Million Mark komplett sanieren lässt. Jeff Pierron übernimmt dabei die Funktion eines Innenarchitekten, der das Nachtlokal nach seinen Vorstellungen gestalten soll. „Du machst das schon, mein Junge“, erinnert sich der 66-Jährige an die Worte seines ehemaligen Chefs, der manchmal wie ein Vater zu ihm gewesen sei. Im Jahr 2000 macht Schneidereit seinen Choreografen sogar zum Mitgesellschafter und verkauft ihm 49 Prozent seiner Firma.
Jeff Pierron Colibri

Show im Colibri in den 80er Jahren. Jeff Pierron als Darsteller (l.) auf der Bühne (Foto: Pierron, privat)

Das nahende Internet-Zeitalter mit seinem allgegenwärtigen Totalsex setzt die Branche auf St. Pauli jedoch zunehmend unter Druck. Als das Cabaret-Sterben an der Großen Freiheit bereits in vollem Gange ist und Salambo, Tabu oder Regina längst Geschichte sind, träumt Jeff unbeirrt von einem Neuanfang, von einer neuen Ära der Erotik-Unterhaltung auf dem Kiez. „Ohne die Bewahrung seiner Tradition als Vergnügungsviertel mit viel Sex und Erotik hat St. Pauli keine Zukunft“, prophezeit er im Jahr 2000 in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt. „Daher müssen wir uns jetzt erneuern, zeitgemäßer und überraschender werden ohne die einmalige Atmosphäre im Safari zu zerstören.”

Doch statt neue Investitionen zu tätigen, um das Programm dem Wandel der Zeit anzupassen, dreht Schneidereit, der gesundheitlich angeschlagen ist und sich zunehmend aus dem Geschäft zurückzieht, den Geldhahn zu. Das Verhältnis der beiden ehemals eng befreundeten Partner kühlt in der Folgezeit deutlich ab. Erst recht, als Schneidereit seinen Choreografen dazu anhält, das Stück „Biene Maja“ im Abendprogramm aufzunehmen. Eine Anweisung, der Pierron nur äußerst widerwillig folgt. „Das hatte mit Erotik und Sinnlichkeit nichts mehr zu tun“, schimpft Pierron. „Die Leute haben sich einfach nur kaputtgelacht.“ Es ärgert ihn spürbar, dass das Safari bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung häufig nur auf dieses eine Stück reduziert wird.
Live Sex auf der Bühne im Salambo (Foto: Zint)

Bis in die 90er Jahre lief das Geschäft mit dem Live-Sex auf der Bühne durchaus erfolgreich (Foto: Zint)

Das Cabaret an der Großen Freiheit kann jedoch auch Willi mit seinem dicken Stachel nicht mehr retten. Es fehlt das Geld für neue Investitionen, für Dekoration und Kostüme. In der Folge kehren immer mehr Mitarbeiter dem Safari mehr oder weniger freiwillig den Rücken zu und versuchen ihr Glück in anderen Branchen. Viele ahnen bereits, dass das kein gutes Ende nehmen wird. Neuen Nachwuchs findet Jeff Pierron auf dem Kiez, der nun nicht mehr von Cabarets und Stripclubs, sondern von Diskotheken und Bars gesäumt ist, kaum mehr. Für 70 Euro netto die Nacht will sich kaum einer mehr Willis Flügel auf den Rücken schnallen.

Damit nimmt auch die Qualität des Programms spürbar ab. „Die Show war am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst“, sagt Jeff Pierron selbstkritisch. Bis heute schämt er sich für diese letzte Zeit im Safari und ein wenig wohl auch für sich selbst. „Ich war am Boden zerstört, fühlte mich allein und überfordert mit der ganzen Situation.“ Um die wenigen Gäste zu besänftigen, bietet er am Ende sogar Führungen durch das Safari an. Der Blick in die Garderobe als Entschädigung für eine Show, die nur noch an ein Trauerspiel erinnert. Es war wohl einer jener Abende als wir uns zum ersten Mal begegneten.
“Ich kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen”

Mehr als zwei Jahre sind inzwischen vergangen. Jeff Pierron steht vor den verschlossenen Türen des „Safari Bierdorf“ und blickt in das dunkle Innere des Raumes. Bis auf einen gusseisernen Schriftzug, der heute in der hinteren Ecke seines Wohnzimmers steht, hat er bei seinem Auszug aus dem Gebäude nichts mitgehen lassen. Alles Übrige wurde von den neuen Betreibern inzwischen längst entsorgt. An die ehemals plüschige-kitschige Inneneinrichtung erinnert hier nichts mehr. Nur der leuchtende Schriftzug mit dem Elefanten prangt wie eh und je über der Straße.

Doch in Pierrons Gesicht spiegeln sich weder Trauer noch Verbitterung. „Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen“, sagt der 66-Jährige gelassen. „Aber ich kann versuchen, die Erinnerung wachzuhalten.“ Seit einigen Monaten arbeitet er daher als „Kiez-Experte“ für Kult-Dragqueen Olivia Jones und erzählt neugierigen Touristen Anekdoten aus einem außergewöhnlichen Berufsleben. „Wenn ich den Menschen von meiner Arbeit erzähle, sehe ich die Bühne immer noch vor mir“, sagt Pierron. Und manchmal sei es, als inszeniere er die Stücke in den Gedanken der Menschen noch einmal von neuem. „Ich glaube, die Show lebt in den Köpfen weiter.“
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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