Euphemismen von George Orwell bis Heute

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Euphemismen von George Orwell bis Heute

Beitrag von ehemaliger_User »

Suite 101.de - 09.09.2010

Von Christine Höfig

Euphemismen bestimmen unseren Sprachgebrauch. Welche Folgen hat das für unsere Gesellschaft? Sind wir näher an Orwells Anti-Utopie, als wir glauben?

Im »War on Terror« führten die USA eine »präventive Verteidigungsmaßnahme« gegen den Irak durch. Große Firmen stellen Mitarbeiter frei und Preise werden angepasst. Man könnte auch sagen, dass die USA einen Angriffskrieg gegen den Irak starteten, dass Angestellte entlassen und die Preise erhöht wurden, aber das würde ja gleich die wahre Bedeutung ersichtlich machen.

Die meisten von uns haben »1984« in der Schule gelesen. In diesem Roman beschrieb George Orwell eine Gesellschaftsordnung, die auf der totalen Überwachung beruht. Nicht nur durch die omnipräsenten Kameras werden die Bürger Ozeaniens beobachtet, auch die neue Sprache Newspeak oder in der Übersetzung Neusprech dient der Kontrolle: »Sie hatte nicht nur den Zweck, ein Ausdrucksmittel für die Weltanschauung und geistige Haltung zu sein, die den Anhängern des Engsoz allein angemessen war, sondern darüber hinaus jede Art anderen Denkens auszuschalten.«(1)
Sprache formt das Denken

Gemäß der Sapir-Whorff-Hypothese wird die Art und Weise, wie man denkt, stark durch die Grammatik und den Wortschatz der Muttersprache bestimmt. Sprache formt also, vereinfacht gesagt, das Denken.

Ein großer Teil des Wortschatzes von Neusprech in »1984« besteht aus Euphemismen: »So bedeuteten z.B. Worte wie Lustlager (= Zwangsarbeitslager) oder Minipax (= Friedensministerium = Kriegsministerium) fast das genaue Gegenteil von dem, was sie zu besagen schienen.« Auch Abkürzungen sind beliebt: »Im Wahrheitsministerium z. B. wurde die Registratur-Abteilung, in der Winston Smith beschäftigt war, Regab genannt, die Literatur-Abteilung Litab, die Televisor-Programm-Abteilung Telab usw. Das geschah nicht nur aus Gründen der Zeitersparnis. Schon in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts waren solche zusammengezogenen Worte charakteristisches Merkmal der politischen Sache gewesen; wobei es sich gezeigt hatte, daß die Tendenz, solche Abkürzungen zu benutzen, in totalitären Ländern und bei totalitären Organisationen am ausgeprägtesten war. (Nazi, Gestapo, Komintern, Agitprop).«(1)

Was hat das alles mit uns zu tun? Nun, Euphemismen gibt es auch heute zu Haufen. Facility Manager für Hausmeister, Reinigungskraft für Putzfrau... Und was hat ein Industriepark eigentlich mit Natur und Bäumen zu tun? Vor wenigen Jahren wurde das Arbeitsamt umbenannt in die Bundesagentur für Arbeit. Ein Amt verwaltet nur die Arbeit, eine Agentur vermittelt sie – dieser Eindruck soll zumindest erweckt werden. Dass die Agentur für Arbeit auch nur verwaltet, zeigen alle Arbeitslosenstatistiken: Die Arbeitslosenquote ist in den letzten Jahren weiterhin gestiegen.
Deutschland wird am Hindukusch verteidigt

Kollateralschäden bedeutet, dass bei einem Angriff auch zivile Ziele getroffen wurden. Was wiederum bedeutet, Menschen wurden getötet. Aber wer denkt an Tote, wenn er das Wort Kollateralschäden hört? In der Sprache des Militärs wird die wahre Bedeutung oft verschleiert, indem Euphemismen eingesetzt werden, die Frieden und Verteidigung suggerieren. Der Begriff der Rüstung zum Beispiel lässt an eine defensive Haltung denken, als hätte man eine Ritterrüstung zur Verteidigung an. Der deutsche Ex- Verteidigungminister Peter Struck sagte einmal, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werde – somit legitimierte er den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. (2)

Bekannt ist natürlich auch der Begriff »Political Correctness« aus der Frauenbewegung. Gemäß der oben genannten Sapir-Whorf-Theorie war deren Sinn und Zweck ursprünglich, durch »politisch korrekte« Sprache auch die Denkweise zu ändern, und somit Gleichstellung der Geschlechter, Rassen und so weiter in den Köpfen der Menschen zu verankern. So wurden Begriffe etabliert wie anders begabt für behindert und visuell herausgefordert für blind. Kritiker der Political Correctness beanstanden zum einem die damit verbundene Verkomplizierung der Sprache, aber auch dass politisch korrekte Sprache verwendet werden kann, um Missstände zu verschleiern oder zu verharmlosen. Manche gehen sogar soweit, in der Political Correctness einen Angriff auf die Meinungsfreiheit zu sehen.

Euphemismen und negative Assoziationen

Mit Euphemismen kann man also Missstände verschleiern, die wahre Bedeutung von Worten bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Zumindest bis die sogenannte »Euphemismus-Tretmühle« einsetzt. Diese sprachwissenschaftliche Theorie von Steven Pinker besagt, dass jeder Euphemismus irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängers annimmt. In diesem Zusammenhang kann man zum Beispiel das Wort Behinderter nennen, das das Vorgängerwort Krüppel ersetzen sollte, inzwischen aber dieselben Assoziationen hat. Deswegen wird ja mittlerweile versucht, behindert mit »anders befähigt« oder »anders begabt« zu ersetzen. Oft werden Euphemismen aber auch als zynisch empfunden. Macht man sich zum Beispiel erstmal klar, dass eigentlich Folter gemeint ist, wenn die CIA von innovativen Verhörmethoden spricht, kann man das nur noch als groben Hohn sehen.
Doppeldenk oder Zwiedenken

Eine weiterer interessanter Aspekt in George Orwell’s »1984« ist die Methode des Doppeldenk oder in manchen Übersetzungen Zwiedenken. Um keine Gedankenverbrechen zu begehen, haben die Partei-Mitglieder gelernt, zwei Dinge gleichzeitig zu glauben: »Zu wissen und nicht zu wissen, sich des vollständigen Vertrauens seiner Hörer bewusst zu sein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte, gleichzeitig zwei einander ausschließende Meinungen aufrechtzuerhalten, zu wissen, dass sie einander widersprachen und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik zu Feld zu führen; die Moral zu verwerfen, während man sie für sich in Anspruch nahm; zu glauben, Demokratie sei unmöglich, die Partei jedoch die Hüterin der Demokratie; zu vergessen, was zu vergessen von einem gefordert wurde, um sich dann, wenn man es brauchte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, und es hierauf erneut prompt wieder zu vergessen; vor allem, dem Verfahren selbst gegenüber wiederum das gleiche Verfahren anzuwenden«.
Gibt es Vergleichbares heute?

Dr. Thilo Weichert, der Landesbeauftragte für Datenschutz Schleswig-Holstein und Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Kiel, meint ja. In seinem Artikel »Technik, Terror, Transparenz - Stimmen Orwells Visionen?« schreibt er »Wir sind uns oft wenig bewusst, wie weit wir uns das von Orwell beschriebene »Zwiedenken« zu eigen gemacht haben. So wird es selbst in Datenschützerkreisen teilweise für anrüchig angesehen, statt von der »akustischen Wohnraumüberwachung« vom »Lauschangriff« zu sprechen. Ich bekenne freimütig, dass ich mir in der Regel auch keine Gedanken mehr mache, von »Terrorismusbekämpfungsgesetzen« zu sprechen, was unter diesem offiziellen Namen nach den Anschlägen am 11. September 2001 in Deutschland in Kraft gesetzt wurde, wohl wissend, dass die meisten der dortigen Regelungen nichts mit Terrorismusbekämpfung zu tun haben, wohl aber sehr viel mit Überwachung generell beziehungsweise mit Ausländerüberwachung speziell.«
Feindbilderwechsel

Weichert analysiert die politische Entwicklung der letzten 40 Jahre. Im kalten Krieg war das Weltbild einfach strukturiert: Der Feind stand im Osten, der Kommunismus und Russland wurden als die Gefahr ausgemacht. Mit der Entspannungspolitik Brandts gegenüber dem Ostblock bekamen diese Feindbilder erste Risse, bis sie mit dem Fall der Mauer 1989 völlig zusammenbrachen. Damit fehlte zunächst das Feindbild und in den 1990er Jahren trat eine Periode der Entspannung im Hinblick auf staatliche Überwachung ein, so Weichert.

Nach dem 11. September wurde sofort von Amerika das neue Feindbild des islamischen Selbstmordattentäters übernommen. Russland, der ehemalige Gegner, gehört nun zu den Verbündeten im Kampf gegen die »Achse des Bösen«. In Orwell’s »1984« werden die Feindbilder buchstäblich in Sekunden ausgetauscht, bei uns dauerte es wenigstens einige Zeit.

Sicherheitsmassnahmen schränken laut Weichert mehr und mehr die Freiheit des Einzelnen, besonders von ausländischen Mitbürgern, ein. Um Freiheit und Demokratie zu schützen, werden die Rechte mehr und mehr eingeschränkt, mehr und mehr Überwachungsmaßnahmen eingesetzt – wenn das kein exzellentes Beispiel für Doppeldenk ist. Es gibt aber auch alltäglichere Beispiele für Doppeldenk-Mechanismen. Natürlich ist jeder gegen Kinderarbeit, Ausbeutung der Einwohner der Dritten Welt, Massentierhaltung. Dennoch ist geiz geil, wird billige Ware gekauft und dabei vergessen, dass man damit Herstellungsbedingungen unterstützt, gegen die man gerade noch protestiert hat.
1984 und die Welt von Heute

Orwell lag also gar nicht so daneben mit seinem »1984«. Sicherlich, wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, werden nicht ständig von Kameras beobachtet und müssen nicht befürchten, dass uns jederzeit die Gedankenpolizei abholt und ins »Ministerium für Liebe« (dem Ort, wo der Protagonist Winston gefoltert wurde) bringt. Ja, in der von Orwell beschriebenen Welt wäre allein das Schreiben dieses Artikels ein Gedankenverbrechen gewesen und würde auf’s Schärfste geahndet werden.

Die Ähnlichkeiten beschränken sich auf die subtileren Methoden der Verdrängung. Sachen, die nicht schön sind, werden eben beschönigt – Kollateralschaden, präventative Angriffsmassnahme, innovative Verhörmethoden. Diese Euphemismen wurden vermutlich tatsächlich von den Machthabenden gezielt in die Welt gesetzt, doch werden sie auch gerne von den Menschen übernommen, denn sie helfen, Missstände zu verdrängen. Was nicht sein darf, wird geleugnet, sonst müsste man sich ja darüber aufregen und etwas dagegen tun. So kann man sich der Verantwortung entziehen, indem man bereitwillig die Euphemismen schluckt und vermeidet, über die wahre Bedeutung nachzudenken.

Also – Ohren auf im Sprachgebrauch.
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