Viktoria – A Tale of Grace and Greed

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
Benutzeravatar
fraences
Admina
Admina
Beiträge: 7426
Registriert: 07.09.2009, 04:52
Wohnort: Frankfurt a. Main Hessen
Ich bin: Keine Angabe

Viktoria – A Tale of Grace and Greed

Beitrag von fraences »

«Für die Frauen war ich ein Freier»
Interview Der Zürcher Regisseur Men Lareida zeichnet im Film «Viktoria» den Weg einer ungarischen Prostituierten nach. Die Recherche habe ihn dazu gebracht, Sexarbeit als Beruf anzusehen und zu respektieren.
Trailer von «Viktoria - A Tale of Grace and Greed». Quelle: Youtube.
12
Mit Men Lareida sprach David Sarasin

Sie haben beinahe sechs Jahre zum Thema Prostitution in Zürich ­recherchiert, in einem eher ­verschwiegenen Milieu. Wie kamen Sie an die Personen heran?
In Zürich hat man irgendwann so um 2007/2008 auf der Strasse immer mehr Frauen Ungarisch sprechen hören. Wir wussten zuerst gar nicht, was das zu bedeuten hatte. Wir haben aus einer gewissen Naivität heraus mit der Recherche begonnen. Meine Frau ist Ungarin, das hat sehr vieles erleichtert.

Wie begegneten Sie den Frauen?
Mir taten sie leid. Eine Reaktion übrigens, die ich auch in meinem Umfeld oft beobachtete. Im Gespräch mit den Frauen ist mir aber aufgefallen, dass sie mein Mitleid keine Sekunde lang suchen. Im Gegenteil: Einige waren oft stolz auf das viele Geld, das sie in der Schweiz verdienten. Das hat mein Denken verändert.

Inwiefern?
Ich versuchte, fortan nicht mehr alles durch meine Mittelstandsbrille wahrzunehmen. Die Recherche zum Film hat mich dazu gebracht, dass ich Sexarbeit als Beruf ansehe und respektiere.

Also tut man den Frauen Unrecht, wenn sie einem leidtun?
Die Frauen aus dem Gewerbe verdienen selbst auf dem Strassenstrich – der niedersten Form von Prostitution – bis zu 1000 Franken pro Nacht. Diese Frauen könnten sich teilweise eine Loge in der Oper kaufen, wenn sie denn wollten. Sie könnten im Flieger in die USA neben Bankern sitzen . . . Bloss hätten sie weniger Probleme bei der Einreise als die Bankangestellten.

In Ihrem Film spielen viele ­Laiendarsteller mit einem Roma-­Hintergrund. Wo haben Sie die Frauen getroffen?
Als Mann hätte ich keine Chance gehabt bei den Frauen auf der Strasse. Für sie bin ich ein Freier, wie jeder andere Mann auch. Das Misstrauen gegenüber Männern ist sehr grundsätzlich und auch begründet. Mit meiner Frau fuhr ich oft im Zug die Strecke Zürich–Budapest, da war die Stimmung entspannter. Wir konnten dort zum ersten Mal länger mit den Frauen reden.

Worüber?
Viele nahmen die Reise in die Schweiz zum ersten Mal auf sich. Ihre Erwartungen waren riesig. Wir erzählten ihnen, wie Zürich so tickt, sie erzählten uns von ihren Leben. Bei der Rückreise von Zürich nach Budapest sahen wir ein anderes Bild. Einige Frauen waren völlig ausgelaugt. Die stehen ja auch bei Minus zehn Grad fast ohne Kleidung an der Strasse, nur dank der Drogen spüren sie nichts. Was aber auch immer wieder zu beobachten war: Viele protzten mit ihrem verdienten Geld.

Das klingt selbstbestimmt. Es gibt daneben aber auch Menschenhandel und ­aufgezwungene Prostitution.
Natürlich. Ich habe aber viele Frauen ­getroffen, die zwar gedrängt von den ökonomischen Umständen in die Schweiz kamen, aber selber über ihr Schicksal entschieden. Ein Lehrer verdient in Ungarn rund 500 Euro pro Monat – weniger als gewisse Sexarbeiterinnen in einer Nacht. Was den Menschenhandel betrifft, ist es schwierig, die Täter dingfest zu machen. Das sind teilweise Familienmitglieder. Manchmal klagt auch bloss die eigene Mutter, wenn die Tochter kein Geld mehr aus der Schweiz mitbringt.

Wie sind Sie in diesem kriminellen Umfeld zurechtgekommen?
Als ich zum ersten Mal mit meiner Hauptdarstellerin zum Sihlquai fuhr, um ihr den Drehplatz zu zeigen, ging es keine Minute, bis ich von übel dreinblickenden Männern umzingelt war, die sich irgendwo in den Büschen versteckt hatten. Ich habe ihr Revier gekreuzt und konnte nur noch zwischen Abhauen oder Faustschlägen wählen. In diesen Kreisen herrschen andere Gesetze.

Wie sind Sie damit fertig geworden?
Ich habe viel gelernt: Beim Casting für den Zuhälter haben sich einige echte Zuhälter gemeldet. Einer kam rein und sagte, er sei der richtige Mann für den Film, weil er Zuhälter sei. Ich sagte, ich wolle nichts mit ihm und seinem Umfeld zu tun haben. Er fragte, wieso, ich drehe doch einen Film über Leute wie ihn. Also liess ich mich darauf ein. Ich verurteile Zuhälter, diese Männer aber sehen in ihrem Job kein Unrecht.

Auch wenn die Zuhälter eine ­Täterrolle einnehmen, gäbe es über sie eine Geschichte zu erzählen.
Klar. Der Unterschied ist aber: Zuhälter wären alleine nicht überlebensfähig. Die Frauen dagegen kommen in ein fremdes Land und schlagen sich mit Arbeit durch. Die Typen pumpen nur ihre Muskeln auf, spielen Karten und verkümmern dabei. Ausser dreinschlagen haben sie oft wenig Fähigkeiten.

Die Frauen sind also spannender.
Ja, weil sie sich selbstständig hochkämpfen. Als Viktoria zum ersten Mal verdient, leuchten ihre Augen. Geld steigert ihren Selbstwert – das ist auch bei uns so.

Sie argumentieren oft ökonomisch. Wie steht es um den emotionalen Aspekt?
Jede Frau hat ein eigenes Verhältnis zu ihrem Körper und zu dieser Art von ­Arbeit. Einige haben extrem Mühe, andere dagegen fällt es leichter. Ich habe beobachtet, dass gewisse eine Art Schalter besitzen, den sie umlegen können. Sie rechtfertigen ihre Tätigkeit mit der Familie, die sie ernähren müssen.

Im Film können die Frauen miteinander über ihre Probleme reden und verlieben sich. Das wirkt geschönt.
Es ist ein Film, und der braucht eine ­Geschichte. Aber warum sollte das in dem Milieu nicht auch passieren? Mit der Geschichte möchten wir zeigen, dass diese Frauen so normal sind wie die Frauen bei uns. Also beschäftigen sie sich auch mit Liebe, mit Enttäuschungen, mit Sehnsüchten. Der Film ist in erster Linie eine Reaktion von uns auf eine einseitige mediale Darstellung von Sexarbeiterinnen.

Da es keine Orte gibt, an denen man sich trifft, gibt es wenig Gelegenheit dazu, dieses Bild zu revidieren.
Man muss dafür einen Effort leisten, denn die Frauen werden von den Zuhältern gut abgeschottet. Mir ist der Zugang auch dank meiner Recherche gelungen. Letztes Jahr am 1. Mai haben meine Frau und ich mit einer jungen Romni das Fest auf der Kasernenwiese aufgesucht. Die Frau wusste noch nicht einmal, dass es eine solche Grünfläche im Quartier gibt, auch wenn sie nur ein paar Strassen entfernt davon arbeitet. Durch den Kontakt kriegen sie vielleicht etwas Normalität in ihren Alltag.

Wie denken Sie über die neuen ­Verrichtungsboxen in Altstetten?
Ich war am Tag der offenen Tür vor Ort und habe mir sagen lassen, dass die Situation durch diese Einrichtung besser geworden sei. Alles ist sauberer und weniger gefährlich. Das ist natürlich zu begrüssen. Ich höre aber auch Stimmen von Frauen, die sagen, dass sie heute viel weniger verdienen als früher.

Im Film gibt es heftige Sexszenen, die an Vergewaltigung grenzen. Ein wahrer Vorfall?
Ja. Wie auch die Gewalt der Zuhälter gegenüber den Frauen.

Einmal fordert eine Frau im Film den Zuhälter auf, andere Frauen zu schlagen.
Das ist interessant. Die Capo-Frauen sind jene, die zwischen den Sexarbeiterinnen und dem Zuhälter stehen, sie kümmern sich auf der Strasse um die Mädchen – Männer würden da nur stören. Diese Frauen sind oft ruchlos und zumindest indirekt gewalttätig.

Sie haben zuvor Filme über einen Boxer und über den Schweizer Rennfahrer Jo Siffert gedreht. Wo sehen Sie den Zusammenhang dieser Geschichten?
(Pause) Vielleicht den, dass alle diese Filme von Personen handeln, die mit ihrem Schicksal hadern und versuchen, mehr aus ihrem Leben herauszuholen.

Warum sollte man «Viktoria» sehen?
Weil man diesen Frauen 90 Minuten widmen sollte. Vielleicht werden sie irgendwann zum Bestandteil unserer Gesellschaft. Diese Frauen wissen nämlich verdammt viel über Männer und über Macht. Ich würde sie gerne in einer Talk­runde am Fernseher sehen.

«Viktoria – A Tale of Grace and Greed» läuft ab morgen im Zürcher Kino Movie 1.


http://mobile2.tagesanzeiger.ch/articles/31526175


Der Kampf um Respekt
Mit dem bewachten Strichplatz in Altstetten soll den Prostituierten ein sichereres Umfeld geboten werden. Viele der rund 20‘000 Sexarbeiterinnen in der Schweiz kommen aus Osteuropa, sind Roma, die sich einen Weg aus der Armut erhoffen. Der preisgekrönte Schweizer Spielfilm «Viktoria – a Tale of Grace and Greed» handelt vom Schicksal einer jungen Roma– ein Film der trotz Schliessung des Strassenstrich in Zürich aktueller ist, denn je.

http://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video ... ffb1004c2b
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

*****
Fakten und Infos über Prostitution