"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Bisher hat es nur Michael Glawogger geschafft, Angebot und Nachfrage kopulierend vor laufender Kamera einzufangen. Auch das Buch zum Film enthält so zahlreiche Bilder, in denen Angebot und Nachfrage in Beziehung gesetzt sind. Warum dennoch immer wieder die Versuchung?

Verglichen mit Lovemobil fällt mir auf, daß in Lovemobil die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit in den Vordergrund gerückt wurde, und durch den bizarren Drehort (Arbeitsort) mit trostloser Verlassenheit assoziiert werden kann. Wie die Müllerstochter in Rumpelstilzchen.

Im ZDF gab es über Weihnachten auch den Film "Hördur" über eine junge türkisch stämmige Frau mit einem Island Pferd. In dem Film kämpft ihr Vater als Tagelöhner für gerechten Lohn. Ich habe die Dialoge im Film Lovemobil an diesen Stellen schon als realistisch empfunden.

Ich hoffe, daß jetzt niemand mehr das Glatteis verkennt, auf das sich Freischaffende unweigerlich begeben, egal wie frei von Zwängen aller Art, auch der eigenen inneren, sie sich glauben. Lovemobil hat jedenfalls seinen Stempel abbekommen, zum Leidwesen der Sex Work Community. "Der Film schildert das Leben von Prostituierten, die unter entwürdigenden Umständen in Wohnmobilen am Rande von Bundesstraßen in Niedersachsen arbeiten.", schreibt der NDR so nebenbei, geht es ihm doch nur um die (Ent)Täuschung: https ://www .ndr .de/der_ndr/unternehmen/NDR-distanziert-sich-vom-Dokumentarfilm-Lovemobil,ineigenersache106.html.

# Whores' Glory - ein Triptychon zur Prostitution
search.php?keywords=Glawogger
# Literatur
search.php?keywords=Bossong
# Dissertation
viewtopic.php?p=153817#p153817
# Hurenfilmfestival
viewtopic.php?p=76210#p76210
# Sexworker: 33 Frauen, die mit Lust arbeiten - Porträts und Interviews
https ://www .amazon .de/Sexworker-Frauen-arbeiten-Portr%C3%A4ts-Interviews/dp/3862653919
"Warum bietet eine Frau freiwillig sexuelle Dienstleistungen für Geld an? Was gibt ihr das, wann nimmt es ihr etwas? Wie verändert es die eigene Sexualität? Wie reagiert das Umfeld auf eine, die von der schönsten Sache der Welt lebt? Warum glauben Feministinnen, Sexarbeiterinnen »retten« zu müssen? Und was ist das überhaupt: eine sexuelle Dienstleistung? Warum hat es nach wie vor etwas Anrüchiges, sich Sex zu kaufen? Was sagt das aus über unser Konzept von Sexualität? Sexworker vereint Gespräche mit 33 Frauen über Sex als Profession. Es sind allesamt Frauen, die selbstbestimmt und freiwillig ihrer Tätigkeit nachgehen. Die sogenannte »Zwangsprostitution« findet in diesem Buch keinen Raum, weil sie nichts mit Sexualität als Akt gegenseitigen Einvernehmens zu tun hat, sondern vielmehr ein Konglomerat verschiedener Straftaten darstellt. Cornelia Jönsson, Silke Maschinger und Tanja Steinlechner sprachen mit 33 unterschiedlichen Frauen, deren Gemeinsamkeit die berufliche Auseinandersetzung mit Sexualität ist. Dominas erzählen von Hingabe und Vertrauen, Tantra-Masseurinnen philosophieren über die Vielfalt orgasmischer Vergnügen, Kreative berichten von Dildos in Gemüseform und der Passion für maßgeschneiderte Korsetts. Eine Physiotherapeutin verrät, wie sehr sich ihre Arbeitsbedingungen verbessert haben, seit sie nackt behandelt, eine Sklavia spricht über die Lust am Spiel mit Realitäten und den nicht vorhandenen Unterschied zwischen einer Geschäftsfrau und einer Hure. Gemeinsam ist den interviewten Frauen ihr selbstbewusster, reflektierter und lustbetonter Zugang zu der nach wie vor stigmatisierten Arbeit mit Sex. Dabei wird deutlich, wie wichtig, anspruchsvoll und wertvoll diese Arbeit ist."
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Benutzeravatar
friederike
Goldstück
Goldstück
Beiträge: 2189
Registriert: 07.12.2010, 23:29
Wohnort: Saarlouis
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von friederike »

Das eigentliche Problem hier ist nicht auf das Thema "Prostitution" beschränkt.

Es ist natürlich zulässig, literarische Fiktion zum Beispiel über Prostitution zu präsentieren. Das tun zahlreiche Bücher und Filme, die zu einem großen Teil auch hier im sexworker.at-Forum vorgestellt und besprochen sind. Zu nennen wären etwa Dominik Grafs "Hotte im Paradies", Luis Buñuels Klassiker "Belle de Jour" oder François Ozons "Jung und schön". Mit künstlerischen Mitteln wird dort ein Bild der Wirklichkeit, hier der Prostitution, dargestellt, wie es der Autor oder die Autorin wahrnehmen. Auch da kann es durchaus zur Verfälschung und Manipulation kommen, man denke an Veit Harlans antisemitischen NS-Propagandafilm "Jud Süß" - aber es ist immer noch erkennbar, dass es sich um eine fiktionale Darstellung handelt, die auch als solche gekennzeichnet und herausgehoben ist.

Die neue Qualität, das Gefährliche, das Abzulehnende ist die vordringende sogenannte "Scripted Reality", die diese Elke Lehrenkrauss in aller Frechheit beschreibt und als legitimes Ausdrucksmittel benennt: ihre gestellten, wie man sagt: "gescripteten" Szenen stellten die Wirklichkeit viel besser und viel authentischer, will sagen: viel wirklicher dar als sie tatsächlich ist. Absichtlich wird dem Publikum nicht gesagt, dass diese Szenen gestellt und inszeniert sind, denn: man möchte das Dargestellte ja gerade als die wahre Wirklichkeit, unmittelbar dargereicht, original authentisch und unbestreitbar vorstellen. Die künstlich hervorgerufene Empörung des Betrachters soll von diesem nicht mehr hinterfragt werden, ein Messen an anderen Beobachtungen und Wahrnehmungen soll unterbleiben, denn: die nackte Wirklichkeit kann man ja nicht mehr hinterfragen, sondern nur noch zur Kenntnis nehmen. Und wichtig ist für die Lehrenkrauss genau diese Empörung, diese emotionale Zusammenballung. Deswegen reicht das Filmmaterial, das man am Ort des Geschehens aufnehmen konnte, nicht aus. Die wahre Wirklichkeit, die wirkliche Wirklichkeit ist nämlich nach Ansicht der Lehrenkrauss darauf nicht zu finden. Diese wirkliche Wirklichkeit befindet sich nach ihrer Meinung im ihrem Kopf, im Kopf der Frau Lehrenkrauss, also hinter der Kamera - und nicht davor.

Das ist genau die gleiche Erscheinung wie beim früheren SPIEGEL-Starreporter Clas Relotius. Relotius gewann einen Journalisten-Preis nach dem anderen mit seinen ergreifenden Reportagen zum Beispiel über Flüchtlinge, oder über selbsternannte Grenzwächter-Banden an der Grenze Arizonas zu Mexiko, die eine tödliche Jagd auf Migranten betrieben. In der Realität gab es die geschilderten Figuren gar nicht, Relotius hat sie an seinem Schreibtisch kreiert. Aber die Leser seiner erschütterten Reportagen fühlten sich in ihren Vorurteilen bestätigt - durch etwas, das sie für eine reale Darstellung hielten. Auch Relotius hätte über seine Reportagen einen Hinweis anbringen können: "Dieser Bericht ist reine Fiktion. Ich war noch nie in Arizona." Die SPIEGEL-Leser hätten seine Seiten überblättert, Journalisten-Preise und Gehaltsboni hätte es nicht gegeben, die politischen Meinungen wären gar nicht so vorgefestigt gewesen ...

Boris Büche
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 693
Registriert: 20.12.2014, 13:53
Wohnort: Berlin
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Boris Büche »

>> Auch Relotius hätte über seine Reportagen einen Hinweis anbringen können: "Dieser Bericht ist reine Fiktion. Ich war noch nie in Arizona." <<

Doch, in Arizona war er schon. Er war sogar in Minnesota.
Darüber gibt es ein schönes Stück aus lokaler Sicht, in dem der Einfallsreichtum Relotius' anhand seiner 11 dicksten Lügen demonstriert wird.

"Nach dreieinhalb Stunden biegt der Bus vom Highway auf eine schmale, abschüssige Straße ab und rollt auf einen düsteren Wald zu, der aussieht als ob ein Drache in ihm lebt. Am Ortseingang, kurz vor der Bushaltestelle, sehen wir ein Schild mit den Stars and Stripes und der Aufschrift: "Fergus Falls, home of damn good folks" (C. Relotius)

"Fergus Falls liegt in der Prärie - das heißt, unsere Landschaft besteht hauptsächlich aus hohem Gras und Seen. Bäume haben wir zwar, aber innerhalb unserer Stadtgrenzen keine eigentlichen Wälder, und definitiv nicht entlang der Route des Busses, den Relotius von Minneapolis-Saint Paul genommen haben würde. Und unser Willkommensschild ist traurigerweise in seinem Gruß ziemlich banal." (Michele Anderson, Fergus Falls)

Der Spiegel journalist messed with the wrong small town (mit Bildern vom Ortseingangsschild und den von Relotius missbrauchten Bürgern)

M. Anderson erwähnt, das ihr Artikel just an dem Tag fertig war, an dem C. Relotius "flog". Sie sagt nicht, ob der Spiegel davon Kenntnis hatte. Womöglich?, und dann hätte man die Sache in Hamburg vielleicht still beerdigt . . .

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Hallo zusammen,

ich bin stolzer Besitzer einer DVD von Lena Morgenroth's SEXarbeiterin - bei Amazon als Prime Video erhältlich und unter https ://www .partisan-filmverleih .de/dvd-bestellung/. Wenn ich diese Dokumentation, per Crowdfunding entstanden, mit den üblichen Fernsehproduktionen vergleiche, dann weiß ich was ich will. Ich lehne jedweden fremden Blick von Außenstehenden auf Minderheiten, die sich selbst wenig darstellen können, radikal ab. Darum war mir der Scripted Skandal von Anfang an auch schnuppe, habe allerdings sofort die Gefahr gesehen, daß eben nur über den Etikettenschwindel geredet werden wird, und nicht über das eigentliche skandalöse Problem der Vereinnahmung von Minderheiten, um diese auf jene perfide Art zu bekämpfen. Haben Sex Workers die Deutungshoheit über sich und das was sie tun? Warum erhielt SEXarbeiterin keine Festival Preise? Warum lief die Doku noch nicht im Fernsehen?

viewtopic.php?p=149921#p149921

Der Skandal besteht doch gerade darin, daß sich keine einzige Lovemobil Sexarbeiterin für die unter eigenen selbstausbeuterischen Bedingungen arbeitende Rucksackproduzentin vor die Kamera stellen wollte. Erst jetzt wird die Hochbegabte wohl ihre Theorie von der "authentischeren Wirklichkeit" entwickelt haben. An dieser Stelle hat sie sich meiner Meinung nach selbstherrlich über andere erhoben. Ein NEIN ist eben nicht immer ein Nein. Schon gar nicht bei Minderheiten. Man muß sich das Mal verbalisiert vorstellen: Okay, also wenn ihr nicht vor die Kamera treten wollt, dann bringe ich halt meine eigenen Leute. Den Film wird es geben, mit oder ohne Euch.
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Benutzeravatar
friederike
Goldstück
Goldstück
Beiträge: 2189
Registriert: 07.12.2010, 23:29
Wohnort: Saarlouis
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von friederike »

Warum sollten denn Außenstehende keinen Blick auf Minderheiten werfen dürfen?

Es wäre ja möglicherweise verständlich, wenn die betroffenen Sexarbeiterinnen nicht bereit gewesen wären, selbst vor die Kamera zu treten. Es wäre auch legitim, gestellte Szenen zu bringen, wenn man sie als gestellt und inszeniert kennzeichnet. Aber dann wären sie nicht so interessant und könnten nicht diese Authentizität beanspruchen.

Benutzeravatar
floggy
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 385
Registriert: 15.09.2013, 19:28
Wohnort: 85716 Unterschleissheim
Ich bin: KundIn

"Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von floggy »

Hallo friederike,

sicherlich. Womöglich braucht man diese Außenstehenden sogar, da sie womöglich als einzige über die nötigen Produktionsmittel inkl Know-how verfügen. Michael Glawogger hatte man vorgeworfen, warum er sich nicht von der Sex Work Community beraten hat lassen. Letztlich hatte er sich gegen sie gestellt. Diesen Künstlern ist alles andere wichtiger als die Realität um Sexarbeit, beispielsweise - ich beziehe mich auf den taz Artikel unter https ://taz .de/Dokumentarfilm-Lovemobil/!5643688/

- trostlose Winterlandschaft
- "Lovemobil" beginnt und endet dramaturgisch geschickt im Winter
- in der Nacht ist der deutsche Wald . . . große schwarze Leere.
- Streitgespräch zwischen Uschi und einem Pfarrer . . . (?)
- Lehrenkrauss montiert sehr geschickt

Ich bin nicht vom Fach, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, welche Möglichkeiten man mit einem Film hat. Darum beurteile ich nach meinem Gefühl während des Films und am Ende, und die Nachwirkung. Ich habe Lovemobil im Dezember gesehen, und wollte ihn vergessen, abhacken, einer von diesen unzählig vielen Fernsehabende. Darum habe ich mich auch unter viewtopic.php?p=161921#p161921 nicht beteiligt, als das Thema noch Dokumentarfilm "Lovemobil" hieß.

Selbst korrekte (abolitionistische) Dokus, die die Frauen UNKENNTLICH machen und ihre Stimme VERFÄLSCHEN, lassen nicht viel von deren Realität und Wahrheit übrig. Wenn ich mit der selben Frau sprechen würde, wäre das letztlich eine ganz andere Zusammenkunft, jedenfalls ohne ENTFREMDUNG.

Ich will diesen ganzen Möchtegern Realisten gerne aufzeigen, wo sie sich ein positives Beispiel nehmen können. Heute war ich auf die SEXarbeiterin gestoßen, und finde, diesen Film sollte sich Frau Lehrenkrauss mal zu Herzen nehmen. Im Film wird sogar gezeigt, wie die Protagonistin an der Gestaltung der Aufnahmen mitwirkt. Und es wurde in drei Monaten gedreht. Was für eine Leistung.
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.

Benutzeravatar
deernhh
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1640
Registriert: 17.06.2018, 13:17
Ich bin: SexarbeiterIn

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von deernhh »

JENSEITS VON „LOVEMOBIL“
Versagt die Dokumentation vor der Prostitution?
Von Bert Rebhandl
18.04.2021, 12:23

Sexarbeiterinnen in Michael Glawoggers Film „Whore’s Glory“ Bild: LOTUS FILM

Wie lässt sich Prostitution wahrhaftig erzählen? Mehrere Dokumentarfilme der letzten Jahre zeigen, wie schwierig es ist, dem Thema gerecht zu werden.

Lady Tara sieht ihre Sache pragmatisch: „Für Unglück oder Glück einer Hure ist nicht gleich der Staat verantwortlich. Viele Frauen sind in ihrer Ehe unglücklich, deswegen wird die Ehe auch nicht abgeschafft.“ Der Satz fällt in dem Dokumentarfilm „Five Sex Rooms und eine Küche“ von Eva C. Heldmann, herausgekommen im Jahr 2007. Ein Bordell im Hessischen wird da gezeigt, vier Frauen, fünf Zimmer und eben die Küche. In der Küche sitzen die Frauen, nehmen Anrufe entgegen, ziehen sich um, bevor sie mit einem Kunden in ein Zimmer gehen. In dieser Küche hat Eva C. Heldmann vor allem gedreht, übrigens mit einem Kameramann, Rainer Komers.

„Five Sex Rooms und eine Küche“ (zu finden auf den Streamingportalen Sooner und Realeyz) könnte man sich ansehen, wenn man sich für eine Debatte interessiert, die seit einigen Wochen rund um einen anderen Dokumentarfilm zum Thema Prostitution läuft: „Lovemobil“ von Elke Lehrenkrauss, eine Produktion des NDR, ausgezeichnet unter anderem mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis 2020. Inzwischen wurde dieser Preis zurückgegeben. Denn Lehrenkrauss wollte zwar die Realität von Prostituierten zeigen, die in Wohnwägen im niedersächsischen Gifhorn vor allem Kundschaft aus den nahen VW-Werken bedienen. Sie fand aber keine Protagonistinnen. Frauen, die sie bei ihrer Recherche kennenlernte, wollten sich vor der Kamera nicht zeigen. Also nahm sie andere, mit denen sie nachzustellen versuchte, was sie davor in Erfahrung gebracht hatte.

Die Debatte über dieses Vorgehen und über den Umgang der NDR-Redaktion mit dem Film ist so komplex, wie es die Vielfalt der dokumentarischen Strategien ist. Auch, weil Prostitution ein Thema ist, bei dem diese Strategien häufig auf spezifische Weise herausgefordert werden. Man kann „Lovemobil“ nun eingehend auf einzelne Szenen, seine Dramaturgie, seine Ästhetik und seinen Wirklichkeitsgehalt hin überprüfen, wie es auch in dieser Zeitung schon geschehen ist. Oder man kann den Blick weiten und weitere Filme aus der jüngeren Zeit zu Rate ziehen, die sich anders oder auch vergleichbar mit Prostitution beschäftigen. Es sind gar nicht so wenige. Das Thema ist attraktiv, denn es betrifft einen Bereich, in dem sich vieles im Verborgenen abspielt. Und es geht um Sex.

Selbstbestimmte Protagonistinnen
„Vielleicht sind wir abartig, weil wir Spaß an Sex haben“, sagt Lady Tara an einer Stelle. In dem Etablissement, in dem sie mit ihren Kolleginnen arbeitet, gibt es Sex in fast allen Spielarten. „Faustfick? Kein Problem.“ Nadelungen, Windelhose, Schwanz abbinden – schon beim Vorgespräch am Telefon wird klar benannt, was später Sache sein wird. „Five Sex Rooms und eine Küche“ beruht offenkundig auf einem Pakt, den die Filmemacherin mit den Frauen geschlossen hat. Sie bekommt weitgehenden Zutritt zu dem Backstage-Bereich des Bordells, unausgesprochen bleibt, unter welchen Bedingungen sich Lady Tara auf den Film eingelassen hat. Vielleicht ging es ihr, wie wohl auch der Filmemacherin, um eine Entmythologisierung des Geschäfts: Prostitution findet häufig unter Druck oder sogar unter dem Einfluss von Gewalt statt. Es gibt aber auch Frauen, die das Gewerbe selbstbestimmt ausüben, die in den Pausen „Bild der Wissenschaft“ lesen und die damit eine Rolle in der Gesellschaft übernehmen, die sie für relevant halten: „Jeder Mensch ist schmerzgeil.“

Männer sieht man in diesem Film auch, aber man kann sie nicht erkennen. Die Verrichtungen, die Heldmann filmen konnte, beruhen offenkundig auch auf Absprachen, sie tut aber doch so, als wäre sie verstohlen im Raum, die Blickwinkel sind so gewählt, als ginge es darum, hinter eine Barriere zu schauen. Das ist eine ästhetische Kompromissbildung, die für das steht, was einen Dokumentarfilm von Pornographie unterscheiden soll. Mit Blick auf „Lovemobil“ ist ein Faktor besonders wichtig: Lady Tara ist sie selbst. Sie ist sogar in hohem Maß bei sich, jedenfalls wirkt sie so. Dass sie gleichsam beruflich auch Schauspielerin ist, muss man in diese Wirkung hineinnehmen. Sie verleiht dem Film von Heldmann das Siegel der Aufrichtigkeit. Im Dokumentarfilm ist das die härteste Währung: Authentizität.

Wenn es um Prostitution geht, läuft oft ein zweiter Diskurs mit: die Frage nach Legalität. Ist es richtig, käuflichen Sex zu erlauben und nur so zu regulieren, dass dabei niemand zu Schaden kommt? In Sobo Swobodniks „Sexarbeiterin“ (2016, zu finden auf Sooner) ist die Prot­agonistin Lena Morgenroth auch Aktivistin. Sie bietet Massagen mit sexuellen Höhepunkten an, über die Sitzungen führt sie Buch, eine Steuerprüfung würde sie locker bestehen. Sie lebt in einer lesbischen Beziehung und trifft beruflich Männer und Frauen. Das Wort Prostituierte akzeptiert sie, aber findet „Sexarbeiterin“ besser. Und gegen die Stigmatisierung des Berufsbilds (und Kampagnen, den Beruf zu verbieten) macht sie Öffentlichkeitsarbeit. Swobodnik zeigt auch die eigentliche Tätigkeit. Er setzt dabei auf ästhetisierte Bilder, der Film ist in Schwarzweiß, dazu kommt ein ausgesuchtes Spiel mit Positionen und Unschärfen. In einigen Szenen ist das deutlich Sex für die Kamera, mit echten Höhepunkten.

Trans-Frau Julia im Film von J. Jackie Baier Bild: J. JACKIE BAIER

In „Sexarbeit“ ist der Aspekt einer Ratifizierung des Gezeigten durch die Hauptfigur am deutlichsten. Durchaus ähnlich verhält es sich auch mit „Julia“ (2013, Regie: J. Jackie Baier, zu finden auf der Vimeo-Seite von GMfilms), hier nun aber am anderen Ende des sozialen Spektrums. Denn Julia, eine trans Frau aus dem litauischen Klaipeda, die in Berlin anschaffen geht und von Absturz zu Absturz zu taumeln scheint, ist fast buchstäblich ganz unten. Sie schläft auf der Couch im Hinterzimmer eines schmierigen Pornokinos, in dem sie auch Kundschaft bedient. Ärzte bescheinigen ihr eine Polytoxikomanie, weil sie neben Alkohol noch zahlreiche weitere Rauschmittel nimmt. Julia wirkt wie jemand, die man eigentlich per Gesetz davor schützen sollte, sich sexuell ausbeuten zu lassen. Aber diese Debatte will Baier nicht führen. Sie begleitet Julia stattdessen über einen Zeitraum von einigen Jahren, findet sie immer wieder, wenn sie zwischendurch verschwindet, und fährt schließlich sogar mit ihr nach Litauen, an den Ort einer verpfuschten Kindheit.

Standardsituationen statt Beobachtung
Einen vergleichbaren „Draht“ zu Frauen hat Elke Lehrenkrauss nicht. Jedenfalls erweckt „Lovemobil“ den Eindruck, dass die Recherchen von einer Begeisterung für Wirkungsästhetik überformt wurden. Am ehesten wäre Uschi eine Figur gewesen, von der man mehr Spezifisches hätte erfahren können: eine ältere Deutsche, die nur deswegen nominell nicht als Zuhälterin zu werten ist, weil sie das Geld für die Miete der Wohnmobile abkassiert, in denen die Frauen arbeiten. „Lovemobil“ nützt Uschi nur als Chiffre, wie überhaupt der ganze Film eher auf Standardsituationen – beinahe wie in einem Genre – hinausläuft als auf das, was dokumentarisches Arbeiten ausmacht: unverwechselbare Beobachtungen zu machen.

Das Vorgehen von Lehrenkrauss tendiert in eine Richtung, für die es allerdings namhafte Vorbilder gibt. Der Österreicher Michael Glawogger zeigte 2011 in „Whore’s Glory“ (nur auf DVD) Szenen aus dem Leben von Prostituierten in Thailand, Bangladesch und in Mexiko. Mit seinem „Triptychon“, so der Untertitel, der künstlerischen Ehrgeiz anklingen lässt, suggeriert Glawogger, dass käuflicher Sex zu den Universalien der menschlichen Gattung gehört, kulturübergreifend und klarerweise auch kulturell spezifisch wie die buddhistischen Altäre, vor denen sich die Frauen in Bangkok auf dem Weg zur Arbeit verneigen. Glawogger steht in einer langen, männlichen, westlichen Tradition der Verklärung oder zumindest Romantisierung von Prostitution und bricht zugleich diese Tradition in Szenen, in denen er die Frauen autonom und bei alltäglichen Verrichtungen zeigt, immer an der Grenze zur (Nach-)Inszenierung.


Persönlichkeit und Performance: Szene aus „Searching Eva“ Bild: DARLING BERLIN/UCM.ONE

„Whore’s Glory“ macht deutlich, dass es wenig hilft, wie nun bei „Lovemobil“ gefordert, Dokumentarfilme mit einer Art Handzettel oder Beitext auszustatten, in dem genau ausgewiesen wird, was in die Gestaltung der Szenen eingegangen ist. Es gehört zur reflexiven Struktur der Gattung, dass sie ihre Methoden implizit ausweist. Das Stichwort „Direct Cinema“, das auch im Zusammenhang mit „Lovemobil“ immer wieder bemüht wird, verspricht eine Unmittelbarkeit, die inzwischen als eine medienhistorische Konstruktion erkennbar wurde: direkt war das Kino vor allem in den sechziger Jahren, als neue Kameras ein schnelleres Arbeiten ermöglichten.

Heute ist alles direkt und zugleich in höchstem Maß vermittelt. Der Kontakt zwischen Prostituierten und Kunden läuft genauso über Instagram wie über die illuminierten Windschutzscheiben von Wohnmobilen an einer niedersächsischen Landstraße. In „Searching Eva“ (2019, Regie: Pia Hellenthal, zu finden auf dem Streamingdienst Behind the Trees) ist eine junge Frau namens Eva (inzwischen Adam) Collé bei einem Escort-Gig in einem Berliner Hotel zu sehen. Die Szene ist beispielhaft für ein Spiel mit Persönlichkeit und Performance, das zum Innersten des sexuellen Akts gehört und das in diesem Fall die Hauptfigur zu einem Lebensprinzip für sich insgesamt gemacht hat. Die Eva Collé von „Searching Eva“ ist eine Kunstfigur, erwachsen aus einem Blog, das Wege aus einer schwierigen Kindheit wies. Der Mann, der sich Eva als Sugardaddy ins Hotel bestellt hat, zeigt sein Gesicht nicht, ist aber durch seine Stimme und die österreichische Sprachfärbung in hohem Maß individuell. Er ist im Übrigen in den Credits des Films mit Namen ausgewiesen, als Schauspieler.

MEHR ZUM THEMA
Ein Experiment in Sachen Intimität
FAZ plus ArtikelWahrheit und Verdichtung
FAZ plus ArtikelWas ist authentisch?
Mehr noch als bei anderen Themen wird hier deutlich, dass im dokumentarischen Kino die Verantwortung für die Figuren der Verantwortung für das Publikum vorausgeht. Die eine erfüllt sich in der anderen.

Quelle: F.A.S.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ ... 96641.html

Boris Büche
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 693
Registriert: 20.12.2014, 13:53
Wohnort: Berlin
Ich bin: Keine Angabe

Re: "Lovemobil" UPDATE- NDR distanziert sich vom "Dokumentarfilm"

Beitrag von Boris Büche »

. . . ein Jahr später die nächste Preisverleihung für den "Dokumentarfilm" eines Qualitätsjournalisten,
=> siehe hier