USA - Psychoanalyse, Sexualität, Homophobie

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lust4fun
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USA - Psychoanalyse, Sexualität, Homophobie

Beitrag von lust4fun »

Essay von Dagmar Herzog, Professorin für Geschichte in New York

Die sogenannte Liebesdoktrin
Weil es weder Homosexualität noch weibliche Lust geben durfte, erfanden die US-Psychoanalytiker die Liebe. Und hinterließen eine Spur der Verwüstung

taz, 14.3.15
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/arti ... ac0df68fee


Eine Interessante Darstellung der Rolle der Psychoanalyse in der US-amerikanischen Gesellschaft:

"Der erste große Paradigmenwechsel der US-Nachkriegszeit im psychoanalytischen Denken über Sex entstand als direkte Reaktion auf - besser gesagt, im erbitterten Kampf gegen - die Kinsey-Reporte, die 1948 und 1953 veröffentlicht wurden. Unter anderem hatte der Sexualforscher Kinsey behauptet, dass es keinen nennenswerten Unterschied gebe zwischen Männern und Frauen - weder in ihrer Fähigkeit zum Orgasmus und ihrem Hang zur ehelichen Untreue noch in ihrem allgemeinen sexuellen Interesse. Und er vertrat entschieden die Auffassung, dass Homosexualität eine natürliche Variante der menschlichen Sexualität sei, und zwar eine weit verbreitete. Einerseits von einem breiten Publikum rezipiert, wurden die Reporte auf der anderen Seite sofort mit sittlichem Unbehagen kritisiert."

Herzog beschreibt, wie die Psychoanalyse zu Verfechtern konservativer Normen wurden. Wo Freud selbst in der Beschreibung der Sexualität noch offener und neugieriger war, verurteilten die Nachfolger die Homosexualität.

"Am direktesten fühlten sich die Psychoanalytiker angegriffen durch Kinseys Behauptungen, die Homosexualität und das sexuelle Interesse von Frauen seien normal. [...] Die Homophobie existierte schon vorher; neu war das, was ich 'die Liebesdoktrin' nennen möchte. Kinsey, so tönte es, sei ein Ignorant, wenn es um Liebe ging. So beschwerte sich der Psychiater Sol Ginsburg von der Columbia University darüber, dass Kinsey es scheinbar nötig hatte, 'Verlangen nach Sex zu trennen von Liebe, Zärtlichkeit, und Sorge um die Gefühle und Bedürfnisse des Partners … eine solche Trennung des genitalischen von anderen Aspekten der Sexualität ist in sich selbst krankhaft.'"

Herzog zieht drei Schlüsse:

1. "Die Behauptung, liebloser Sex sei schon in sich selbst pathologisch, ist eine Erfindung der Nachkriegszeit. Sie wurde als gezielte Reaktion auf Kinsey entwickelt."

2. "Sie war nicht naiv, gütig oder harmlos. In diesem spezifischen Nachkriegskontext, in dem Frauen - gerade auf der analytischen Couch - dauernd gesagt wurde, sie sollten sich in ihre Rolle als selbstlose Liebesgeberinnen einfinden, ist an diesen Aussagen nichts Harmloses zu finden. Sie zeugen von einer Ignoranz gegenüber der Anomie gerade auch innerhalb heterosexueller Ehen - nicht zuletzt der bei Frauen allzu häufigen Empfindung der Entfremdung beim ehelichen Geschlechtsverkehr. Hoch ironisch dabei war die Tatsache, dass niemand besser wusste als Psychoanalytiker selber, was für eine Vielfalt von Verhaltensweisen es gab unter den angeblich so idealen Heterosexuellen. Die psychoanalytischen Fallstudien der Nachkriegs-USA sind voll von Besuchen amerikanischer Männer bei Prostituierten (einschließlich über die Klassen- und Rassengrenzen hinweg, mitunter auch auf Empfehlung der Analytiker selber), voll von vorehelichen Affären, illegalen Abtreibungen und sexuellen Fantasien im Widerspruch zum normativen Prototyp."

3. "Dieses Paradigma, die Liebesdoktrin, wurde enorm einflussreich. Die Psychoanalyse in den USA war in der Zeit des Kalten Krieges im Aufschwung begriffen, gerade weil sie es schaffte, eine säkulare 'moralische Sensibilität' zu bieten, die konservative Familienwerte unter dem Zeichen der "Gesundheit" forderte - deren wichtigste Bestandteile eine ausdrückliche Verachtung der Homosexualität und jedweden außerehelichen Ausdrucks weiblicher Sexualität waren."


Dazu auch ein interessantes Interview (2012) mit Herzog:
"Wir müssen den Sex verteidigen"
http://taz.de/Libertinage-in-den-USA/%21105944/

Klaus Fricke
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RE: USA - Psychoanalyse, Sexualität, Homophobie

Beitrag von Klaus Fricke »

Danke für die Links, sehr interessant