Viktorianische Moralvorstellung heute noch vorhanden?
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- Admina
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Viktorianische Moralvorstellung heute noch vorhanden?
Der Westen und der viktorianischen Sex
Die in der westlichen Welt weitverbreiteten Blockaden in Bezug auf Sex kann man zu einem guten Teil auf die Herrschaft der britischen Königin Viktoria und ihres Gatten Albrecht zurückführen. Victorias Regierungszeit zwischen 1837 und 1901 war von strikten Moralvorstellungen, sexueller Unterdrückung und niedriger Verbrechenstoleranz geprägt.
Weibliche Homosexualität wurde totgeschwiegen,männliche war verboten.Dank des Britisch Empire verbreiteten sich viktorianische Werte überall auf der Welt.
Auf dem Höhepunkt der viktorianischen Ära war es zum Beispiel üblich, Möbelbeine (etwa von Tischen) zu verhüllen, um beim Betrachter keine sexuellen Gefühle zu erregen. Badeanzüge bedeckten in jener Zeit bei Männern wie Frauen fast den ganzen Körper. Victoria dekretierte sogar, dass in besserer Gesellschaft eine Hühnchenbrust als „Brüste“ zu gelten habe, und verbot Werbung für weibliche Unterkleidung. Damals wie heute setzen viele Menschen Nackheit mit sexueller Erregung gleich.
Die viktorianische Gesellschaft war so prüde, dass es als unanständig galt, im Beisein des anderen Geschlechts das Wort „Beine“ zu verwenden. Man spach stattdessen von „Gliedmaßen“.
Viktorianische Frauen lernten, niemals und unter keinen Umständen sexuelle Avancen zu provozieren oder sich Fantasien hinzugeben, sondern lebten in stiller Hingabe an Ehemann, Familie und Vaterland. Der gesellschafte Erfolg eines Mannes war ein Stück weit auch von der Passivität seiner Frau abhängig, der eigene sexuelle Bedürfnisse völlig abgesprochen wurden. Man war der Ansicht, dass Frauen keinen Sex mochten und nur der männliche Geschlechtsdrang sie dazu zwang, „nachzugeben“; Bücher aus dieser Zeit legten dem anständigen Ehemann nahe, nicht häufiger als einmal pro Halbjahr Sex von seiner Ehefrau zu erwarten, und gaben ihm gute Ratschläge zur Unterdrückung seiner Trieb. Frauen indes wurde empfohlen, sich beim Geschlechtsakt hinzulegen, die Augen zu schließen und „an England zu denken.“
In englischsprachigen Ländern, vor allem in Großbritannien, haben die Menschen deshalb viel mehr sexuellen Blockaden als in jenen europäischen Ländern, die nicht von viktorianischen Moralvorstellungen geprägt sind.
(Quelletext: Warum Männer immer Sex wollen und Frauen von der Liebe träumen von Allan & Barbara Pease)
Als ich diesen Text las, stellte sich mir die Frage : „Was hatten die Männer in diesen Zeit für eine andere Möglichkeit als zu einer Prostituierte zu gehen. War in der Viktorianische Zeit ein Hochkonjunktur in der Prostitution?
Quelle aus Wikipedia:
Als Beispiel für viktorianische Doppelmoral wird oft die ausufernde Prostitution genannt, die scheinbar der oftmals gepriesenen Selbstbeherrschung und ehelichen Treue widerspricht. Tatsächlich tendierten viele Männer des Mittelstands dazu, die Heirat bis zum Aufbau einer gewissen finanziellen Sicherheit aufzuschieben und Zuflucht bei Prostituierten – deren tatsächliche Gesamtzahl schwer zu ermitteln ist – zu suchen. Umgekehrt erschien die Prostitution vielen Frauen, hauptsächlich aus der Unterschicht, als Möglichkeit zur Aufbesserung des Einkommens. Nach zahlreichen Fällen von Geschlechtskrankheiten im Militär wurden in den 1860er Jahren die Contagious Diseases Actsverabschiedet, die ärztliche Zwangsuntersuchungen bei mutmaßlichen Prostituierten, nicht aber bei Soldaten anordneten. Dies schien legitim, da „gefallene Mädchen“ als bereits verdorben galten. Unter Josephine Butler formierte sich organisierter Widerstand, der das Thema in der Öffentlichkeit politisierte und letztendlich zur Aufhebung der Gesetze 1886 führte. 1885 wurde ein Gesetz verabschiedet, das dasSchutzalter anhob, höhere Strafen für Bordellbesitzer festlegte und homosexuelle Handlungen kriminalisierte.
Das Konzept der Sexualität selbst entstand im 19. Jahrhundert und wurde von Wissenschaft, Kriminalistik und Justiz aufgegriffen; in den 1890er Jahren leisteten Havelock Ellis und andere wichtige Beiträge zur Sexualforschung. Sexualität wurde kategorisiert, so etwa entstand der Begriff des „Homosexuellen“. Sex galt als tierisch-primitive Verhaltensweise, die kontrolliert werden und mit der sparsam umgegangen werden musste, da andernfalls die Karriere des Einzelnen oder gar die gesamte Wirtschaft leiden könnte. Diese Betrachtungsweise lässt sich auf den Evangelikalismus zurückführen, der in seiner extremen Form jegliches Vergnügen als unmoralisch betrachtete. Dank der Erschließung neuer, das Privatleben betreffender Textquellen in Archiven stellt sich jedoch heute das Sexualleben der Viktorianer differenzierter dar, als die gängige Meinung nahe legt.
Gott sei Dank ist es heute nicht mehr, aber was ist davon noch übrig geblieben?
Ist einiges von der verdrehte Moralvorstellung dieser Prüderie aus der viktorianische Zeit in den Köpfen der Menschen heute noch vorhanden?
Besonders wenn Prostitution öffentlich wird, wie auf dem Straßenstrich, das man es lieber indoor hat oder dort hin verdrängt, das das was ich nicht sehe, das gibt es nicht!
Lieber Grüße, Fraences
Die in der westlichen Welt weitverbreiteten Blockaden in Bezug auf Sex kann man zu einem guten Teil auf die Herrschaft der britischen Königin Viktoria und ihres Gatten Albrecht zurückführen. Victorias Regierungszeit zwischen 1837 und 1901 war von strikten Moralvorstellungen, sexueller Unterdrückung und niedriger Verbrechenstoleranz geprägt.
Weibliche Homosexualität wurde totgeschwiegen,männliche war verboten.Dank des Britisch Empire verbreiteten sich viktorianische Werte überall auf der Welt.
Auf dem Höhepunkt der viktorianischen Ära war es zum Beispiel üblich, Möbelbeine (etwa von Tischen) zu verhüllen, um beim Betrachter keine sexuellen Gefühle zu erregen. Badeanzüge bedeckten in jener Zeit bei Männern wie Frauen fast den ganzen Körper. Victoria dekretierte sogar, dass in besserer Gesellschaft eine Hühnchenbrust als „Brüste“ zu gelten habe, und verbot Werbung für weibliche Unterkleidung. Damals wie heute setzen viele Menschen Nackheit mit sexueller Erregung gleich.
Die viktorianische Gesellschaft war so prüde, dass es als unanständig galt, im Beisein des anderen Geschlechts das Wort „Beine“ zu verwenden. Man spach stattdessen von „Gliedmaßen“.
Viktorianische Frauen lernten, niemals und unter keinen Umständen sexuelle Avancen zu provozieren oder sich Fantasien hinzugeben, sondern lebten in stiller Hingabe an Ehemann, Familie und Vaterland. Der gesellschafte Erfolg eines Mannes war ein Stück weit auch von der Passivität seiner Frau abhängig, der eigene sexuelle Bedürfnisse völlig abgesprochen wurden. Man war der Ansicht, dass Frauen keinen Sex mochten und nur der männliche Geschlechtsdrang sie dazu zwang, „nachzugeben“; Bücher aus dieser Zeit legten dem anständigen Ehemann nahe, nicht häufiger als einmal pro Halbjahr Sex von seiner Ehefrau zu erwarten, und gaben ihm gute Ratschläge zur Unterdrückung seiner Trieb. Frauen indes wurde empfohlen, sich beim Geschlechtsakt hinzulegen, die Augen zu schließen und „an England zu denken.“
In englischsprachigen Ländern, vor allem in Großbritannien, haben die Menschen deshalb viel mehr sexuellen Blockaden als in jenen europäischen Ländern, die nicht von viktorianischen Moralvorstellungen geprägt sind.
(Quelletext: Warum Männer immer Sex wollen und Frauen von der Liebe träumen von Allan & Barbara Pease)
Als ich diesen Text las, stellte sich mir die Frage : „Was hatten die Männer in diesen Zeit für eine andere Möglichkeit als zu einer Prostituierte zu gehen. War in der Viktorianische Zeit ein Hochkonjunktur in der Prostitution?
Quelle aus Wikipedia:
Als Beispiel für viktorianische Doppelmoral wird oft die ausufernde Prostitution genannt, die scheinbar der oftmals gepriesenen Selbstbeherrschung und ehelichen Treue widerspricht. Tatsächlich tendierten viele Männer des Mittelstands dazu, die Heirat bis zum Aufbau einer gewissen finanziellen Sicherheit aufzuschieben und Zuflucht bei Prostituierten – deren tatsächliche Gesamtzahl schwer zu ermitteln ist – zu suchen. Umgekehrt erschien die Prostitution vielen Frauen, hauptsächlich aus der Unterschicht, als Möglichkeit zur Aufbesserung des Einkommens. Nach zahlreichen Fällen von Geschlechtskrankheiten im Militär wurden in den 1860er Jahren die Contagious Diseases Actsverabschiedet, die ärztliche Zwangsuntersuchungen bei mutmaßlichen Prostituierten, nicht aber bei Soldaten anordneten. Dies schien legitim, da „gefallene Mädchen“ als bereits verdorben galten. Unter Josephine Butler formierte sich organisierter Widerstand, der das Thema in der Öffentlichkeit politisierte und letztendlich zur Aufhebung der Gesetze 1886 führte. 1885 wurde ein Gesetz verabschiedet, das dasSchutzalter anhob, höhere Strafen für Bordellbesitzer festlegte und homosexuelle Handlungen kriminalisierte.
Das Konzept der Sexualität selbst entstand im 19. Jahrhundert und wurde von Wissenschaft, Kriminalistik und Justiz aufgegriffen; in den 1890er Jahren leisteten Havelock Ellis und andere wichtige Beiträge zur Sexualforschung. Sexualität wurde kategorisiert, so etwa entstand der Begriff des „Homosexuellen“. Sex galt als tierisch-primitive Verhaltensweise, die kontrolliert werden und mit der sparsam umgegangen werden musste, da andernfalls die Karriere des Einzelnen oder gar die gesamte Wirtschaft leiden könnte. Diese Betrachtungsweise lässt sich auf den Evangelikalismus zurückführen, der in seiner extremen Form jegliches Vergnügen als unmoralisch betrachtete. Dank der Erschließung neuer, das Privatleben betreffender Textquellen in Archiven stellt sich jedoch heute das Sexualleben der Viktorianer differenzierter dar, als die gängige Meinung nahe legt.
Gott sei Dank ist es heute nicht mehr, aber was ist davon noch übrig geblieben?
Ist einiges von der verdrehte Moralvorstellung dieser Prüderie aus der viktorianische Zeit in den Köpfen der Menschen heute noch vorhanden?
Besonders wenn Prostitution öffentlich wird, wie auf dem Straßenstrich, das man es lieber indoor hat oder dort hin verdrängt, das das was ich nicht sehe, das gibt es nicht!
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Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)
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RE: Viktorianische Moralvorstellung heute noch vorhanden?
Liebe Fraences,
danke für diesen anregenden Beitrag!
Es sieht so aus, als wäre diese viktorianische Vorstellung ein stets präsentes und regelmässig verstärkt wiederkehrendes Phänomen: Sexualität als etwas Schmutziges, das unterdrückt werden muss, um zum Lebensglück innerhalb einer reinen und gottgefälligen Gesellschaft zu gelangen. Bezeichnend ist die Bedeutung, die der Gesellschaft zugewiesen wird: sie muss durch gegenseitige Überwachung und durch Zwangsmassnahmen die allgemeine Reinheit und Sauberkeit erzwingen.
Der Sexualtrieb wird in dieser Vorstellung allein den Männern zugewiesen. Frauen wollen demnach keine Sexualität und, wie Du schreibst, lassen sie nur widerwillig als Pflichterfüllung zur Fortpflanzung und als Gefallen für den Ehemann zu - es sei denn, es handelt sich um kranke Frauen, die in der Irrenanstalt behandelt werden müssen.
Frauen müssen in allererster Linie "rein" sein, überhaupt spielen Begriffe wie Reinheit, Ordnungsmässigkeit, Korrektheit, gesellschaftlicher Konsens eine grosse Rolle. Individualität, individuelle Freiheit, Selbstbestimmtheit, Toleranz werden als Gegenbegriffe wahrgenommen und bekämpft: als Zügellosigkeit, dämonische Gewalt, Verstoss gegen den gesellschaftlichen Konsens.
Über die Gewalttätigkeit dieser widerwärtigen Vorstellungen darf man sich keine Illusionen machen. Sie sind tief verankert in bestimmten protestantischen Kulturen in Amerika oder auch in Schweden. Es scheint auch so, dass sie nach Phasen der Toleranz periodisch wiederkehren, wie in Schweden, das einmal als liberaler Pionier galt, zum Beispiel in der Bekämpfung von Pornographieverboten.
Irgendwo habe ich einmal gelesen (die Quelle weiss ich nicht mehr), dass Königin Victoria selbst durchaus sexuell aktiv und interessiert gewesen sei. In ihren Albert muss sie irrsinnig verliebt gewesen sein. Später scheint ihr Stallmeister Brown eine Rolle gespielt zu haben, die zu Spekulationen Anlass gab.
LG,
Friederike
danke für diesen anregenden Beitrag!
Es sieht so aus, als wäre diese viktorianische Vorstellung ein stets präsentes und regelmässig verstärkt wiederkehrendes Phänomen: Sexualität als etwas Schmutziges, das unterdrückt werden muss, um zum Lebensglück innerhalb einer reinen und gottgefälligen Gesellschaft zu gelangen. Bezeichnend ist die Bedeutung, die der Gesellschaft zugewiesen wird: sie muss durch gegenseitige Überwachung und durch Zwangsmassnahmen die allgemeine Reinheit und Sauberkeit erzwingen.
Der Sexualtrieb wird in dieser Vorstellung allein den Männern zugewiesen. Frauen wollen demnach keine Sexualität und, wie Du schreibst, lassen sie nur widerwillig als Pflichterfüllung zur Fortpflanzung und als Gefallen für den Ehemann zu - es sei denn, es handelt sich um kranke Frauen, die in der Irrenanstalt behandelt werden müssen.
Frauen müssen in allererster Linie "rein" sein, überhaupt spielen Begriffe wie Reinheit, Ordnungsmässigkeit, Korrektheit, gesellschaftlicher Konsens eine grosse Rolle. Individualität, individuelle Freiheit, Selbstbestimmtheit, Toleranz werden als Gegenbegriffe wahrgenommen und bekämpft: als Zügellosigkeit, dämonische Gewalt, Verstoss gegen den gesellschaftlichen Konsens.
Über die Gewalttätigkeit dieser widerwärtigen Vorstellungen darf man sich keine Illusionen machen. Sie sind tief verankert in bestimmten protestantischen Kulturen in Amerika oder auch in Schweden. Es scheint auch so, dass sie nach Phasen der Toleranz periodisch wiederkehren, wie in Schweden, das einmal als liberaler Pionier galt, zum Beispiel in der Bekämpfung von Pornographieverboten.
Irgendwo habe ich einmal gelesen (die Quelle weiss ich nicht mehr), dass Königin Victoria selbst durchaus sexuell aktiv und interessiert gewesen sei. In ihren Albert muss sie irrsinnig verliebt gewesen sein. Später scheint ihr Stallmeister Brown eine Rolle gespielt zu haben, die zu Spekulationen Anlass gab.
LG,
Friederike
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Liebe Fraences,
das Phänomen, das Du vorgestellt hast, berührt meines Erachtens das grundsätzliche Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Beide, obwohl nicht identisch, sind doch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, haben aber unterschiedliche Interessen. Das führt zwangsläufig zu Reibereien. Das Individuum, das leider nur selten dem kategorischen Imperativ folgt, hätte es meistens gerne, wenn alles erlaubt wäre, was ihm nicht schadet. Die Gemeinschaft hingegen muss normieren, um die Interessen aller unter einen Hut zu bringen: Sie erfindet Gesetze und schränkt damit die Individualität ein.
Es passiert häufig, auch in einer an sich gut funktionierenden Demokratie, dass eine relativ kleine Gruppe der Mehrheitsgesellschaft ihren Willen aufzwingt, weil diese in ganz bestimmten Punkten entweder Interessenlosigkeit an den Tag legt, oder eigene Machtinteressen nur mit Hilfe dieser relativ kleinen Gruppe realisieren zu können glaubt. In Sachen Toleranz gegenüber SW war und ist das m.E. im viktorianischen England und heutigem Schweden der Fall.
Was ist im einer solchen Situation zu tun, um Verhältnisse zu bessern? Meines Erachtens hilft es wenig, der Mehrheitsgesellschaft die eigene Befindlichkeit vorzujammern. Erfolgversprechender erscheint es mir, ihr die eigenen Interessen vor Augen zu führen: Was ist euch lieber, die Sache unter den Teppich zu kehren, damit sie dort ein unkontrolliertes Eigendasein entfaltet, oder sie in gesetzlich geregelte Bahnen zu lenken, wo sie jederzeit kontrolliert werden kann (und wo Steuereinkünfte fließen). Ich habe mir meinen Optimismus noch so weit bewahrt, dass ich annehme, dass auch ein blonder und blauäugiger Schwede ob dieser Frage irgendwann einmal ins Grübeln kommt, zumal ich über die genannten äußeren Merkmale selbst verfüge (Stichwort: Stigmatisierung:-))).
Liebe Grüße
rainman
das Phänomen, das Du vorgestellt hast, berührt meines Erachtens das grundsätzliche Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Beide, obwohl nicht identisch, sind doch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, haben aber unterschiedliche Interessen. Das führt zwangsläufig zu Reibereien. Das Individuum, das leider nur selten dem kategorischen Imperativ folgt, hätte es meistens gerne, wenn alles erlaubt wäre, was ihm nicht schadet. Die Gemeinschaft hingegen muss normieren, um die Interessen aller unter einen Hut zu bringen: Sie erfindet Gesetze und schränkt damit die Individualität ein.
Es passiert häufig, auch in einer an sich gut funktionierenden Demokratie, dass eine relativ kleine Gruppe der Mehrheitsgesellschaft ihren Willen aufzwingt, weil diese in ganz bestimmten Punkten entweder Interessenlosigkeit an den Tag legt, oder eigene Machtinteressen nur mit Hilfe dieser relativ kleinen Gruppe realisieren zu können glaubt. In Sachen Toleranz gegenüber SW war und ist das m.E. im viktorianischen England und heutigem Schweden der Fall.
Was ist im einer solchen Situation zu tun, um Verhältnisse zu bessern? Meines Erachtens hilft es wenig, der Mehrheitsgesellschaft die eigene Befindlichkeit vorzujammern. Erfolgversprechender erscheint es mir, ihr die eigenen Interessen vor Augen zu führen: Was ist euch lieber, die Sache unter den Teppich zu kehren, damit sie dort ein unkontrolliertes Eigendasein entfaltet, oder sie in gesetzlich geregelte Bahnen zu lenken, wo sie jederzeit kontrolliert werden kann (und wo Steuereinkünfte fließen). Ich habe mir meinen Optimismus noch so weit bewahrt, dass ich annehme, dass auch ein blonder und blauäugiger Schwede ob dieser Frage irgendwann einmal ins Grübeln kommt, zumal ich über die genannten äußeren Merkmale selbst verfüge (Stichwort: Stigmatisierung:-))).
Liebe Grüße
rainman
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Ich frage mich (und ich bitte dies absolut ernst zu nehmen, ich bin mir in dieser Sache selbst noch nicht sicher), ob dieser Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft real so existiert, dass nur die implizierte utopische Lösungsmöglichkeit dass jeder sich an den kategorischen Imperativ hielte in Frage kommt.rainman hat geschrieben:... Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Beide, obwohl nicht identisch, sind doch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, haben aber unterschiedliche Interessen. Das führt zwangsläufig zu Reibereien. Das Individuum, das leider nur selten dem kategorischen Imperativ folgt, hätte es meistens gerne, wenn alles erlaubt wäre, was ihm nicht schadet. Die Gemeinschaft hingegen muss normieren, um die Interessen aller unter einen Hut zu bringen: Sie erfindet Gesetze und schränkt damit die Individualität ein.
Selbstverständlich stimme ich der Aussage dass Individuum und Gesellschaft auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind vorbehaltlos zu.
Aber beweist nicht gerade das, dass auch der Bedarf nach gesellschaftlicher Integration im Menschen selbst angelegt ist? Somit soziales Verhalten nicht anders als individuelles Verhalten von Innen kommen müsste, wenn man es nur ließe?
"Das Individuum, ... hätte es meistens gerne, wenn alles erlaubt wäre, was ihm nicht schadet." - stimmt das wirklich? Wer sieht sich selbst denn so hier? Für mich selbst möchte ich diese Feststellung verneinen, unabhängig von intellektuell-moralischen Begriffen wie "erlaubt", ich möchte schon gar nichts tun, was anderen schadet. Und bei etwas weiterem Blickwinkel zeigt sich dazu, dass "die Gesellschaft" in der Praxis keineswegs Schädliches verbietet, sonst müsste ja eine solche Beobachtung:
ins Reich der Fabel verwiesen werden.rainman hat geschrieben:Es passiert häufig, auch in einer an sich gut funktionierenden Demokratie, dass eine relativ kleine Gruppe der Mehrheitsgesellschaft ihren Willen aufzwingt, ...
Die Vorstellung der Mensch müsse zu seinem sozialen Wesen durch die Gesellschaft gezwungen werden, weil er dieses (unerklärlicherweise, ist es doch *auch* sein Wesen) bedeutend weniger gerne ausleben würde als seine rücksichtslose Individualität - ich weiß nicht, mir scheint das eine theoretische Parallelwelt zu sein, die mit der tatsächlichen Art des Menschen wenig zu tun hat.
Und da frage ich mich schon, ob diese Philosophie eventuell nur konstruiert wurde, um der relativ kleinen Gruppe, die der Mehrheitsgesellschaft ihren Willen aufzwingt einen theoretische Rechtfertigung zu geben.
Wenn der Mensch an sich (was ich absolut nicht glaube) tatsächlich so assozial sein sollte, dass diese beschriebenen Nebenwirkungen einer "an sich gut funktionierenden Demokratie" in Kauf genommen werden müssen - hmmm, wer würde sich denn dann durch dieses Argument überzeugen lassen? Ohne das ureigene Bedürfnis mit seinen Mitmenschen in Frieden zu leben kann die Argumentation mit "gesellschaftlicher Notwendigkeit" doch kaum überzeugen? Wer von denen, die tatsächlich nur ihre egozentrische Individualität ausleben möchten würde dann einer kleinen Gruppe anderer Menschen die Macht überlassen?
Um auf Fraences' engeres Thema, die viktorianische Sexualmoral, zurückzukommen:
Sie ist letztlich ja nur die Übersteigerung der schon länger vorbestehenden britischen Sexualmoral und Geschlechterphilosophie. Und da gibt es ein historisches Beispiel, dass das krasse Gegenteil keineswegs gesellschaftsschädlich ist (English):
http://www.irishcentral.com/roots/Bad-r ... 67353.html
Nicht einmal die (an sich ja schon höchst fragwürdige) Hypothese, dass das britische Prinzip seine Überlegenheit durch den militärischen Sieg bewiesen habe kann hier angebracht werden, das es einen solchen Sieg niemals gegeben hat.
Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht auch, dass in Ulster, dem mit Abstand homophobsten Gebiet des gesamten westlichen Kulturkreises, CSD- und pride-Paraden vom politischen Widerstand gegen die britische Besatzung organisiert und öffentlich unterstützt werden.
Dass das in Mitteleuropa so anders aussieht, dass man hier "progressiv" sein muß um Freiheit und (auch sexuelle) Selbstbestimmung zu vertreten, und sich somit dem historisch falschen Vorwurf ausgesetzt sieht man strebe eine in der Praxis niemals funktionierenkönnende Utopie an, sehe ich im Zusammenhang mit den Hexenverbrennungen. Auch wenn ich angesichts der Komplexität der Genetik eine echte Veränderung des Genpools durch Ausrottung für ausgeschlossen halte (ansonsten dürften ja auch in dieser Population nicht doch hin und wieder neue Freiheitskämpfer auftreten), so kann ich mir durchaus vorstellen, dass die massive Traumatisierung des kollektiven Unbewußten, eventuell kombiniert mit einer epigenetischen Weitergabe der historischen Traumata, zu den beobachbaren Fakten führen:
Super-nette, sozialverträgliche und intelligente Menschen fühlen sich hierzulande im tiefsten Inneren so "schuldig", dass sie ohne realen Anlass einfach glauben sie seien so schlecht, dass eine von absoluten Minderheiten terrorisierte Gesellschaft die einzige Rettung vor der "Schlechtigkeit des Menschen" wäre. Und somit auch das Bewußtsein verloren geht für die Unvereinbarkeit von einer Gemeinschaft die sich selbst Normen zum Interessenausgleich gibt mit einem letzlich durch eine Minderheit ("Zünglein an der Waage") autorisierten "Gesetzgeber".
Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
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Individuum und Gesellschaft
@rainman,
Deine Argumentation hört an einem sehr frühen Punkt auf, nämlich dort, wo es spannend wird!

Welche Rolle spielt die Kultur? Welche Rolle spielen Psychosen bei der Bestimmung einer Kultur ...? Ist die Neigung, gesellschaftliche Regeln zur Unterdrückung der Sexualität, vor allem der weiblichen Sexualität zu erfinden und zu erzwingen, ein zulässiges gesellschaftliches "Interesse" oder eine gemeingefährliche Psychose?
Liebe Grüße
Friederike
(ebenfalls blond & blauäugig)
Deine Argumentation hört an einem sehr frühen Punkt auf, nämlich dort, wo es spannend wird!

Gewiss - aber gibt es dabei nicht Grenzen und Spielregeln? Will das Individuen wirklich nur das Kriterium gelten lassen, dass "alles erlaubt wäre, was ihm nicht (erg.: aber vielleicht anderen) schadet"? Muss die Gemeinschaft wirklich alle Interessen "unter einen Hut bringen", oder gibt es vielleicht individuelle Freiheiten, die beim Untereinenhutbringen nicht eingeschränkt werden dürfen?rainman hat geschrieben:Das Individuum, das leider nur selten dem kategorischen Imperativ folgt, hätte es meistens gerne, wenn alles erlaubt wäre, was ihm nicht schadet. Die Gemeinschaft hingegen muss normieren, um die Interessen aller unter einen Hut zu bringen: Sie erfindet Gesetze und schränkt damit die Individualität ein.
Welche Rolle spielt die Kultur? Welche Rolle spielen Psychosen bei der Bestimmung einer Kultur ...? Ist die Neigung, gesellschaftliche Regeln zur Unterdrückung der Sexualität, vor allem der weiblichen Sexualität zu erfinden und zu erzwingen, ein zulässiges gesellschaftliches "Interesse" oder eine gemeingefährliche Psychose?
Geht es wirklich nur um Zweckmäßigkeit? Oder um individuelle Freiheiten und Menschenrechte?rainman hat geschrieben:Erfolgversprechender erscheint es mir, ihr die eigenen Interessen vor Augen zu führen: Was ist euch lieber, die Sache unter den Teppich zu kehren, damit sie dort ein unkontrolliertes Eigendasein entfaltet, oder sie in gesetzlich geregelte Bahnen zu lenken, wo sie jederzeit kontrolliert werden kann (und wo Steuereinkünfte fließen).
Liebe Grüße
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Re: Individuum und Gesellschaft

Liebe Friederike,friederike hat geschrieben:Welche Rolle spielt die Kultur? Welche Rolle spielen Psychosen bei der Bestimmung einer Kultur ...? Ist die Neigung, gesellschaftliche Regeln zur Unterdrückung der Sexualität, vor allem der weiblichen Sexualität zu erfinden und zu erzwingen, ein zulässiges gesellschaftliches "Interesse" oder eine gemeingefährliche Psychose?
ich denke diese Frage sollten wir vermeiden. Nicht dass ich anderer Meinung wäre als du, sondern einfach weil es zu subjektiv wird. Auf dieser Ebene zahlen wir nur mit gleicher Münze zurück, in unseren Augen zwar absolut gerechtfertigt, aber die Definition der Prostitutionsgegner, dass unsere positive Anschaung auf einem systematisierten Wahn beruht wird dadurch nicht widerlegt, sondern es steht dann nur Meinung gegen Meinung.
Mit objektiver Berechtigung hingegen können wir feststellen, dass es sich bei der sexualfeindlichen Einstellung der für die Prostitutionsbekämpfung Verantwortlichen (ob jetzt hochrangige Politiker, Agitatoren wie Schwarzer oder Ackermann, oder die eher unbedeutenden Figuren im Felberstraßendrama) um eine Perversion im Sinne von Prof. Peter Fiedler /Heidelberg handelt, da aus sexuell motiviertem (und sei es hier auch im negativen Sinn) Handeln Opfer geschaffen werden.
Insofern entfällt dann auch die Frage der Definitionsmacht, ob "die Gesellschaft" hieran ein berechtigtes Interesse haben kann. Eine Gesellschaft, die sich selbst zugesteht an perversen Handlungsweisen ein berechtigtes Interesse zu haben ist ja selbst pervers. Das ist wie der Pädophilenschutz in der Parallelgesellschaft "römisch-katholische Kirche": Dass die jeweils in dieser Gesellschaft Maßgeblichen das decken macht weder Pädophilie noch Putophobie weniger pervers. Die repräsentativ-demokratische "Legitimation" kann solche Perversionen ebensowenig "normalisieren" wie eine priesterliche Hierarchie das kann. Solange wir selbst nicht mit öffentlichen sexuellen Handlungen die Symmetrie wieder herstellen können wir bei dieser Argumentation das gegenseitige Vorwerfen an einer Psychose erkrankt zu sein vermeiden.
Was zwar die mit brutaler Waffengewalt durchgesetzte Überlegenheit des sich "die Gesellschaft" nennenden Staats nicht aufhebt, aber auch die Sicherheit im Gegensatz zum politischen Gegner moralisch hochwertig zu handeln ist schon viel wert. Dann tritt nämlich die in meiner Signatur nach Vol. MP Bobby Sands zitierte Gesetzmäßigkeit in Kraft.
Liebe Grüße, Aoife
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Hallo Aoife und Friederike,
was ist - der alte rainman hat aufgehört zu schreiben, als es gerade anfing spannend zu werden? Kein Problem! Diskutieren wir doch einfach weiter:
Auch ich richte mich so wie Aoife - und wohl auch Du, liebe Friederike - beim Umgang mit meinen Mitmenschen nach dem kategorischen Imperativ. (Für alle, die hier mitlesen: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu". Immanuel Kant formuliert das komplizierter, meint aber dasselbe.) Mit uns tun das sicher noch Abertausende von anderen Zeitgenossen. Indes kenne ich einen Juristen persönlich, einen Staatsanwalt, der sich berufsbedingt mit der Drogenmafia derart angelegt hat, dass er auch noch im Ruhestand ständigen Polizeischutz in Anspruch nehmen muss. Dieser Mann hat einmal zu mir gesagt: Hast du eine Ahnung, wie es wohl auf dieser Welt aussähe, wenn es uns nicht gäbe. Selbst wenn man bedenkt, dass jeder seine Umwelt durch die eigene subjektive Brille sieht und sich und seinen Job für unverzichtbar hält, wird da wohl schon etwas dran sein.
Es müssen ja nicht immer Drogenbosse sein. Was ist z.B. mit den Leuten im Nadelstreifenanzug, die tagein tagaus mit Nahrungsmittelpreisen spekulieren und den Abermillionen, die sich in ihrer Profitgier als stille Teilhaber dort anhängen, und die offenbar kein Gesetz in die Schranken weist? Wenn ich das alles so betrachte, dann fällt es mir schwer, an das Gute im Menschen zu glauben. Und dabei möchte ich doch so gerne Optimist sein. Als im tiefsten Innern "schuldig" kann ich mich indes nicht fühlen, liebe Aoife. Ich nehme halt die Welt so, wie sie sich mir bietet. "Et es, wie et es", sagt man hierzulande, aber auch tröstlich "et hätt noch immer jot jejange".
Ja, liebe Friederike, natürlich gibt es Grenzen und individuelle Freiheiten, in die die Gesellschaft sich nicht einzumischen hat, allen voran die Sexualität des Menschen. Wenn nämlich zwei oder auch mehrere Menschen eine Vereinbarung darüber getroffen haben, wie sie sexuell miteinander umgehen möchten, dann geht das den Rest der Welt einen feuchten Kehricht an. Aber wenn wir ganz genau hinsehen, dann war es weniger die Gesamtgesellschaft als vielmehr die christliche Kirche, die in der Vergangenheit auf diesem Boden geackert hat. Das hat ja jetzt, bedingt durch den dramatischen Rückgang des kirchlichen Einflusses auf alle gesellschaftlichen Prozesse, bedeutend nachgelassen, so dass ich die von Fraences gestellte Ausgangsfrage etwa so beantworten möchte: Ja, es geht uns heute besser als weiland den Zeitgenossen der englischen Königin Viktoria. Wir genießen heute erheblich mehr Freiheiten, ohne unsere Gesellschaftsordnung dadurch zu gefährden. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass die Zeiten sich auch wieder ändern können. Jedes religiöse Vakuum wird auf Dauer neu gefüllt, und wenn die neue Religion, die heute schon Gewehr bei Fuß steht, einmal hier die politische Macht übernimmt, dann möchte ich nicht in der Haut einer SexarbeiterIn stecken.
Last, but not least: Ich muss gestehen, dass ich im Grunde meines Herzens ein ausgeprägter Pragmatiker bin. Nicht, dass ich von individuellen Freiheiten und Menschenrechten nichts hielte. Weit gefehlt! Sie lassen sich nur im konkreten Fall leider nicht so gut politisch verkaufen wie die unmittelbar erfahrbaren Dinge. Wenn ich vor dem Problem stehe, Außenstehenden Prostitution begreifbar zu machen, dann rede ich immer von einer gesellschaftlich notwendigen Dienstleistung mit all ihren Facetten. Dass diese Tätigkeit den Protagonistinnen wie potentiell auch jede andere Tätigkeit Spass machen kann, steht außer Frage, doch hänge ich das nicht an die große Glocke, weil es erfahrungsgemäß die Todfeindschaft jeder soliden Ehefrau nach sich zieht (Neid?). Ein altes Sprichwort sagt: "Jedem ist das Hemd näher als der Rock". Und wenn die Menschenrechte der Rock sind, dann ist die Befriedigung sexueller Bedürfnisse eben das Hemd.
Liebe Grüße
rainman
was ist - der alte rainman hat aufgehört zu schreiben, als es gerade anfing spannend zu werden? Kein Problem! Diskutieren wir doch einfach weiter:
Auch ich richte mich so wie Aoife - und wohl auch Du, liebe Friederike - beim Umgang mit meinen Mitmenschen nach dem kategorischen Imperativ. (Für alle, die hier mitlesen: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu". Immanuel Kant formuliert das komplizierter, meint aber dasselbe.) Mit uns tun das sicher noch Abertausende von anderen Zeitgenossen. Indes kenne ich einen Juristen persönlich, einen Staatsanwalt, der sich berufsbedingt mit der Drogenmafia derart angelegt hat, dass er auch noch im Ruhestand ständigen Polizeischutz in Anspruch nehmen muss. Dieser Mann hat einmal zu mir gesagt: Hast du eine Ahnung, wie es wohl auf dieser Welt aussähe, wenn es uns nicht gäbe. Selbst wenn man bedenkt, dass jeder seine Umwelt durch die eigene subjektive Brille sieht und sich und seinen Job für unverzichtbar hält, wird da wohl schon etwas dran sein.
Es müssen ja nicht immer Drogenbosse sein. Was ist z.B. mit den Leuten im Nadelstreifenanzug, die tagein tagaus mit Nahrungsmittelpreisen spekulieren und den Abermillionen, die sich in ihrer Profitgier als stille Teilhaber dort anhängen, und die offenbar kein Gesetz in die Schranken weist? Wenn ich das alles so betrachte, dann fällt es mir schwer, an das Gute im Menschen zu glauben. Und dabei möchte ich doch so gerne Optimist sein. Als im tiefsten Innern "schuldig" kann ich mich indes nicht fühlen, liebe Aoife. Ich nehme halt die Welt so, wie sie sich mir bietet. "Et es, wie et es", sagt man hierzulande, aber auch tröstlich "et hätt noch immer jot jejange".
Ja, liebe Friederike, natürlich gibt es Grenzen und individuelle Freiheiten, in die die Gesellschaft sich nicht einzumischen hat, allen voran die Sexualität des Menschen. Wenn nämlich zwei oder auch mehrere Menschen eine Vereinbarung darüber getroffen haben, wie sie sexuell miteinander umgehen möchten, dann geht das den Rest der Welt einen feuchten Kehricht an. Aber wenn wir ganz genau hinsehen, dann war es weniger die Gesamtgesellschaft als vielmehr die christliche Kirche, die in der Vergangenheit auf diesem Boden geackert hat. Das hat ja jetzt, bedingt durch den dramatischen Rückgang des kirchlichen Einflusses auf alle gesellschaftlichen Prozesse, bedeutend nachgelassen, so dass ich die von Fraences gestellte Ausgangsfrage etwa so beantworten möchte: Ja, es geht uns heute besser als weiland den Zeitgenossen der englischen Königin Viktoria. Wir genießen heute erheblich mehr Freiheiten, ohne unsere Gesellschaftsordnung dadurch zu gefährden. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass die Zeiten sich auch wieder ändern können. Jedes religiöse Vakuum wird auf Dauer neu gefüllt, und wenn die neue Religion, die heute schon Gewehr bei Fuß steht, einmal hier die politische Macht übernimmt, dann möchte ich nicht in der Haut einer SexarbeiterIn stecken.
Last, but not least: Ich muss gestehen, dass ich im Grunde meines Herzens ein ausgeprägter Pragmatiker bin. Nicht, dass ich von individuellen Freiheiten und Menschenrechten nichts hielte. Weit gefehlt! Sie lassen sich nur im konkreten Fall leider nicht so gut politisch verkaufen wie die unmittelbar erfahrbaren Dinge. Wenn ich vor dem Problem stehe, Außenstehenden Prostitution begreifbar zu machen, dann rede ich immer von einer gesellschaftlich notwendigen Dienstleistung mit all ihren Facetten. Dass diese Tätigkeit den Protagonistinnen wie potentiell auch jede andere Tätigkeit Spass machen kann, steht außer Frage, doch hänge ich das nicht an die große Glocke, weil es erfahrungsgemäß die Todfeindschaft jeder soliden Ehefrau nach sich zieht (Neid?). Ein altes Sprichwort sagt: "Jedem ist das Hemd näher als der Rock". Und wenn die Menschenrechte der Rock sind, dann ist die Befriedigung sexueller Bedürfnisse eben das Hemd.
Liebe Grüße
rainman
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Nur Kirchen? Nur Religion?
Hallo rainman,
gerne - das ist eine interessante und wichtige Diskussion!

Zum "kategorischen Imperativ": eine einfachere Trennlinie zwischen ungehemmter individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Regelung wäre wohl die Grenze, wo anderen geschadet wird. Auch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss, gibt aber eine Richtung. Wir argumentieren ja nicht, dass es überhaupt keine Gesetze geben soll.
Aber da sind wir an der Kernfrage: was treibt gesellschaftliche Gruppen, eine sexuelle Begegnung zwischen zwei bereitwillig handelnden Menschen verbieten zu wollen, weil sie mit einer Zahlung verbunden ist? Was ist der Beweggrund einer Gesellschaft und ihrer Entscheidungsträger, diesen Gruppen mit dem Erlass von Gesetzen zu folgen? Man muss sogar Polizisten aussenden, um solche Begegnungen überhaupt zu bemerken - also ist eine Schädigung der Gesellschaft nicht leicht zu argumentieren!
Liebe Grüße
Friederike
gerne - das ist eine interessante und wichtige Diskussion!

Dass es sich um ein echtes "kirchliches" Phänomen handelt, scheint mir fraglich. Gesellschaft bedient sich der Kirchen und natürlich umgekehrt, heute weniger als noch vor 50 oder 100 Jahren - aber die Entwicklung in Schweden scheint darauf hinzudeuten, dass Intoleranz auch in Zeiten des Rückgangs kirchlichen Einflusses durchaus en vogue ist. Auch die Argumentation ist in Schweden ja nicht religiös: die Repression wird nicht mit Frömmigkeit, sondern mit "Feminismus" begründet.rainman hat geschrieben:Aber wenn wir ganz genau hinsehen, dann war es weniger die Gesamtgesellschaft als vielmehr die christliche Kirche, die in der Vergangenheit auf diesem Boden geackert hat. Das hat ja jetzt, bedingt durch den dramatischen Rückgang des kirchlichen Einflusses auf alle gesellschaftlichen Prozesse, bedeutend nachgelassen, ....
Zum "kategorischen Imperativ": eine einfachere Trennlinie zwischen ungehemmter individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Regelung wäre wohl die Grenze, wo anderen geschadet wird. Auch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss, gibt aber eine Richtung. Wir argumentieren ja nicht, dass es überhaupt keine Gesetze geben soll.
Aber da sind wir an der Kernfrage: was treibt gesellschaftliche Gruppen, eine sexuelle Begegnung zwischen zwei bereitwillig handelnden Menschen verbieten zu wollen, weil sie mit einer Zahlung verbunden ist? Was ist der Beweggrund einer Gesellschaft und ihrer Entscheidungsträger, diesen Gruppen mit dem Erlass von Gesetzen zu folgen? Man muss sogar Polizisten aussenden, um solche Begegnungen überhaupt zu bemerken - also ist eine Schädigung der Gesellschaft nicht leicht zu argumentieren!
Faszinierend! Warum eigentlich? Geht es einfach um Macht?rainman hat geschrieben: ....doch hänge ich das nicht an die große Glocke, weil es erfahrungsgemäß die Todfeindschaft jeder soliden Ehefrau nach sich zieht ...
Liebe Grüße
Friederike
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Deinen Ausführungen, liebe Friederike, möchte ich mich 100% anschließen. Nur in einem Punkt eventuell noch etwas konkretisieren:

Falls du mit der Macht, die mit Gewehr bei Fuß steht den Islam meinst, so ist der sicherlich vielschichtiger als er hierzulande dargestellt wird. Und hat seine rasante Ausbreitung erlebt als er noch betont tolerant war. Das Nachahmen des westlichen Terrorismus hat ihn zugrundegerichtet. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass Freiheit nur vor Ort verteidigt werden kann, eine westliche Bevölkerung, die sich nicht einmal gegen ihre eigenen Herrscher zur Wehr setzen kann, ist dem hilflos ausgeliefert, da nützen Sprüche wie "Freiheit am Hindukusch verteidigen" überhaupt nichts.


Letztlich wird das ganze auf Geldgier beruhende Verbrechen doch durch die Kriminalisierung des Drogengeschäfts erst geschaffen. Oder hat irgendjemand ein glaubhaftes Argument warum beispielsweise Heroin interessanter wäre als die aus einheimischen Kräutern gekochte Hexensalbe, wenn es nicht durch ein staatliches Verbot im Preis und im Interesse künstlich gepusht würde?
Und auch hier:

Btw., jetzt nur noch kurz ohne dich formal zu zitieren, lieber rainman, ich glaube die Schwierigkeit zu erklären wo der kategorische Imperativ sich von "was du nicht willst dass man dir tu" unterscheidet zu erklären können wir nicht vermeiden. Weil sonst Mißverständnisse vorprogrammiert sind:
Beim kategorischen Imperativ geht es nicht um konkrete Handlungen, sondern um die Entscheidungsgrundlagen für diese Handlungen.
Nach der Maxime "Was du nicht willst ..." könnte beispielsweise eine SM-Beziehung niemals funktionieren, der M-Partner müsste dann ja quälen und umgekehrt
Beim kategorischen Imperativ geht es somit nicht darum, was man getan bekommen möchte oder was man tut, sondern um das zugrundeliegende Prinzip, beispielsweise Bedürfnisse des anderen zu erfüllen, schließlich will man seine eigenen Bedürfnisse ja auch erfüllt haben.
Liebe Grüße, Aoife

Das link, das ich oben gegeben habe (irishcentral.com) stellt zwar zugegebenermaßen keine wissenschaftliche sondern eine journalistische Arbeit dar, aber auch ein einzelner Punkt, nämlich dass St.Patrick auch gleichgeschlechtliche Paare getraut hat, beweist schon, dass es überhaupt nicht nötig ist auf "diesem Boden", nämlich der Verteufelung von Sexualität, überhaupt zu ackern. Religion, selbst katholische, ist geschichtlich bewiesen auch ohne Sexfeindlichkeit möglich. Was dann auch bedeutet, dass keineswegst natürlicherweise ein Vakuum entstehen muss wenn man darauf sowohl staatlicher- als auch religiöserseits verzichtet.rainman hat geschrieben:Aber wenn wir ganz genau hinsehen, dann war es weniger die Gesamtgesellschaft als vielmehr die christliche Kirche, die in der Vergangenheit auf diesem Boden geackert hat... Jedes religiöse Vakuum wird auf Dauer neu gefüllt, und wenn die neue Religion, die heute schon Gewehr bei Fuß steht, einmal hier die politische Macht übernimmt, dann möchte ich nicht in der Haut einer SexarbeiterIn stecken.
Falls du mit der Macht, die mit Gewehr bei Fuß steht den Islam meinst, so ist der sicherlich vielschichtiger als er hierzulande dargestellt wird. Und hat seine rasante Ausbreitung erlebt als er noch betont tolerant war. Das Nachahmen des westlichen Terrorismus hat ihn zugrundegerichtet. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass Freiheit nur vor Ort verteidigt werden kann, eine westliche Bevölkerung, die sich nicht einmal gegen ihre eigenen Herrscher zur Wehr setzen kann, ist dem hilflos ausgeliefert, da nützen Sprüche wie "Freiheit am Hindukusch verteidigen" überhaupt nichts.

Genau so sehe ich das auch, und gerade unter diesem Aspekt wäre hier:rainman hat geschrieben:Last, but not least: Ich muss gestehen, dass ich im Grunde meines Herzens ein ausgeprägter Pragmatiker bin.

doch realistischer zu fragen, wie die Welt aussehen würde wenn es weder auf Drogen spezialisierte Staatsanwälte noch ihre Auftraggeber gäbe.rainman hat geschrieben:Indes kenne ich einen Juristen persönlich, einen Staatsanwalt, der sich berufsbedingt mit der Drogenmafia derart angelegt hat, dass er auch noch im Ruhestand ständigen Polizeischutz in Anspruch nehmen muss. Dieser Mann hat einmal zu mir gesagt: Hast du eine Ahnung, wie es wohl auf dieser Welt aussähe, wenn es uns nicht gäbe.
Letztlich wird das ganze auf Geldgier beruhende Verbrechen doch durch die Kriminalisierung des Drogengeschäfts erst geschaffen. Oder hat irgendjemand ein glaubhaftes Argument warum beispielsweise Heroin interessanter wäre als die aus einheimischen Kräutern gekochte Hexensalbe, wenn es nicht durch ein staatliches Verbot im Preis und im Interesse künstlich gepusht würde?
Und auch hier:

zeigt ja die pragmatische Betrachtungsweise, dass staatliche "Gesetzgebung" eben überhauptnicht das erbringt, womit ihre angebliche Notwendigkeit theoretisch gerechtfertigt wird. Der Glaube solche Mißstände ließen sich mit geschriebenen Gesetzen in den Griff bekommen ist IMHO höchst ideologisch und realitätsfern.rainman hat geschrieben:Es müssen ja nicht immer Drogenbosse sein. Was ist z.B. mit den Leuten im Nadelstreifenanzug, die tagein tagaus mit Nahrungsmittelpreisen spekulieren und den Abermillionen, die sich in ihrer Profitgier als stille Teilhaber dort anhängen, und die offenbar kein Gesetz in die Schranken weist?
Btw., jetzt nur noch kurz ohne dich formal zu zitieren, lieber rainman, ich glaube die Schwierigkeit zu erklären wo der kategorische Imperativ sich von "was du nicht willst dass man dir tu" unterscheidet zu erklären können wir nicht vermeiden. Weil sonst Mißverständnisse vorprogrammiert sind:
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Beim kategorischen Imperativ geht es somit nicht darum, was man getan bekommen möchte oder was man tut, sondern um das zugrundeliegende Prinzip, beispielsweise Bedürfnisse des anderen zu erfüllen, schließlich will man seine eigenen Bedürfnisse ja auch erfüllt haben.
Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
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In Schweden war/ist der Pietismus stark ausgeprägt, die Kirche war bis 1999 staatlich, über 70 % der Einwohner sind Christen. Pietisten zeichnet aus, dass sie anderen ihre Lebensauffassung aufzwingen wollen. Ich denke schon, dass diese religiösen Fundamente nun als "Feminismus" verkauft werden.
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Hallo alle!
Dein Hinweis, lieber ehemaliger_User, entspricht auch weitgehend meiner Einschätzung. Wenn ich das einmal noch konkretisieren darf:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Feministinnen Cecilie Hoigard und Liv Finstad - beide anscheinend Norwegerinnen - die einstmals auffallend liberale Grundeinstellung der skandinavischen Länder zur Sexualität so hätten drehen können, wenn da nicht latent ein entsprechender Nährboden vorhanden gewesen wäre. Der spektakulär freizügige Umgang mit Pornoliteratur und dgl. mag ein Grund gewesen sein, das Pendel jetzt wieder zurückschlagen zu lassen, die pietistisch ausgerichtete Grundeinstellung wird das Ihrige dazu beigetragen haben.
Im Verlaufe dieser Diskussion hat Aoife oben mit Recht auf gewisse Parallelitäten zum Hexenwahn in der frühen Neuzeit hingewiesen. Wer sich das einmal anschaut, dem fällt auf, dass nicht die katholisch geprägten Länder Südeuropas von diesem Phänomen befallen waren, sondern die protestantischen in Mittel- und Nordeuropa sowie die USA. Die Inquisition hatte Häretiker im Visier, nicht Hexen. Es hat den Anschein, als ob alle religiösen Erneuerungsbewegungen zunächst einmal den Eiferern den Boden bereiten, was sich in der Folgezeit offenbar noch lange auswirkt.
Friederike hat gefragt: "Was treibt gesellschaftliche Gruppen, eine sexuelle Begegnung zwischen zwei bereitwillig handelnden Menschen verbieten zu wollen, weil sie mit einer Zahlung verbunden ist"? Auch hier sehe ich eine religiöse Komponente. Wenn ich einmal in die Rolle des advocatus diaboli schlüpfen darf, so würde ich antworten: Weil dieser Akt vom ursprünglichen Sinn der sexuellen Begegnung am weitesten entfernt ist.
Alle Religionen erheben ja den Anspruch, den Menschen führen zu müssen, da er zu eigenständigem Leben angeblich nicht in der Lage ist. (Jetzt sind wir wieder bei Kant: "Was ist Aufklärung? ... der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit."). Dieses Führenwollen impliziert naturgemäß Verbote, die manchmal sinnvoll, gelegentlich aber auch völlig widersinnig sind. In Naturreligionen sind das die Tabus. Die christliche Religion besticht durch ihre asketisch geprägte Grundhaltung. Demnach ist derjenige der heiligste, der am besten überhaupt keinen Geschlechtsverkehr praktiziert. Der Zölibat findet darin seine Wurzeln. Einzig zum Zwecke der Fortpflanzung erscheint der Geschlechtsakt vertretbar. Wie mag in einem solchen Gedankengefüge ein sexuelles Tauschgeschäft angesiedelt sein?
In Deinem letzten Absatz fragst Du, liebe Friederike, "geht es einfach um Macht?"
Wenn man Macht ein wenig großzügig definiert, dann ist es m.E. tatsächlich so. Etwas konkreter gesehen scheint mir die Verlustangst das wahre Motiv für solches Verhalten zu sein. Reine Triebbefriedigung mag ja noch zähneknirschend durchgehen, aber wenn auch nur der Hauch einer persönlichen Beziehung erkennbar werden sollte, dann schrillen alle Alarmglocken.
Liebe Grüße
rainman
Dein Hinweis, lieber ehemaliger_User, entspricht auch weitgehend meiner Einschätzung. Wenn ich das einmal noch konkretisieren darf:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Feministinnen Cecilie Hoigard und Liv Finstad - beide anscheinend Norwegerinnen - die einstmals auffallend liberale Grundeinstellung der skandinavischen Länder zur Sexualität so hätten drehen können, wenn da nicht latent ein entsprechender Nährboden vorhanden gewesen wäre. Der spektakulär freizügige Umgang mit Pornoliteratur und dgl. mag ein Grund gewesen sein, das Pendel jetzt wieder zurückschlagen zu lassen, die pietistisch ausgerichtete Grundeinstellung wird das Ihrige dazu beigetragen haben.
Im Verlaufe dieser Diskussion hat Aoife oben mit Recht auf gewisse Parallelitäten zum Hexenwahn in der frühen Neuzeit hingewiesen. Wer sich das einmal anschaut, dem fällt auf, dass nicht die katholisch geprägten Länder Südeuropas von diesem Phänomen befallen waren, sondern die protestantischen in Mittel- und Nordeuropa sowie die USA. Die Inquisition hatte Häretiker im Visier, nicht Hexen. Es hat den Anschein, als ob alle religiösen Erneuerungsbewegungen zunächst einmal den Eiferern den Boden bereiten, was sich in der Folgezeit offenbar noch lange auswirkt.
Friederike hat gefragt: "Was treibt gesellschaftliche Gruppen, eine sexuelle Begegnung zwischen zwei bereitwillig handelnden Menschen verbieten zu wollen, weil sie mit einer Zahlung verbunden ist"? Auch hier sehe ich eine religiöse Komponente. Wenn ich einmal in die Rolle des advocatus diaboli schlüpfen darf, so würde ich antworten: Weil dieser Akt vom ursprünglichen Sinn der sexuellen Begegnung am weitesten entfernt ist.
Alle Religionen erheben ja den Anspruch, den Menschen führen zu müssen, da er zu eigenständigem Leben angeblich nicht in der Lage ist. (Jetzt sind wir wieder bei Kant: "Was ist Aufklärung? ... der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit."). Dieses Führenwollen impliziert naturgemäß Verbote, die manchmal sinnvoll, gelegentlich aber auch völlig widersinnig sind. In Naturreligionen sind das die Tabus. Die christliche Religion besticht durch ihre asketisch geprägte Grundhaltung. Demnach ist derjenige der heiligste, der am besten überhaupt keinen Geschlechtsverkehr praktiziert. Der Zölibat findet darin seine Wurzeln. Einzig zum Zwecke der Fortpflanzung erscheint der Geschlechtsakt vertretbar. Wie mag in einem solchen Gedankengefüge ein sexuelles Tauschgeschäft angesiedelt sein?
In Deinem letzten Absatz fragst Du, liebe Friederike, "geht es einfach um Macht?"
Wenn man Macht ein wenig großzügig definiert, dann ist es m.E. tatsächlich so. Etwas konkreter gesehen scheint mir die Verlustangst das wahre Motiv für solches Verhalten zu sein. Reine Triebbefriedigung mag ja noch zähneknirschend durchgehen, aber wenn auch nur der Hauch einer persönlichen Beziehung erkennbar werden sollte, dann schrillen alle Alarmglocken.
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RE: Viktorianische Moralvorstellung heute noch vorhanden?
Nach dieser anstrengenden Diskussion braucht es ein entspannendes Zwischenspiel:
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