Musiksoziologie im Groß-Bordell - Konzert im Leipziger Haus am Wasserturm
Leipzig. Zweimal volles Haus verzeichnete das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig am Wochenende beim ersten Leipziger Bordellkonzert im Eros-Center am Wasserturm. In der Reihe "FreiZeitArbeit", brachte FZML-Kopf Thomas Heyde verhältnismäßig neue Musik in die Table-Dance-Lounge des Groß-Bordells. Die Aufmerksamkeit, die er damit erregte, war erheblich, der künstlerische Mehrwert blieb gering.
"Man muss hier auf jedes Wort aufpassen", sagt Thomas Heyde auf dem Steg, der ein Tisch sein soll, und auf dem sonst mäßig bis nicht bekleidete Mädels, Damen heißen sie hier, Abend für Abend (außer Sonntag) Messingstangen polieren. Recherchiert habe er, vieles gelernt, daran sollten nun alle teilhaben können. Darüber freut sich die Hausherrin, "Assistentin des großen Bosses", weil die Veranstaltung zur Enttabuisierung beitrage, dazu, Vorurteile abzubauen, als normal anzusehen, was die normalste Sache der Welt sei. Überdies ihr ältestes Gewerbe.
Offen beginnt da die Chefin, die so gar nichts von einer Puffmutter hat, zu plaudern. Von den Mädchen, die sich einmieteten und auf eigene Rechnung arbeiteten. Manche zum Broterwerb, andere für den Nebenverdienst, alle, das verstehe sich ja von selbst, ohne Zwang.
Das könnte interessant werden, stünde Heyde nicht wie ein aus dem Habit geschossener Ministrant auf der Bühne, kündeten seine Fragen von Interesse und nicht nur von der Notwendigkeit, etwas zu sagen, bei einem Konzert an einem so außergewöhnlichen Ort. Musik und Bordell, sie könnten, ahnt man, durchaus gegenseitig sich bereichern. Drum sind die Erwartungen so groß wie die Kameras und Journalisten-Blöcke zahlreich.
Doch die Rechnung geht nicht auf. Selbst Heyde gibt sich vor Beginn der Spätvorstellung ein wenig enttäuscht von der gerade beendeten Premiere: "Ich hätte mehr Interaktion zwischen den Tänzerinnen und dem Publikum erwartet. Das lag sicher an der auch für die Mädels ungewohnten Öffentlichkeit.
Die sind das ja nicht gewohnt, vor Kameras zu tanzen und vor einem so ganz anderen Publikum." Was sicher stimmt. Und, bliebe zu ergänzen, das Publikum ist es nicht gewohnt, dass Tätowierte mit obenrum nix an sich mit drallen Schenkeln an der Stange festklemmen, derweil zwei exzellente Schlagwerker (Gerd Schenker und Thomas Winkler) sich mit gespielter Ungerührtheit durch Áskell Mássons "Rhythm Strip" dengeln.
Dabei kann dies noch als einer der wenigen Höhepunkte des Abends gelten, weil hier der Versuch unternommen wird, das Bordell und die Musik in Kontakt treten zu lassen. Der zweite kommt von Heyde selbst, der für Fagott (fabelhaft: Kristian Petkov), Elektronik, eine Tänzerin und einen Laiendarsteller eine Szene mit dem Titel "Wellen vom Untergrund" zusammengestellt hat. Das stärkste Stück des Abends. Was bei Lichte besehen keine allzu große Kunst ist. Denn der größte Teil vom Rest ist entweder schlechte Musik oder schlecht vorgetragen oder beides.
Schon bei Wilfried Krätzschmars öder "sérenade noir" "solitude III", während der sich Schenker an der Großen Trommel abarbeitet - es ist das zweite Stück erst des anderthalbstündigen Programms -, meldet sich im hinteren Eck die Stimme der Vernunft zu Wort: Gekicher, Befremden von einem Herrn mittleren Alters, der offenkundig einen schönen Abend mit mehreren Damen aus dem benachbarten Laufhaus geplant hat, die kulturelle Aufwertung via Musik in Kauf und Anspruch nahm und sich nun wundert, was so alles als solche durchgeht.
Sein verhalten, aber deutlich artikuliertes Befremden ist symptomatisch - und es ist beiderseitig. Personal und Stammkundschaft finden nicht zur Neuen Musik, sondern ihre Vorurteile bestätigt. Die Musikerinnen kommen nicht mit dem klar, was Heyde euphemistisch "die sinnliche Aura des Raums" nennt - eines groß geratenen Reihenhaus-Party-Kellers mit Disco-Kugeln, Schwarzlichtröhren und viel rotem Plüsch. Die Musiker tun betont so, als sei nirgends nichts Besonderes nicht.
Und wer hier einfach nur seinen normalen Job machen möchte während der "FreiZeitArbeit" der Anderen, ärgert sich über das im Angesicht phantasievoll ausgepreister Getränke sehr zurückhaltende Konsumverhalten der Avantgarde-Interessenten, die Teil werden einer musiksoziologischen Versuchsanordnung, der auch mit viel kuratorischer Deutungs-Lyrik kaum Sinnhaftes abzugewinnen ist.
So bleibt man sich fremd, tut unabhängig voneinander, was man immer macht - nur schlechter. Und es bleibt das schale Gefühl, einem gewollten, einem konstruierten Event beigewohnt zu haben, dessen prinzipiell vielversprechende Papierform nicht in die Realität findet. Nicht finden kann. Weil auch die beste (und darum handelt es sich im konkreten Falle eher nicht) Idee nichts taugt, wenn bei der Umsetzung nicht ein Mindestmaß an Professionalität waltet.
Entsprechend mau fällt der Applaus aus. Entsprechend wenige der zum Getränk gereichten Spielgeld-Dollars finden ihren Weg von der Konzertgängerhand hinters Höschen-Gummi. Entsprechend schnell setzt der allgemeine Aufbruch ein. Die Chefin immerhin freut sich im Anschluss über reges Interessen an den Führungen durchs Laufhaus. Und da blitzt einen Moment lang die Vision auf, dass es etwas hätte werden können mit den Grenzüberschreitungen, der Enttabuisierung, der Sinnstiftung des ersten Bordellkonzerts des Forums Zeitgenössischer Musik Leipzig.
Vielleicht bietet dessen Kooperation mit Centraltheater und Skala mehr. Beide laden für den 4. bis 6. Dezember zum "Festival der erotischen Musikkultur". Da gibt's zum Beispiel erotische Videos "vibrierende Sitzkissen und Kleenex inklusive". Womit die Stoßrichtung präzise umrissen wäre.
Peter Korfmacher
© DNN-Online, 24.11.2009, 20:53 Uhr
Quelle: http://www.dnn-online.de/aktuell/content/117634.html
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1. Leipziger Bordellkonzert
> ich lernte Frauen zu lieben und zu hassen, aber nie sie zu verstehen <