Artikel in der Stuttgarter Zeitung

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Tilopa
Silberstern
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Artikel in der Stuttgarter Zeitung

Beitrag von Tilopa »

In der Stuttgarter Zeitung vom 25.5. fordert eine Adrienne Braun die Re-Kriminalisierung der Sexarbeit zur normativen Durchsetzung ihrer sexualfeindlichen Ideologie.
Dabei entblödet sie sich noch nicht einmal, den Lesern ihre reaktionäre Idee der 'Zivilisation', die ja genau so und mit den selben Argumenten jahrhundertelang in Europa praktiziert wurde (und wird) und dabei beträchtliches Leid erzeugt hat, auch noch als neu und fortschrittlich darzustellen.

Tenor: "Zivilisation heißt eben auch Verzicht"

"[...]Gibt es in unserem Land tatsächlich einen Anspruch auf Geschlechtsverkehr?[...]
Höchste Zeit, über ein Verbot der Prostitution zu sprechen, auch wenn es definitiv unpopulär ist. Prostitution ist ein Gewerbe aus alten Zeiten und steht dem Ringen um zeitgemäße, reife Beziehungen im Wege. Wir tun in unserer Gesellschaft viel dafür, dass Menschen einander auf Augenhöhe begegnen, auch sexuell. Dazu passt definitiv nicht, schutzbedürftige Menschen zur Handelsware zu erklären. Auch dann nicht, weil einzelne ihre Beziehungen nicht sexuell befriedigend gestalten können -- und deshalb lieber auf die Macht des Geldes setzen."


Der ganze Artikel inkl. Kommentarfunktion hier: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhal ... 7b5a3.html

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Beitrag von ehemaliger_User »

Mein Kommentar/Leserbrief an die "Stuttgarter Zeitung":

Frau Braun hat offensichtlich den Artikel 1 des Grundgesetzes nicht verstanden.

Die Würde ist jedem Menschen durch seine blosse Existenz eigen. Sie kann deshalb niemanden genommen werden, sie kann nur missachtet werden.

Dieser Artikel soll vorschreiben, dass der Staat alles zu unterlassen hat, was die Menschenwürde beeinträchtigen könnte. Es ist also ein Abwehrrecht gegen die öffentliche Gewalt (Legislative, Exekutive, Judikative) selbst! Und die Staatsgewalt muss Angriffe auf diese Würde rechtlich und tatsächlich verhindern. Er hat also nicht nur selbst Eingriffe zu unterlassen sondern muss auch dafür sorgen, dass Dritte die Menschenwürde jedes Einzelnen achten. Oder anders ausgedrückt: der Staat hat dafür zu sorgen, dass jede(r) so leben kann, wie er /sie es für sich selbst gut findet und Rechte anderer nicht verletzt werden.

Der Staat ist also verpflichtet, die Würde der Prostituierte zu schützen. Denn deren Würde wird in der Regel nicht durch deren Kunden verletzt, sondern massiv durch die Gesellschaft, die die Protagonisten stigmatisiert. Die Forderung selbst, Prostitution zu kriminalisieren ist eine klare Aufforderung, die Würde der Prostituierten zu missachten!

Natürlich muss es Einschränkungen geben. Nämlich immer dann, wenn Rechte andere tangiert oder verletzt werden.
Welches meiner Rechte wird durch Prostitution geschädigt? Mit fällt keines ein. Wen schädigen Prostituierte?

Aber mir fallen sehr viele Bestimmungen ein in denen die Würde der Prostituierten mit Füssen getreten wird. Das fängt damit an, dass in Gemeinden unter 30.000 Einwohnern Prostitution ein Straftatbestand ist. Was geht es den Staat und andere an, ob und wie ich für sexuelle Dienstleistungen bezahle? Oder ob eine Frau in ihrer Wohnung Kunden Häuser verkauft oder zu sexuellen Dienstleistungen empfängt?

Ausserdem hat die Polizei anlassunabhängig das Recht, jederzeit Personenkontrollen durchzuführen an Orten, an denen der Prostitution nachgegangen wird. Unverletzlichkeit der Wohnung wenn Prostitution nicht in speziellen Geschäftsräumen stattfindet?

Warum gibt es z.B. für Bordellbetriebe keine Mindeststandards über die Ausstattung? Verbindliche, klare Regeln an die sich Betreiber, Prostituierte, Freier halten und orientieren können?
Ein Verbot der Prostitution hätte für mich persönlich dieselben Auswirkungen wie ein Verbot von Profifussball oder von Landfrauenvereinen. Es wäre ein massiver Verstoss gegen das Grundgesetz und deshalb abzulehnen.

Um Menschen in der Prostitution vor Gewalt zu schützen gibt es im Strafgesetzbuch ausreichende Bestimmungen, sogar spezielle Bestimmungen, die es für andere Gesellschaftsgruppen nicht gibt (z.B. Zuhälterei, Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung).

Komisch, ich habe noch nie gehört, dass Paketzustellungsdienste verboten werden sollten weil die Arbeit dieser Menschen würdelos ist und sie nicht selbstbestimmt sondern aus Zwang arbeiten.

Übrigens, ich arbeite auch nicht selbstbestimmt sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit.

Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass Prostituierte als Sündenböcke herhalten müssen um von den tatsächlichen Problemen, die durch Globalisierung und hemmunsloser Profitgier entstanden sind, abzulenken.

Ich persönlich halte übrigens die Zwangsbehandlung in der Psychiatrie von Menschen, die ihr Leben selbstbestimmt beenden wollen und die nicht psychisch erkrankt sind, für einen massiven Verstoss gegen die Menschenwürde.
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