10 Jahre Prostitutionsgesetz Bericht im SZ

Beiträge betreffend SW im Hinblick auf Gesellschaft bzw. politische Reaktionen
Benutzeravatar
fraences
Admina
Admina
Beiträge: 7441
Registriert: 07.09.2009, 04:52
Wohnort: Frankfurt a. Main Hessen
Ich bin: Keine Angabe

10 Jahre Prostitutionsgesetz Bericht im SZ

Beitrag von fraences »

Zehn Jahre Prostitutionsgesetz
Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit


"Frei von Zwang ist letztlich keine": Mit dem 2002 in Kraft getretenen Prostitutionsgesetz wollte die damalige Bundesregierung die Situation der Frauen im Rotlichtmilieu verbessern. Das angeblich älteste Gewerbe der Welt sollte raus aus der rechtlichen Grauzone und rein in die Sozialversicherung. Doch viele Hoffnungen wurden enttäuscht.


Niemand zwingt sie, außer dem Leben selbst. Die Mutter, die eine Krebstherapie braucht, der Sohn, der eine vernünftige Schule besuchen soll. Um das nötige Geld nach Hause zu bringen, wird sie auch an diesem Abend ihre hohen grünen Stiefel anziehen. Dann, wenn der Kleine in seinem Bett ganz regelmäßig atmet. Sie wird sich davonstehlen aus ihrer Wohnung in Polen, gen Westen fahren, nach Berlin. In der Dämmerung wird sie zurück sein, der Sohn braucht sein Frühstück.

Bild vergrößern
Nur Frauen, die einem bestimmten Schönheits- und Altersideal entsprechen, kommen in einem der Bordelle in der Hauptstadt unter. Der größere Teil der Berliner Prostituierten muss seinen Lebensunterhalt auf dem Straßenstrich verdienen. (© dpa)
In Berlin kennt man sie und ihre grünen Stiefel: auf der Kurfürstenstraße, dem billigsten Strich der Stadt. Ihre Geschichte und ihren Namen aber kennt nur Angelika Müller, 53, die hier seit 15 Jahren als Krankenschwester in der Hilfseinrichtung "Frauentreff Olga" arbeitet.

Ökonomische Notwendigkeiten zwingen Frauen auf die Straße

ANZEIGE

Hinter der rußigen Häuserfassade im ersten Stock erzählt Müller an diesem Tag von den Frauen, die ganz unten stehen, im Leben wie in der Hierarchie des Rotlichts. Hier prostituiert sich das Elend, hier tragen die Frauen keine einheitlichen Moonboots wie in der Oranienburger Straße, sondern Brandlöcher und Laufmaschen, und darunter verbergen sich bei den meisten der gut 220 Frauen blaue Flecken. Male, die kein Freier sieht, dem eine von ihnen in einer dunklen Ecke die schnelle Befriedigung verschafft. Male, die nur Angelika Müller sieht.

Zwangsprostitution allerdings - das sei ein großes Wort, findet die Krankenschwester, es täusche klare Grenzen vor, wo keine seien. Am Beispiel der Frau mit den grünen Stiefeln könne man das sehen: Nicht nur die rohe Gewalt von Männern, auch ökonomische Notwendigkeiten zwingen Frauen auf die Straße. Eine krebskranke Mutter, ein Sohn, der es mal besser haben soll. Drogen, Schulden. "Frei von Zwang", sagt Angelika Müller, "ist letztlich keine hier."

Vor zehn Jahren hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das die Karten neu mischen sollte: Das Prostitutionsgesetz, in Kraft getreten am 1. Januar 2002, gab den Frauen erstmals einen Anspruch auf ihren Lohn, den sie vor Gericht einklagen können. Es sollte die Rechte der Frauen stärken, nicht aber die der Zuhälter. Und doch sollten diese erstmals legal Bordelle führen können und so für bessere Arbeitsbedingungen sorgen.

Das angeblich älteste Gewerbe der Welt sollte raus aus der rechtlichen Grauzone und rein in die Sozialversicherung. Man darf nach zehn Jahren sagen, dass viele Hoffnungen enttäuscht wurden.

Eine fließende Halbwelt

Wenn das Prostitutionsgesetz ein Experiment war, dann ist Berlin, die Stadt mit einem Dutzend Straßenstrichen, das perfekte Versuchslabor: Das Rotlichtgeschäft haben hier nicht ein paar wenige Kiezgrößen in ihren festen Händen wie in Hamburg oder ein paar alteingesessene Dynastien wie in Frankfurt.

Die Prostitution ist in Berlin nie in einen Sperrbezirk gepresst worden, sie ist verstreut geblieben, kleinteilig, und das heißt auch: immer in Bewegung. Eine Drei-Zimmer-Wohnung irgendwo in einem Hochhaus, eine Hotline und eine Anzeige in der Boulevardzeitung dazu - schnell ist das aufgemacht, schnell wieder geschlossen.

Es ist eine fließende Halbwelt, der Schriftsteller Thomas Brussig hat sie vor vier Jahren als "Berliner Orgie" porträtiert. Er protokollierte, wie die etwa 6000 bis 8000 Prostituierten Berlins in ungezählten Mini-Etablissements leben. Die meisten dieser kleinen Clubs hat der Markt längst wieder verschluckt und neu ausgespuckt, sagt die Berliner Soziologin Christiane Howe, die das Rotlichtmilieu systematisch untersucht. Nirgends in Deutschland reagiere die Rotlichtbranche derart schnell auf Veränderungen.

Dennoch: Die Hoffnung des Gesetzgebers, möglichst viele Prostituierte würden durch das Prostitutionsgesetz ordentliche Arbeitsverträge bekommen und in die Sozialkassen einzahlen, hat sich in Berlin kaum erfüllt, wie andernorts auch. Das hat das Familienministerium inzwischen selbst eingeräumt. Zahlen liefert das Ministerium nicht, nur eine Beobachtung: Die Prostituierten wollen sich nicht fest binden. Lieber sind sie Tagelöhnerinnen geblieben. Auch auf eine Rentenversicherung verzichten fast alle.
Zehn Jahre Prostitutionsgesetz
Wer hält sich gerne mit Formularen und Steuern auf?
30.12.2011, 07:49
An der Kurfürstenstraße hört die Krankenschwester Angelika Müller so manche Frau sogar über neue Lasten klagen, die das Gesetz gebracht habe. Wer hält sich schon gerne mit Formularen und Steuern auf? Früher hätten die Behörden immerhin weggeschaut, früher konnten die Frauen im Verborgenen bleiben. Heute fürchten sie, amtlich abgestempelt zu werden, als Prostituierte registriert, vielleicht dauerhaft.

Die Polin mit den grünen Stiefeln gibt bei Behörden nie ihre eigene Adresse an, sie holt ihre Briefe lieber bei Freunden ab, damit ihre Familie nicht über verräterische Post aus Deutschland stolpert. Leichter, so vermutet Angelika Müller, ist ihr Leben eher nicht geworden.

Seriöse Investoren melden Interesse an

ANZEIGE

Dass sich gar nichts aufgehellt hätte in der schummrigen Rotlichtwelt Berlins, kann man freilich nicht sagen: Eine ganze Welle neuer Geschäftsleute, so hört man, ist in den Markt eingestiegen, seit es grundsätzlich legal ist, einen "bordellartigen Betrieb" zu führen. Früher regierten hier Männer aus der Halbwelt bis hinauf in die Edelprostitution, das Geschäft konnte man ja nur mit einem Bein im Gefängnis betreiben. Heute melden auch seriösere Investoren Interesse an den hohen Gewinnspannen an.

Neue Gesichter - das sei vielleicht die wichtigste Veränderung, sagt auch die Ex-Prostituierte Stephanie Klee. Diese neuen Gesichter kämen oft aus legalen Branchen, würden sich mit Steuern auskennen, ein vernünftiges Verhältnis zur Berliner Gewerbeaufsicht unterhalten - und sich nun erstmals trauen, Prostituierten ein Angebot zu machen.

Einer von ihnen heißt Carlos Obers. Obers war einer der erfolgreichsten Werber im Land, zeitweise auch Präsident des renommierten Art Directors Club Deutschland, bis er 2006 eine Agentur für Edel-Call-Girls gründete, mit dem Fantasienamen "Greta Brentano". "In der Werbebranche heißt es eh: Wir sind alle Huren", sagt Obers, der glatte Rollkragenpullover betont, dass der Oberkörper auch mit 71 Jahren noch trainiert wird. Obers war dreimal verheiratet, er macht keinen Hehl daraus, dass er sich für Prostitution schon länger interessiert.

Man kann Obers, der in seiner Atelierwohnung Pralinen reicht, lange dabei zuhören, wie er das Neue an seinem Konzept unterstreicht. Die "Musen", die nicht etwa Natasha heißen, sondern, für den Feingeist, Sharon Novalis oder Ariane Maybach. Die "Unternehmensphilosophie", die Worte wie Polyamorie beinhaltet und für die Obers tatsächlich Simone de Beauvoir bemüht. Man kann hören, wie Obers versichert, dass seine Call-Girls ausnahmslos finanziell unabhängige Akademikerinnen seien. Und man kann das am Ende alles für die schöne neue Verpackung eines gar nicht so neuen Geschäftsmodells halten.

Doch die neuen Arbeitgeber - so erzählen es in Berlin zumindest Anwältinnen, Soziologinnen, Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen - bringen neue, angenehmere Umgangsformen in die Branche. Und dies nicht nur an der Spitze, wo Obers' Edelmusen 1800 Euro pro Nacht verdienen.

Jeder Besucher bekommt einen Apfel

Kerstin Berghäuser, 47, arbeitete früher selbst in Bordellen, heute lässt sie für sich arbeiten: in ihrem kleinen Bordell "Liberty" im Stadtteil Schöneberg. Liberty heißt Freiheit, und befreit hat der Club sie tatsächlich: von den finanziellen Sorgen, von einem Schuldenberg, der sie vor zwanzig Jahren nach Berlin zwang, ins Rotlichtgeschäft. 2007 hat sie ihr Bordell gegründet, 15 Zimmer auf zwei Etagen, jedes in einem anderen Stil, blaues, goldenes, Spiegelzimmer. Früher, als Bordelle noch illegal waren, stellten die Zuhälter den Frauen nicht einmal einen Aufenthaltsraum zur Verfügung, die Staatsanwaltschaft hätte es für "Förderung der Prostitution" halten können.

Heute öffnet Berghäusers Bordell morgens und schließt am Abend. Das Arbeiten dazwischen beschreibt die Chefin als "Direktgeschäft": Das Anbandeln mit betrunkenen Nachtclubbesuchern bleibt den Frauen erspart, Alkohol gibt es überhaupt nicht, dafür bekommt jeder Besucher einen Apfel geschenkt.

Den Frauen auf der Kurfürstenstraße hilft es freilich nur wenig, wenn Kerstin Berghäuser gute Arbeitsbedingungen schafft. Auch die polnische Frau mit den grünen Stiefeln hat nicht mehr Chancen als früher: Nur wenige, die sich prostituieren, entsprechen dem Schönheits- und Altersideal, das im Warmen und Trockenen verlangt wird.

Der Suchtdruck, die Schuldenberge, die Verzweiflung, welche die Frauen auf die Straße zwingt - dies alles konnte ein Gesetz nicht beseitigen, das lediglich die Prostitution ein wenig verträglicher regelt.


http://www.sueddeutsche.de/panorama/zeh ... -1.1246619
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

*****
Fakten und Infos über Prostitution

Benutzeravatar
Ariane
PlatinStern
PlatinStern
Beiträge: 1330
Registriert: 14.03.2008, 12:01
Wohnort: Berlin
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

RE: 10 Jahre Prostitutionsgesetz Bericht im SZ

Beitrag von Ariane »

Ok, werden folgenden Kommentar nach Neujahr dort reinstellen, da es über das Wochenende "gefreezt" ist.

Erbitte Verbesserungen oder mögliche Korrekturen bis einschl. 1. Januar, damit ich den Text in seiner verbesserungswürdigen Form dort einstellen kann.

mfg Ariane & das unsichtbare Kollektiv

***

Kommentar:Gesetzestext erlaubt SexarbeiterInnen die Tätigkeit als Selbständige mit eigener Steuernummer sowie die Möglichkeit als Angestellte mit regulärem Arbeitsvertrag.

Warum wenige Sexarbeiterinnen, Agenturen, Bordelle von dem letztgenannten Gebrauch machen, liegt zumeist an folgenden Gründen:
Sexarbeit wird von den meisten Anbieterinnen als kurzfristige und flexible Form des "selbständigen" Gelderwerbs gedacht, zumeist in Teilzeit auf einige Stunden am Tag oder nur wenige Tage oder stundenweise in der Woche begrenzt. Viele Frauen haben Kinder und/oder weitere berufliche Verpflichtungen, weshalb sie ihre Arbeit in der Sexarbeit zumeist nur ad hoc und nicht nach Fahrplan bestimmen können. Hinzu kommt die Tagesform. Als Angestellte wären sie zeit- und anwesenheitsgebunden, dies auf eine Mindeststundenzahl allwöchentlich oder monatlich im voraus terminiert, da der Arbeitgeber als Unternehmer in diesem Fall eine Planungssicherheit benötigt. Dies ist in der Praxis realitätsfremd, da das Prostitutionsgeschäft von einer starken Fluktuation mit wechselnden Arbeitsadressen der Anbieterinnen geprägt ist.

Eine Anwesenheitspflicht bei einer derart intimen Tätigkeit, würde sogar den Grundsatz der sexuellen Selbstbestimmung verletzen, wenn eine Sexarbeiterin gegen ihren ausdrücklichen Wunsch am Tag X arbeiten "müsste".
Sexarbeit ist im Prinzip eine freiberufliche, im Kern immer selbständige Tätigkeit, in der es kein Weisungsrecht seitens Arbeitgeber geben darf. Auch eine flexible Vertragsgestaltung in einem Angestelltenverhältnis verstösst gegen die im Kern selbstbestimmte Sexarbeit.
Selbst das Prostitutionsgesetz behauptet aus anderen, nämlich sittlichen und moralischen Werten weiterhin eine grundsätzliche Differenz zu anderen Berufen und relativiert damit die Berufsmässigkeit von Sexarbeit, wenngleich er durch die Gleichstellung als Erwerbstätigkeit eine Steuerpflicht reklamiert.
Und die Rechtspraxis unterläuft auf lokaler und Länderebene das Bundesgesetz, da sie in unterschiedlicher Weise die Arbeit als Gewerbe zulässt oder abweist. Bsp. Bayern. Sittenwidrigkeit wird weiterhin akklamiert (und faktisch durch das ProstG garnicht abgeschafft, siehe Gesetzestext) und daher im Regelfall keine Gewerbescheine für Bordelle ausgestellt.


Nicht nur steuerliche Sonderregelungen, sondern auch Gebietsverordnungen, also Sperrbezirksverordnungen und das implizite Prostitutionsverbot in grossen Landesteilen, auch kommunale Regelungen, wonach Ortschaften, Städte eine Mindesteinwohnerzahl in unterschiedlicher Höhe aufweisen müssen, um Prostitution vor Ort für zulässig zu erklären, kommen zum tragen, um eine weiterhin bestehende Kriminalisierung von Sexarbeit und Sexarbeiterinnen zu ermöglichen und eine Rechtssicherheit zu unterbinden. Mit diesen berufseinschränkenden Regulierungen schränkt die Rechtspraxis die freie Ausübung dieses Berufs jedoch ein. Auf dieser Grundlage ist es noch schwieriger, soziale Akzeptanz in der Gesellschaft zu gewinnen und erschwert und behindert die Bereitschaft zur steuerrechtlichen Anmeldung und unterläuft das eigene Selbstverständnis, einer gesetzlich legalen und selbstimmten Ausübung einer Dienstleistung nachzugehen. Dies sind auch die Ursachen des gefühlten Selbst-Stigmas und Scham vieler AnbieterInnen, die sie veranlassen, die Arbeit weiterhin im verborgenen und anonym auszuüben und/oder sich von sog. "Professionellen" (mit Steuernummer) abzugrenzen.

Ein anderer wesentlicher Grund, warum viele Sexarbeiterinnen von ihren Rechten und Pflichten häufig wenig Gebrauch machen, liegt darin, dass es keine ordnungspolitische Gesamtregelung in deutsche Land gibt. Davon ist die Gewerbezulassung, die Steuerart, die Versteuerungsart, Werbung/Werbeverbot in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich betroffen. Hinzu kommt das fortbestehende Stigma und die Konsequenzen, im sozialen und beruflichen Umfeld, Studium, wenn Sexarbeiter sich outen. Ängste des Verlusts des sozialen Netzwerks, aber auch nachteilige Auswirkungen gegenüber zukünftigen Arbeitgebern, veranlasst viele AnbieterInnen weiterhin anonym zu werkeln. Die Angst vor dem Finanzamt ist für viele weniger die Angst vor der Steuer, sondern sich mit seinem bürgerlichen Namen und Identität zu einer gesellschaftlich geächteten Arbeit bekennen zu müssen.


Berlin
Mir ist völlig unklar, wieso Sie behaupten können, dass der überwiegende Teil der Berliner Prostitution auf den Strassen ausübt und nur eine privilegierte Minderheit "im warmen" arbeitet.
Umgekehrt ist die Realität präziser einzuordnen. Nach meinen Kenntnissen gibt es kein Dutzend Strassenstriche, sondern vier bekannte, worüber sich in Berliner Freierforen ausgetauscht wird. Desweiteren gibt es Clubs und sehr viele Bordelle und Modellwohnungen (nach meinem jetzigen Kenntnisstand ca. 400) und durch Finanzamt und Polizeirazzien erhobene Daten von 4000-6000 SexarbeiterInnen, wobei es überhaupt keine eindeutige Zahl der Finanzbehörden gibt und geben kann, wieviele Prostituierte als Selbständige steuerlich gemeldet sind. Zwar gibt es die Möglichkeit einer so bezeichneten Steuernummer, die meisten AnbieterInnen firmieren meist unter anderen Bezeichnungen wie Modell, Masseuse, Escortservice, Heilpraktikerin uvm., weshalb es schwierig ist, aus o.g. Gründen einer gesellschaftlich betrachtet inakzeptablen Tätigkeit offiziell nachzugehen, sich eindeutig zum Beruf der Sexarbeit zu bekennen.

Bis heute hat sich aus gleichen Gründen in Deutschland keine eigene Interessenvertretung aus selbständigen Sexarbeitern gründen können, um für weiterführende soziale und politische Rechte zu kämpfen, die meines Erachtens notwenig wäre, um die Lebenspraxis der Männer und Frauen zu verbessern. Dies wird auch dadurch erschwert, da die Gruppe der "Prostituierten" - Prostitution ist im übrigen ein kriminalisierender Begriff - nicht homogen ist. Es gibt Sexarbeiter mit legalem Status aus Deutschland und EU-Ländern, die die Vorteile der neuen Gesetzgebung nutzen können, aber aus o.g. Gründen nicht wollen. Es gibt sehr viele MigrantInnen mit sog. illegalem Status und es gibt den Bereich der Beschaffungsprostitution, um Drogensucht zu finanzieren. Hier wäre eine liberalisierte Drogenpolitik die einzige Möglichkeit, Abhilfe zu schaffen.

Unterm Strich ist das ProstG ein Gewinn - viele unserer KollegInnen in aller Welt beneiden bspw. Neuseeland und Deutschland in diesem Fortschritt - und zugleich in vielen Teilen verbesserungswürdig. Der Verein Dona Carmen in Frankfurt hat dazu einige luzide Analysen eingebracht. Derweil wird nach meinem internationalen Kenntnisstand von christlich-fundamentalistischen Sekten seit den 90ern eine europäische Permanent-Campaign gegen die Legalisierung der Sexarbeit gefahren (siehe Schweden-Modell), schauen Sie sich mal die düstere Gesetzeslage in Österreich und die derzeitige Diskussion in Frankreich an. Die Diskussion fokussiert auf Sexarbeit, obwohl wir es mit armutsbedingten Wanderungsbewegungen in Folge der Globalisierung zu tun haben und Sexarbeit nur ein Feld ist, wo soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit durchschlägt.
Fragen Sie doch mal in die SZ-Herrenrunden und anderswo, wer seinen letzten Urlaub in Kambodscha und Thailand verbracht hat? Sie werden keine Antworten hören, ausser dass man sich ausnahmslos über "Schnäppchen" und Sex mit Minderjährigen freut? Warum werden nicht all jene Männer und Bürger befragt, die unser Angebot tagtäglich in Anspruch nehmen? Ganz einfach, weil die Gruppe der SexarbeiterInnen nicht als gleichberechtigte Verhandlungs- und Diskussionspartner wahrgenommen wird; dies in aller Welt. Man schreibt und redet über uns, manche promovieren über uns oder schaffen sich über uns Karrierewege in der Helfer-Industrie. Diese Helfer können wir nicht gebrauchen. Es gibt in jedem Land dieser Welt sich selbst artikulierende Individuen, mit denen man sprechen kann und die haben einiges zu sagen. Zum Beispiel, dass ich und viele politische Aktivistinnen in aller Welt es satt haben, mit dem Thema "Prostitution" eure Quoten und Auflagen zu füllen, dass ihr uns verwertet, mit Dünkel und Bigotterie, uns, Menschen, die nichts anderes im Sinn haben, anderen Bürgern eine zufriedene und befriedigende Zeit zu schenken.
Warum sprechen die Herren und Damen JournalistInnen nicht mit uns, sondern mit SozialarbeiterInnen, Alice Schwarzer, traumatisierte Helfer wie Lea Ackermann? Wir haben nämlich eine Stimme, können denken und sprechen. Können uns auch zum Thema Menschenhandel, Zwangsprostitution befragen - was in unseren Augen nichts anderes als Sklaverei ist - und konkret werden wir uns über sozio-ökonomische Gefälle äussern, Fragen der sozialen Teilhabe. Wer will eine Nutte schon teilhaben und mitdiskutieren lassen, ausser ein Nutten- und Aussteigerroman befeuchtet die Fantasien mancher Verleger. Wir können nicht nur blasen, sondern denken. Stellen Sie sich das mal vor? Im 21. Jahrhundert. Wo gibt es das denn? Suchen Sie sich die Adressen und Ansprechpartner aus dem Internet, hier werden Sie international geholfen.

Aktive SexarbeiterInnen und politische AktivistInnen werden in die Beratung zur aktuellen Gesetzesnovellierung nicht eingebunden und liegt ja seit Monaten im Familienministerium bei Ministerin Schröder, was viele JournalistInnen offensichtlich auch nicht wissen, wie ich im Gespräch mit manchen herausgefunden habe. Übrigens Ministerin Schröder ist Mitglied einer evangelikalen Sekte. Darüber können sie schreiben und inwieweit ihre Weltanschauung ihr politisches Gewissen beeinflusst.

mfg A.G. Goldschwanz

PS: Schön, dass Sie eine Agentur mit einem Werbefritzen promoten. Wussten Sie, dass für die Erstellung einer Sedcard einer Newcomerin 2000-2500€ fällig sind, bevor sie einen einzigen Stich geleistet hat? Hat mir eine Mitarbeiterin aus dem Hause Brentano erzählt. Von Recherche halten Sie offensichtlich nichts. Hinzu kommt, dass die Musen mit Nachnamen promotet werden, von Denkern, Freigeistern und Dichtern und ihr kulturelles Erbe zweckentfremdet und unverstanden vermarktet wird. Aber in der Blender-Generation a la Guttenberg und anderen Plagiateuren bleibt auch dies unverstanden.

PPS: Ob Muse, Kurtisane, Hobby-Hure oder sog. Professionelle: niemand, auch meine KollegInnen, braucht sich irgend etwas einbilden. Aus Sicht der Gesellschaft sind wir nur "bezahlte" Nutten, keine gleichberechtigten Bürger. Hört auf, euch voneinander abzugrenzen, wir sitzen alle im gleichen Boot.
love people, use things - not the other way round

ehemaliger_User
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 2968
Registriert: 27.04.2008, 15:25
Ich bin: Keine Angabe

Beitrag von ehemaliger_User »

Gut argumentiert.

Im PPS: würde ich schreiben "Hört auf, uns voneinander..." oder den Satz weglassen. Der Kommentar richtet sich an die Journalisten und an die Leser, nicht ausschliesslich an SexarbeiterInnen.
Auf Wunsch des Users umgenannter Account