Weinstein / Epstein

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deernhh
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Weinstein / Epstein

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Thomas Maul, Gastautor / 03.09.2019 / 06:00 / Foto: David Shankbone/28 /

„Akte Weinstein“ (1): Die Verdrängung der Prostitution

Bereits mit seinem Beginn drohte der im Herbst 2017 von selbsternannten Opferschützern inszenierte Skandal um den erfolgreichen Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, kaum entfesselt, grandios in die Hose zu gehen, sich nämlich solcherart gegen Weinsteins „Opfer“ zu kehren, dass man diese als bürgerliche Subjekte ernst nimmt, die mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu leben hätten, ohne die Öffentlichkeit und Weinstein mit ihrer nachträglichen Reue zu belästigen.

Es war schließlich ungünstig, dass ausgerechnet die Bezichtigungen, die Weinstein mit dem Ruch eines Sexualverbrechers umgeben sollten, in den Schilderungen der Betroffenen selbst eher als Akte freiwilliger Prostitution denn als solche sexueller Gewalt erschienen.

Auslöser des „Weinstein-Skandals“ war eine „investigative“ Recherche Ronan Farrows (The New Yorker, 10.10.2017), der, einigen Gerüchten nachforschend, Frauen aufgetrieben hatte, die bereit waren, unter Namensnennung konkrete Erlebnisberichte zu Weinstein abzuliefern. Dank seiner prominenten Eltern – Woody Allen und Mia Farrow – hat Ronan nicht nur eine Bilderbuchkarriere hinter sich, er ist auch Teil einer medial hinreichend ausgewalzten Familientragödie. Nicht nur, dass der Vater die Mutter verließ, um die Adoptivtochter, also Ronans Stiefschwester, zu heiraten, wenig später behauptete eine andere Schwester, von Allen sexuell missbraucht worden zu sein, Vorwürfe, die sie später, inzwischen in den Zwanzigern, noch einmal wiederholte.

Während ein Bruder Ronans mit Allen die Auffassung vertritt, dass die Mutter die Tochter für einen Rachefeldzug gegen den Vater missbraucht, hält Ronan zu Schwester und Mutter. Im Zusammenhang von in dieser Hinsicht unergiebigen Gerichtsprozessen gegen den Vater sowie vergleichbaren Prozessen gegen andere Prominente veröffentlichte Ronan „im Mai 2016 einen Gastbeitrag im Hollywood Reporter“:

Er beklagte, wie die PR-Maschine seines Vaters die Vorwürfe übertönt hatte. Er prangerte das Schweigen der Journalisten an, schrieb, wenn die Justiz die Verletzlichen nicht schütze, seien die Medien umso wichtiger: „Es ist Zeit, harte Fragen zu stellen.“ Der Text las sich wie ein Manifest. Farrow hielt Wort. Einige Monate später begann er die Akte Weinstein zu recherchieren. (Vgl. NZZ, 20.10.2017)

Es war schließlich auch Weinstein, der die Filme des zeitweilig geächteten Vaters trotz allem weiterhin förderte. (Vgl. NZZ, 20.10.2017)

Dieser Opferschutz-Kontext und Farrows – im Nachhinein (mit dem Pulitzer-Preis) bestätigtes – Vertrauen auf den verbreiteten Neopuritanismus ließen ihn wohl bedenkenlos „seine Opfer“ verraten. Zumindest eine aufgeklärte Öffentlichkeit hätte ihm vorwerfen müssen, seine zweifellos leidenden Interviewpartnerinnen empathielos ins offene Messer laufen zu lassen. Echtes Mitgefühl hätte ihn wohl davon abgehalten, dem Publikum als Beschuldigungen sexuellen Missbrauchs zu präsentieren, was Prostitutionsbeichten sind.

Der Sache nach als Prostitution beschrieben

Zu den wenigen, die dies im deutschsprachigen Raum früh – am 9. November 2017 – und in aller gebotenen Deutlichkeit ausgesprochen hatten, gehörte die Schauspielerin Nina Proll, bekannt unter anderem aus der Fernsehserie Vorstadtweiber:

Ist oder war Herr Weinstein der einzige Produzent in Hollywood? Da gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende. Da ein Abhängigkeitsverhältnis als Argument zu bringen, ist verlogen. Und wenn diese Frauen behaupten, sie wären von ihm anfangs zu Oralsex gezwungen worden, aber hätten danach regelmäßig und oft über Jahre einvernehmlichen Sex gehabt, damit ihnen keine Karrierenachteile entstehen, dann kann ich nur sagen: Dafür gibt es einen Namen, das nennt man nämlich Prostitution. Das ist ein Deal zwischen beiden Beteiligten. Dagegen ist auch nichts zu sagen, nur darf man sich nachher nicht darüber beschweren, dass man traumatisiert ist.

Dabei beanspruchte Proll im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der sich zum „Fall Weinstein“ öffentlich Äußernden nicht, ihrerseits besser zu wissen, was wirklich geschehen war – ob und wie vieler Straftaten Weinstein sich tatsächlich schuldig gemacht hat, hätten einzig und allein Gerichte zu klären –, sondern zeigte lediglich auf, dass und wie als justitiabler sexueller Übergriff behauptet und kolportiert wurde, was in den Verlautbarungen der Weinstein-Bezichtiger selbst der Sache nach als Prostitution beschrieben wird.

Gleichzeitig verteidigte Proll elementare Errungenschaften der Frauenemanzipation als etwas inzwischen Selbstverständliches, das für sich genommen so wenig Gewese verdient wie die eigene Partizipation an solcher Freiheit: dass es zum bürgerlichen Gebrauch des sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Frau legitim dazugehört, in der allgemeinen Konkurrenz um Arbeitsplätze – ein Schlachtfeld, in das sich Frauen gerade infolge ihrer Emanzipation nun einmal geworfen sehen – und im Wettbewerb mit den gleich oder gar besser qualifizierten Mitbewerberinnen, mit denen man längst kein schwesterliches Opferkollektiv mehr bildet, gegenüber prospektiven Arbeitgebern eben auch die „Waffen einer Frau“ einzusetzen.

Entsprechend ließ sich Proll auch von der pseudofeministischen Gehässigkeit, nach dem Modell des schwedischen Prostitutionsverbots allein den Freier – also den bösen Mann – und nicht auch die Prostituierte für ihren „Deal“ haftbar zu machen, nicht den Blick dafür vernebeln, was in derlei Opferschutzprogrammen das Hauptangriffsziel ist: nämlich die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen, deren nonkonformen Ausdruck der neue Puritanismus nur dann nicht an ihnen verfolgt, wenn er ihn irgendwie als Resultat von Männergewalt konstruieren und die Frauen damit ins binäre Identitätsschema „Opfer oder Schlampe“ zurückzwingen kann.



Projektiv-wahnhafte Verkehrung von Sachverhalten

Darum ist auch die geläufige Unterstellung, dass der (kriminelle) Vergewaltiger bloß in die Tat umsetzen würde, wovon jeder (normale) Mann insgeheim träume, eine projektiv-wahnhafte Verkehrung von Sachverhalten. Realen Vergewaltigungen liegt eine gänzlich andere Psychodynamik zugrunde als Vergewaltigungsphantasien, in denen im Gegenteil die aggressiven Aspekte von Sexualität umgelenkt, bearbeitet und sublimiert werden. Überdies sind Vorstellungen von Vergewaltigung weit stärker charakteristisch für weibliche als für männliche Masturbationsphantasien, und zwar historisch weit über die gesellschaftliche Dominanz des Patriarchats hinaus. (Vergleiche die Werke von Isabelle Azoulay, Helene Deutsch und Susan Brownmiller zum Thema.)

Dies wiederum spricht keineswegs dafür, dass Frauen etwa tatsächlich vergewaltigt werden wollen, sondern ist Ausdruck dessen, dass sie sich perverse Wünsche beziehungsweise Lust häufig schlechthin nicht als subjektiven Selbstanteil eingestehen dürfen oder möchten, so dass die willensbrechende Vergewaltigung in der Phantasie „unschuldiges“ Selbstbild hier und Erreichung des versagten Triebziels da miteinander versöhnt.

Was Proll allerdings nicht geahnt haben dürfte, ist, wie wirkmächtig der im Aussterben befindlich geglaubte Puritanismus inzwischen gesamtgesellschaftlich – und das weltweit – wieder geworden ist, und wie groß das Bedürfnis unter Nicht-Puritanern, das eigene Gehirn komplett auszuschalten. Zwar war mit den ersten Weinstein-Enthüllungen bloß ausgesprochen, was ohnehin jeder immer zu wissen glaubte: dass Hollywood nicht nur von Liberalen, Juden und Kommunisten, sondern von Promiskuität und prostitutionsähnlichen Verhältnissen beherrscht wird.

Doch hat sich davon offenbar eine ganze Horde von Schauspielerinnen, die mit Weinstein zusammenarbeiteten, genötigt gewähnt, öffentlich zu bekunden, dass erstens zwischen ihnen und Weinstein nichts gelaufen sei und zweitens alles, was sie mit Edelhurerei auch nur in Verbindung bringen könnte, allein auf die Kappe des übergriffigen Produzenten gehe.

Damit erst war die für alles weitere in den Medien tonangebende Sorte „Weinstein-Opfer“ geboren, die in gut getimten Rhythmen eines nach dem anderen ins Licht der Öffentlichkeit traten oder gezerrt wurden, um sich von einer Schuld reinzuwaschen, die ihnen kein Aufgeklärter je ernsthaft unterstellt hat, und dafür Weinstein zum Sündenbock zu machen.


Rose McGowans Leiden

Eine Ausnahme stellte Rose McGowan dar: als nämlich einziges, angeblich unzweideutiges Vergewaltigungsopfer mit medialer Dauerpräsenz. In der Ästhetik der Weinstein-Affäre – links ein größeres Porträt des „Täters“, rechts kleine Portraits seiner schier unzähligen „Opfer“ (siehe z.B. hier) – führte ihr kahlgeschorener Kopf stets die Liste der Erniedrigten an.

Die FAZ bezeichnete sie bald als „Die Jeanne d’Arc der #MeToo-Bewegung“ (11.2.2018). Im spöttelnden Ton drückte sich die Enttäuschung über ein „Opfer“ aus, das monatelang als unantastbar galt. Im Unterschied zu den juristisch defizitären Aussagen etwa Argentos (auf welche die bereits zitierte Äußerung von Proll vor allem anspielt) hat McGowan, die schon lange vor dem Weinstein-Skandal mit Ronan Farrow in Kontakt stand, die Stimmung immer wieder angeheizt, ohne dabei konkret zu werden.

Ein kryptischer Tweet an den Amazon-Chef – „@jeffbezos I told the head of your studio that HW raped me. Over & over I said it. He said it hadn’t been proven. I said I was the proof.“ – und die wiederholte Behauptung, dass diverse Weinstein-Mitarbeiter davon wussten und sie weder bei männlichen „Kollegen“ beziehungsweise (Ex-)Freunden (Rodriguez, Tarantino, Affleck) noch der eigenen Managerin, Jill Messick, Anteilnahme und Zuspruch fand – mehr war von McGowan lange Zeit nicht zu erfahren.

Sie vertröstete das Publikum auf ihre Autobiografie, die ohne die angekündigte Enthüllung der Vergewaltigungsvorgänge, als Lebensbericht einer C-Prominenten, kein großes öffentliches Interesse hervorgerufen hätte.

Immer wieder sei sie von 'den mächtigsten und bösesten Männern' der Welt bedroht worden. […] In ihrer Autobiografie Brave, die im April im deutschsprachigen Raum erscheinen soll, beschreibt die Schauspielerin offen, wie sie von dem 'Monster' – wie sie Weinstein nennt – in einer Hotel-Suite 1997 sexuell genötigt wurde. (diepresse.com, 31.1.2018)

Erst seit Ende Januar 2018 wurde immer klarer, was McGowan – „Eine Vergewaltigung ist wie der Tod“ (ebd.) – unter „Vergewaltigung“ eigentlich versteht. Auf Promotion-Tour zum am 31. Januar erschienenen Buch gibt sie in einer TV-Show mit Moderator Ronan Farrow in New York kund, bereits als 15-Jährige vergewaltigt worden zu sein – und zwar von einem Oscar-Preisträger, dessen Namen sie aber nicht nennen wolle. Die heute 44-jährige schildert das entsprechende Ereignis von vor 30 Jahren so:

„Er nahm mich mit nach Hause, zeigte mir einen Soft-Porno. Dann hatte er Sex mit mir.“ Sie habe die Vergewaltigung jedoch jahrelang nicht als solche realisiert. Das ganze Ausmaß sei ihr erst später bewusst geworden. McGowan: „Ich fand ihn immer sehr attraktiv. Nicht unbedingt an dem Tag. Aber generell fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Deshalb habe ich es auch immer als sexuelle Erfahrung abgetan.“ (bild.de, 3.2.2018)


Im Kampf gegen die mächtigsten und bösesten Männer der Welt

In Brave selbst wiederholte McGowan die Attacken gegen ihre ehemalige Managerin, die am 7.2.2018 dann Suizid beging, was McGowan via Instagram wie folgt kommentierte: „Der böse Mann hat uns beiden das angetan. Mögest du Frieden auf der Astralebene und Ruhe bei den Sternen finden.“ (vip.de, 12.2.2018)

Jill Messik, ohnehin als „Täterschützerin“ am öffentlichen Pranger des allgemeinen Opfersupports, geriet dadurch noch verstärkt unter Druck, dass Weinstein – seinerseits unter Beschuss von McGowan und Medien – eine E-mail von Messik veröffentlichte, in der diese schrieb, McGowan habe ihr damals anvertraut, die sexuellen Handlungen mit Weinstein willentlich begangen, sie aber kurz darauf bereut zu haben. (welt.de, 11.2.2018)

Diese Entwicklung ist nicht zuletzt deshalb besonders tragisch, weil McGowans eigene Schilderung der angeblichen Vergewaltigung durch Weinstein in Brave dafür spricht, dass es sich genauso zugetragen hat, wie von Messik beschrieben:

Das Buch erzählt von der Vergewaltigung durch Weinstein beim Sundance Festival. Und von McGowans Naivität, die sie selbst an sich feststellt, wenn sie von damals, vom Ort des Geschehens, erzählt. Sogar den Orgasmus aus Harry und Sally habe sie schließlich nachgespielt, damit die Sache schneller vorbei sei. […] McGowan erlebte mit Weinstein genau das, was ihr als Sektenkind normal erschien. Nachdem sie sich nicht mehr richtig verhielt, sich also nicht mehr mit ihm traf, nicht mehr zurückrief, nicht seine Geliebte sein wollte, kamen die Konsequenzen. Weinstein erzählte in Hollywood, man solle sie nicht casten, sie sei bad news. Er zahlte ihr 100.000 Dollar, damit sie die Klappe hielt: to buy peace, wie der schöne Fachbegriff heißt. (faz.net, 11.2.2018)

Die Bettgeschichte mit Weinstein war also erstens allenfalls schlechter Sex, wobei McGowan zweitens während des Vollzugs für Weinstein sogar noch die Illusion erzeugte, es würde ihr gefallen, und drittens später eine Stange Geld dafür entgegennahm, über diese Erfahrung nicht öffentlich zu sprechen. Vieles spricht ferner für die Mutmaßung der FAZ, dass McGowans Kindheit und Sozialisation in einer „Sex-Sekte“ für die psychische Disposition des Verhaltensmusters verantwortlich sind, Männern immer wieder sexuell zu Willen zu sein, und dies anschließend zu bereuen.


Verrat von Opfern

Ein individuelles Leid jedenfalls, das weder mit einem „Patriarchat“ noch Weinstein oder Messik zu tun hat, die aber ins Visier des Kreuzzuges einer 44-Jährigen gegen die eigene Biografie bzw. „die mächtigsten und bösesten Männer der Welt“ geraten sind.

Im Juni 2018 berichteten die deutschen Medien noch, dass gegen Rose McGowan Anklage wegen Kokain-Besitzes erhoben wurde und verbreiteten ihre Verschwörungstheorie, nach der ihr die Drogen im Auftrag Weisteins untergeschoben worden seien (z.B. Spiegel-Online, 12.06.). Von McGowans späterer Verurteilung (Geldstrafe in Höhe von 2.500 US-Dollar und 12-monatige Bewährungsstrafe) erfuhr man aus deutschen Medien nichts mehr. Folgerichtig auch nichts von ihrem Kommentar:

Manchmal musst du den Kampf verlieren, um den Krieg zu gewinnen und ich bin auf lange Sicht dabei. Und genau das ist es, was vor sich geht. Sobald man sich im Rechtssystem verheddert, ist es sehr schwer, aus ihm herauszukommen. (The Washington Post, 14.01.2019)

Auch im Fall McGowan wird allseitig als empathische Unterstützung von Opfern ausgegeben, was ihr Verrat ist, indem die wahnhafte Bearbeitung von Symptomen und die kampagnenförmige Umgehung des Rechts (die Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters) als Heilung der Seele angepriesen werden.

Lesen Sie morgen: „Akte Weinstein“ (2): Bademantelphobie.

Den zweiten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Den dritten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Den vierten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Dies ist ein leicht überarbeiteter und aktualisierter Text von Thomas Maul, der zuerst in Bahamas Nr. 78 erschienen ist.

Foto: David Shankbone CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

https://www.achgut.com/artikel/akte_wei ... ostitution

Thomas Maul, Gastautor / 04.09.2019 / 06:00 / Foto: David_Shankbone /38 /

„Akte Weinstein“ (2): Bademantelphobie

Auch wenn die wenigen Berichte über dezidierte Sexualverbrechen Weinsteins von sexueller Nötigung bis zur Vergewaltigung, die sich in der Regel auf Verjährtes bezogen und meist in sich widersprüchlich waren, von den Massenmedien kolportiert wurden, um mediale Aufmerksamkeit zu erhaschen und das entsprechend abgerufene Erregungs- und Empörungspotential schon mal gegen Weinstein wirken zu lassen, ging es dabei doch nie um Fragen juristischer Schuld, um angestrebte Klagen, um Prozesse und anderen bürgerlichen Schnickschnack. Nein, es ging einzig und allein darum, Weinstein als Rache für viel geringere Vergehen – letztlich für ungebührliches Verhalten – zu mobben und weltweit als Persona non grata zu ächte. Und es ging darum diesen Rufmord als ersten Akt eines „feministischen“ Kampfes gegen ein „krankes System“ auszugeben, als „mutigen“ Bruch mit einem Schweigen, das zumindest in dem Sinne zu recht ein selbstauferlegtes war, als das Verschwiegene ausgeplappert nichts als eine Onaniervorlage für straflüsterne Puritaner und Puritanerinnen bietet.

Kate Beckinsale hat das postfeministische Programm einer potenziell endlosen Denunziationstätigkeit frühzeitig ausgesprochen: „Lassen wir nicht zu, dass junge Frauen als sexuelles Kanonenfutter missbraucht werden, und lasst uns nicht vergessen, dass Harvey Weinstein sinnbildlich für ein krankes System steht. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“

Dabei waren der Mangel an Präzision und die Schwammigkeit des erhobenen Vorwurfs („als sexuelles Kanonenfutter missbraucht“) gerade gewollt und machten dessen Stärke aus, weil sich darunter erstens jeder vorstellen kann, was er will, und weil er zweitens in seiner Verschiebung von justitiablen Verbrechen zur subjektiven Gefühlslage immer irgendwie wahr ist. So war von vornherein sichergestellt, dass Erlebnisberichte und Bezichtigungen, die mehr über ihre Verfasserinnen verrieten als über Weinstein, sich als ungeprüfte Zeugnisse von Weinstein-Opfern mit der puren Masse banaler „schlimmer Erfahrung“ (Angelina Jolie, faz.net , 11.10.2017) zu einer Drohkulisse gegen Weinstein verbanden, die dessen Leben grundlegender zerstören würde als jeder Gerichtsprozess.


Puritanische Leser am Schlüsselloch

Gerade in der Kolportage dieser Berichte durch soziale und seriöse Medien wie durch den Boulevard entstanden dann Dokumente, die sich samt und sonders lesen, als wären die Weinstein-Opfer selbst der Buhlschaft mit dem Teufel Angeklagte in Hexenprozessen, denen angesichts inquisitorischer Gewaltandrohung nur die Denunziation Weinsteins als Oberhexer oder Teufel bleibt, um ihre Finger aus den Daumenschrauben zu ziehen. So spricht auch Beckinsale, bekannt durch ihre Verkörperung sogenannter starker Frauen in Actionfilmen, skurrilerweise haargenau, wie es ein Puritaner von seinem braven Mädchen erwarten darf.

Wie immer beginnen die Kolportagen in ihren Headlines mit der Verheißung großer Enthüllungen – „,Weinstein wusste nicht, ob er mich missbraucht hat‘ – Kate Beckinsale erzählt über ihre Erfahrungen mit Harvey Weinstein, die ihrer Karriere geschadet haben“ (Kurier) – und haben dann doch nicht mehr auf Lager als das überholte Klischee von der Schockerfahrung katholischer Internatsmädchen, sobald sie auf die wirkliche Welt treffen:

„Das erste Mal war sie (Beckinsale, T. M.) mit 17 Jahren in einem Hotelzimmer mit dem Hitproduzenten“, beginnt der Kurier und stimmt den Leser erstmal auf Weinstein ein: „Anscheinend war es eine gängige Masche von Weinstein, Schauspielerinnen in einem Hotelzimmer zu empfangen, um dann zu versuchen, sich an ihnen zu vergehen. Acht Frauen hatte er bislang Schweigegeld bezahlt, damit sie ihn nicht wegen sexueller Belästigung anzeigen.“

Anschließend darf der Leser durchs Schlüsselloch gucken und am sexuellen Missbrauch oder an der sexuellen Belästigung oder am Versuch, sich an einer Frau zu vergehen, oder an was auch immer – es ist ja ohnehin egal – teilhaben:

Sie war als 17-Jährige zu einem Weinstein-Meeting geschickt worden – als sie im Hotel ankam, war das Treffen vom Konferenzraum allerdings in sein Zimmer verlegt worden: „Er öffnete die Tür im Bademantel. Ich war so jung und naiv, dass ich mir nicht im Traum vorstellen konnte, dass dieser ältere unattraktive Mann denken würde, ich hätte irgendein sexuelles Interesse an ihm. Ich lehnte den angebotenen Alkohol ab und sagte, ich müsste am nächsten Morgen zur Schule. Ich verließ das Zimmer, etwas aufgewühlt aber unversehrt.“


Die verfolgende Unschuld vom Lande

Weinsteins Vergehen, der erste Missbrauch des unschuldigen und braven 17-jährigen Mädchens, bestand also dieser Schilderung nach allein darin, es mit einem Bademantel und mit dargebotenem Alkohol – was man durchaus als Versuch deuten darf, eine sexuelle Beziehung anzubahnen – „aufzuwühlen“. Das allein ist dem Kurier natürlich nicht „pikant“ genug. Das Pikante, der zweite Missbrauch, kommt zum Schluss: „Pikant an der Geschichte ist vor allem das Treffen, das sie danach mit dem Produzenten hatte: ‚Ein paar Jahre später fragte er mich, ob damals etwas gelaufen sei. Da kapierte ich, dass er sich nicht einmal daran erinnern konnte, ob er mich missbraucht hat oder nicht.'“

Dass er es ihrer eigenen Aussage nach gar nicht getan hat; dass dort, wo sexuell „etwas gelaufen“ ist, mit dieser Formulierung in der Regel keine Vergewaltigung, sondern einvernehmlicher, wenngleich irgendwie öder Sex gemeint ist – all das kommt ihr nicht in den Sinn. Stattdessen deutet Beckinsale seine Frage, wie nur Bösartige oder Schwachköpfe sie deuten können: als Hinweis auf routinemäßig absolvierten massenhaften Missbrauch. Auch hier zeigt sich eine für die „Weinstein-Opfer“ typische, dem neopuritanischen Bedürfnis entgegenkommende Verschiebung. Die verfolgende Unschuld berichtet an anderer Stelle ihres peinlichen Geständnisses nämlich selbst, dass es durchaus „Mädchen“ gegeben habe, die einvernehmlich „mit Harvey geschlafen“ hätten.

Aus der kränkenden Erkundigung eines vergesslichen Womanizers – Erfolg bei Frauen per se wurde einst schon dem mittlerweile vollständig entlasteten Jörg Kachelmann zum Verhängnis –, ob denn damals auch mit ihr „etwas gelaufen“ sei, wird nur deshalb der Missbrauchsvorwurf, weil sich Beckinsale entweder Sexualität überhaupt oder Sex mit einem „älteren unattraktiven Mann“ (offenbar das Abstoßendste, was jungen Frauen zu passieren droht) eben nur als Missbrauch vorstellen kann, der sie zu „sexuellem Kanonenfutter“ macht.

Ungewollt legen Bericht und Kolportage damit Zeugnis vom eigentlichen Drama ab, vom Unglück Weinsteins, der nicht so richtig damit fertig wird, den Untergang einer Epoche überlebt zu haben, in der nicht etwa sexuelle Gewalt, sondern schlüpfrige Übereinkünfte mit Schauspielerinnen beim Aushandeln von Rollenangeboten legitim waren, und der dem Konflikt mit einer neuen Generation von „Mädchen“, die er überhaupt nicht versteht, nicht gewachsen ist.


Trampel auf dem roten Teppich

Vorbei ist die Zeit, da Reichtum und Ruhm, gar Erfolg und Anerkennung in künstlerischen Dingen, einen „älteren und unattraktiven Mann“ attraktiv und zum Objekt sexuellen Begehrens junger Frauen machten – als also Frauen Männer nicht ausschließlich als mehr oder minder ansehnlichen Körperklumpen betrachteten, sondern sich von halbseidenen Phänomenen wie Ruhm, Talent oder Macht – von Spielarten des Scheins also – beeindrucken ließen. Vorbei auch die Zeit, da man sich darauf verlassen konnte, dass junge Frauen, die etwas von einem wollen, einen mit der am Umgang mit dem Vater erlernten Koketterie umgarnen und sich für Entgegenkommen ein wenig erkenntlich, zumindest dankbar, zeigen würden.

Was macht man aber mit einem Frauentypus, der meint, dass er ohne den Umweg der Gefälligkeit einsacken kann, was man in der gegenwärtigen Gesellschaft nur qua Gefälligkeit erhält, und der dabei auch noch den roten Teppich ausgerollt bekommen will; der in der legitimen Verweigerung sexueller Gunstbeweise nicht die Spur einer Verpflichtung erkennt, irgend eine Alternative anzubieten, sondern es für einen Akt feministischer Ermächtigung hält, den Tauschhandel, auf den man sich selbst eingelassen hat, in dem Moment, wo er vollzogen werden soll, als gewaltförmig und ausbeuterisch zu denunzieren.

Gwyneth Paltrow etwa fütterte die Gerüchteküche über „Weinsteins Besetzungscouch“, der der Opferschützer Ronan Farrow später für die Enthüllung seines „Weinstein-Skandals“ erfolgreich hinterherschnüffelte, 1998 bei der Late Show with David Letterman mit der Bemerkung, dass Weinstein Frauen zu nötigen pflege, „ein oder zwei Dinge zu tun.“ Die fürs Gerücht angedeutete, aber absichtsvoll im Dunklen gelassene sexuelle Dimension dieser „Dinge“ offenbarte sich in der um zwanzig Jahre verzögert eingetretenen medialen Verhandlung dann als die immer gleiche langweilige Geschichte vom scheuen Reh, das, kaum legt ihm ein Mann im Bademantel die Hände zwecks Massage auf die Schultern, verstört und aufgeregt, aber unversehrt, den Ort des schwülstigen Geschehens verlässt.

Angereichert wurde dies noch um das Heldenepos vom damaligen Freund (Brad Pitt), der sich Weinstein vornimmt, woraufhin dieser mit der Macht von Jahrtausenden Patriarchat im Rücken den Hörer in die Hand nimmt, um Paltrow telefonisch „anzuschreien“, „wie sie es hätte wagen können, irgendjemandem von ihrer Erfahrung zu erzählen. Sie fürchtete um ihre Hauptrolle in dem Film Emma (mit dem ihre Karriere begann).“ (Welt online, 11.10.2017) Heute sagt Paltrow über den Vorfall, bei dem sie 22 (Weinstein übrigens 44) Jahre alt war: „Ich war noch ein Kind [!], ich stand unter Vertrag, und ich war wie versteinert.“ (faz.net, 11.10.2017)


Das kranke System

Ob Angelina Jolies inhaltlich bis heute offen gelassene „schlimme Erfahrung“ mit Weinstein, die sie den Kontakt zu diesem sofort hat abbrechen und befreundete Kolleginnen vor einer Zusammenarbeit mit ihm warnen lassen – beides ohne negative Folgen für die eigene Karriere –, ähnlicher Natur war, weiß man nicht. Was man aber weiß, ist, dass der eigentliche Skandal der unerbetenen Massage für die „Weinstein-Opfer“ und ihre Beschützer nicht in Fragen des Stils, des Sexuellen und seines möglichen Zwangscharakters besteht. Was an Weinstein empört, ist prinzipiell schon dessen Erwartung, dass man auch für ihn „ein oder zwei Dinge“ welchen Inhalts auch immer tun könne – die Erwartung des Tauschs also dort, wo es den selbsterklärten Opfern in Wahrheit darum ging, ohne Gegenleistung alles zu bekommen, was sie wollen. Und da hatte Weinstein sich eben gewaltig geschnitten.

Die heutigen „Mädchen“, die das Hollywood-Relikt Weinstein nicht mehr versteht und die sich selbst nicht als mündige Menschen, sonders als 17–22-jährige Kinder betrachten, wollen nämlich, ungeachtet von Begabung und Aussehen, von Weinstein zwar alles – also dass er sie aus einem Heer Gleichqualifizierter herauspickt, um mit seinem Geld, seinem Gespür für erfolgversprechende Stoffe, seinem künstlerischen Instinkt, seinen Regisseuren, Kameraleuten und Lichtsetzern großzügig schöne Weltstars aus ihnen zu machen –, und nehmen trotzdem schon beim Vorstellungsgespräch eine Haltung ein, die ihm gegenüber nichts als präventiv beleidigten „Geiz mit Reizen“ und verächtliche Undankbarkeit an den Tag legt, ihn also gewissermaßen aus jeder Pore mit der Kanak-Sprak-Parole „Was willst du!“ oder „Was guckst du!“ begrüßt.

Dass einer, der in einer Zeit Karriere machte, als noch nicht jede sexuelle Zweideutigkeit als Gewaltakt gedeutet wurde, auf solche Belästigung durch den präpotenten Nachwuchs nicht nur, mit Bademantel und Alkohol bewaffnet, Verhältnisse klarzustellen versucht, die nicht mehr existieren, sondern ganz einfach nicht begreift, wie jemand ohne Gegenangebot alles von ihm fordern kann, überrascht zumindest nicht.

Am Ersticken des in der Ausgangslage eines Besetzungsgesprächs schlummernden erotisch-spielerischen Potenzials in einem beidseitig aggressiv geführten Geschlechter- und Generationenkrieg, dessen Verlaufsform vor allem Puritaner begeistert, sind die selbsternannten Opfer, ihren Berichten zufolge, jedenfalls nicht weniger beteiligt gewesen als Weinstein: Das erst ergibt das „kranke System“.

Lesen Sie morgen: „Akte Weinstein“ (3): Monster, Mäuse und Moneten.

Den ersten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Den dritten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Den vierten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Dies ist ein leicht überarbeiteter und aktualisierter Text von Thomas Maul, der zuerst in Bahamas Nr. 78 erschienen ist.

Foto: David Shankbone CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

https://www.achgut.com/artikel/akte_wei ... ntelphobie

Thomas Maul, Gastautor / 05.09.2019 / 06:05 / Foto: David Shankbone/21 /

„Akte Weinstein“ (3): Monster, Mäuse und Moneten

Bei aller Wut soll es dem in der Regel auf Granit beißenden Weinstein allerdings hin und wieder doch gelungen sein, seinen Gegenspielerinnen die ihm verweigerte Gegenleistung abzuringen, wenn er sie auch austricksen musste, um einzustreichen, was er verdient zu haben meinte: eine Geste der Erkenntlichkeit. Und diese kleinen Siege sind es, die ihm die durch ihn groß gewordenen „Opfer“ auch lange Zeit danach nicht gönnen, ja nicht verzeihen können.

Erst geizig bis ins Mark, dann kleinlich nachtragend, wie es sich für die feministisch camouflierte Menschenfeindlichkeit gefühlloser Heulsusen gehört, die jede Kritik, die sie als Subjekte anspricht, als Victim Blaming von sich weisen, haben sie die Gelegenheit ergriffen, zu stoßen, was fällt, um anschließend, von Opferschützern befeuert, mit dem Nachtreten nicht mehr aufzuhören.

Denn immer dann, wenn die Resonanz des Weinstein-Skandals abzuebben drohte, weil nach der medialen Hinrichtung des Produzenten niemandem mehr ernsthaft zu vermitteln war, womit er diese eigentlich verdiente – und weil auch die „MeToo“-Opfer „sexuelle Übergriffigkeit“ bloß noch zum Anlass nahmen, um ihre Patriarchatskritik am mangelnden Einsatz männlicher WG-Mitglieder beim Abwischen der Küchenplatte zu verdeutlichen –, machte ein neues, bis dahin nicht gehörtes Weinstein-Opfer auf sich aufmerksam, dessen Selbstentblößung die Kolportage missbrauchte, um den Verdacht eines Sexualverbrechens gegen Weinstein zu säen und zugleich zu dementieren.


Salma „Frida“ Hayeks Leiden

Die deutsche Wikipedia listet zum „Weinstein-Skandal“ unter ein- und derselben Rubrik denn auch um die 90 Frauen, „die angegeben haben, von Weinstein sexuell belästigt oder [!] genötigt worden zu sein.“ Im selben „oder“ gründete von Anfang an auch die „MeToo“-Bewegung (siehe auch hier), weshalb die Verwischung des Unterschieds zwischen Vergewaltigung und Belästigung nicht erst – wie bisweilen zu vernehmen war – eine spätere Ausartung des Diskurses ist. Unter explizitem Bezug auf Weinstein schrieb die Initiatorin von „MeToo” am 15.10.2017: „If you’ve been sexually harassed or [!] assaulted write ,me too‘ as a reply to this tweet.“

Im Dezember 2017 – rund zwei Monate nach den ersten „Enthüllungen“ zum „Fall Weinstein“ – wartete die Zeit mit folgender brisanter Headline auf: „‚Harvey Weinstein war auch mein Monster‘ – Auch Salma Hayek beschuldigt Harvey Weinstein der sexuellen Übergriffe. Immer wieder habe sie ihn abgewiesen. Er habe ihr mit dem Tod gedroht.“

Wer nun den Vorwurf eines via Morddrohung erzwungenen Sexualaktes erwartete, wurde jedoch abermals, den eingespielten Gesetzen der Berichterstattung zu Weinstein gemäß, enttäuscht:

Sie habe immer wieder „Nein“ sagen müssen: „Nein, ihm zu jeder nächtlichen Stunde die Tür zu öffnen, Hotel für Hotel, Drehort für Drehort. Nein, mit ihm zu duschen. Nein, dass er mir beim Duschen zuschaut. Nein, dass er mich massiert. Nein zu Oralsex. Nein, dass ich mich zusammen mit einer anderen Frau vor ihm ausziehe.“ Auf jede Ablehnung habe Weinstein mit seiner „machiavellistischen Wut“ reagiert, berichtet Hayek. „Ich glaube nicht, dass er irgendetwas mehr gehasst hat als das Wort Nein.“ Er habe ihr einmal mit dem Tod gedroht und gesagt: „Ich bringe dich um, glaube nicht, dass ich dazu nicht fähig bin.“

Hayek, die trotz Todesdrohung keinen Sex mit Weinstein gehabt haben will, wohl weil sie die entsprechende Äußerung völlig realistisch als verbale Entgleisung eines geilen Bocks einordnete, der bei Ablehnung zum Wüterich wird, hat geduldig in der geschäftlichen Beziehung mit ihm ausgeharrt und ihre Position immer wieder mit einem „Nein“ behaupten können. Und dafür, die Zusammenarbeit mit Weinstein nicht zu beenden, hatte sie nachvollziehbare Gründe:

Bei Frida war Hayek nicht nur als Hauptdarstellerin aktiv, sondern fungierte auch als Co-Produzentin und hielt die Rechte am Drehbuch. Dies war ihr zufolge auch der Grund, warum sie Weinsteins Verhalten über sich ergehen ließ: Sie wollte den Film nicht gefährden. Zwischenzeitlich habe er gedroht, einer anderen Frau die Hauptrolle zu geben. Dagegen habe sie sich dann mithilfe von Anwälten gewehrt.


Nein heißt nein

Sie war also, wider ihrer eigenen Aussage und im Gegensatz zu anderen selbsterklärten Opfern, Weinstein nicht einmal untergeordnet, sondern hätte als Mitproduzentin und Rechteinhaberin das ganze Vorhaben locker gegen die Wand fahren lassen können.

Dass sie es nicht tat, verdeutlicht, was sich im ostentativen Stolz, zu Männern immer nur „Nein“ zu sagen, in Wahrheit ausspricht: nicht die Erfahrung des permanenten Opfers, sondern das aggressive Gehabe der souveränen Macherin, der es nie um das geht, was sie macht, sondern immer nur darum, gegen wen und wie viele sie sich durchzusetzen hat.

Ein bisschen was von diesem Stolz und unfreiwillig sogar von Weinsteins ironischem Umgang damit findet sich auch bei Beckinsale im bereits zitierten Bericht des Kurier: „Ich habe auch in beruflicher Hinsicht im Laufe der Jahre oft ‚Nein‘ zu ihm gesagt. […] Er machte sich lustig darüber und erzählte den Leuten, dass mein Leben darin bestünde, ‚Nein‘ zu ihm zu sagen.“

Der Film Frida jedenfalls war Hayeks „Herzensangelegenheit“ (FAZ) – heute würde man sagen: „ihr Projekt“. Die Schauspielerin, in Mexiko bereits ein Star, wechselte 1991 nach Hollywood, um ein Weltstar zu werden und fing dort wieder von ganz unten an, weil die Traumfabrik bis zum sogenannten Latin-Boom keine attraktiven Rollen für Mexikanerinnen zu bieten hatte. 1995 spielte sie immerhin an der Seite von Antonio Banderas in dem Film Desperado. Regisseur Robert Rodriguez war durch Zufall auf sie aufmerksam geworden. Mit eben diesem Rodriguez arbeitete sie 1996 erneut zusammen, in From Dusk Till Dawn mimte sie eine Vampirin. Insbesondere die berüchtigte Schlangentanz-Szene – zu der Rodriguez sie trotz ihrer Reptilienphobie gezwungen habe, was sie, wie sie heute jammert, traumatisierte – machte Hayek endgültig berühmt.

Genug Geld, ihren Traum von Frida mit sich selbst in der Hauptrolle zu realisieren, hatte sie indes nicht. Anders als Rodriguez, der den Vorläufer von Desperado zu einer Zeit, da er weder bekannt war noch über Geld verfügte, als Low-Budget-Unternehmen konzipierte und so mit Freunden und Freundinnen als Laiendarstellern verwirklichen konnte, hat Hayek ihre Frida anscheinend nicht unter Hollywood-Niveau machen wollen.


Ausgetrickst

Dafür aber brauchte sie Weinstein. Der nun soll ihr „als Produzent“ immer wieder in die Arbeit reinregiert und diese behindert haben. Was für Hollywood-Produzenten die natürliche „Reibung am Set“ ist, waren für Hayek, die in Wahrheit Weinstein für ihr eigenes Fortkommen in Dienst zu nehmen gedachte, sexuelle Erpressungsversuche oder Racheakte eines „Monsters“, das mit dem Zurückweisen seiner sexuellen Avancen nicht anders umgehen konnte – also Konflikte ohne jeden künstlerischen Sinn, was zumindest dadurch empirisch relativiert wird, dass Weinsteins Version von Frida unter anderem zwei Oscars und den AFI Award in der Kategorie „Film des Jahres“ erhielt.

Zur darstellerischen Leistung Salma Hayeks (einer der beiden Oscars) gehörte dabei eine Nacktszene mit einer anderen Frau, die Weinstein ihr mit seiner Macht aufgedrückt und in den Film geschrieben habe – und das ist es, was sie so sehr aufregt, dass sie es 15 Jahre später der Presse mitteilen musste: dass er sie, obwohl doch eigentlich sie sich seiner bedienen wollte, am Ende doch noch ausgetrickst habe, indem er – vermittelt und um die Ecke – schließlich erreichte, dass Hayek in seiner Gegenwart Sex mit einer anderen Frau hatte:

Als die Dreharbeiten begannen, hätten die sexuellen Belästigungen zwar aufgehört, „die Wut“ aber zugenommen. Weinstein habe ihre schauspielerische Darbietung kritisiert und gesagt, der Film werde nur zu Ende gedreht, wenn sie einer expliziten Sexszene mit einer Frau zustimme. Als die Szene gedreht wurde, habe sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie habe Beruhigungsmittel genommen. „Mein Körper wollte nicht aufhören zu weinen und sich zu krümmen“, schreibt Hayek. „Es war nicht, weil ich nackt mit einer anderen Frau sein würde. Es war, weil ich nackt mit ihr für Harvey Weinstein sein würde.“

Nur handelte es sich bei der Szene, die Hayeks Körper weinen ließ, definitiv um eine Arbeitssituation, so dass vernünftigerweise nicht Weinstein Machtmissbrauch, sondern Hayek Unprofessionalität und Unfähigkeit hätte vorgeworfen werden müssen, da sie zwischen sich selbst und ihrer Rolle offenbar nicht unterscheiden konnte.

Nirgends also der Hauch eines sexuellen Übergriffs, stattdessen ein exhibitionistischer Bericht über Kompromisse, die man eingeht, wenn man unbedingt „Projekte“ mit Menschen verwirklichen will (nicht: muss), von denen man in vielerlei Hinsicht abhängig ist, und die Weinstein allenfalls als penetranten Nachsteller (wenn man will: Stalker) vorführen, der die ihm deutlich gesetzte Grenze – nach Hayeks eigener Aussage – jedoch nie überschritten hat.

Auf allen Seiten sympathischer gezeichnete Charaktere vorausgesetzt, wäre das der Stoff für eine Komödie, mit den realen Beteiligten aber ist es nur Schmierentheater, das öffentliche Waschen dreckiger Wäsche, die niemanden etwas anzugehen braucht.

Vom Womanizer zum „System Weinstein“

Aus derlei Banalitäten sexuellen Missbrauch zu machen, war leicht angesichts eines Publikums, das sich via Überschriften auf dem Laufenden hält und nicht weiter nachfragt. Damit aber der offensichtliche Selbstwiderspruch der Schreiberlinge, das jahre- und jahrzehntelange „Schweigen der Opfer“ bereits mit den ersten Enthüllungen auf Weinsteins unermessliche Macht zurückgeführt zu haben und diese dann binnen weniger Tage ohne Widerstand zusammenbrechen sehen zu müssen, nicht dazu führte, dass die selbsterklärten Opfer gefragt würden, warum sie gegen die allem Anschein nach vorher schon fragile Macht Weinsteins nicht früher aufgestanden sind, musste ein ganzes „System Weinstein“ ersonnen werden. Bei Zeit-Online zumindest hat man diesbezüglich alles versucht:

Weinstein war der Mann, der den Menschen in Hollywood ihre Wünsche erfüllen, ihre Angst vor dem beruflichen Aus nehmen konnte. Nicht nur den Frauen. […] Und die Schauspielerinnen ließen sich betatschen oder gingen sogar mit Weinstein ins Bett. Auf Partyfotos sah man bis zuletzt regelmäßig gleich mehrere Frauen auf Weinsteins Schoß sitzen, auch Weltstars. […]

Drohen. Bestechen. Erpressen. Belügen. Einschüchtern. So funktionierte das System Weinstein, bei Männern wie bei Frauen, nur dass die Männer den weniger unangenehmen Part erwischt hatten. Die Frauen waren die wirklichen Opfer. Sie schwiegen, jahrelang, aus Angst, aus Scham, wegen Selbstvorwürfen. Aber waren sie tatsächlich wehrlos?

Wie ohnmächtig der mächtige Harvey Weinstein in Wahrheit in all den Jahren war, zeigt sich jetzt, in diesen Tagen, in denen sein wahres Ich wie von einer Filmkamera aufgenommen der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Kaum hatten die ersten Schauspielerinnen für die ganze Welt hörbar ausgesprochen, was Weinstein ihnen angetan hatte, da halfen ihm sein Bestechungsgeld, sein Einfluss, seine Beziehungen nicht mehr. Mit einem Schlag wurde Weinstein aus seinem eben noch so großartigen Leben herausgeschleudert. Sein eigenes Unternehmen trennte sich von ihm. Seine Frau verließ ihn. Die Oscar-Akademie schloss ihn aus. Sein Ruf ist zerstört. Harvey Weinstein ist jetzt ganz allein.

All die Schauspielerinnen, über die er fast beliebig verfügt hatte in all den Jahren, sie hätten nur früher mit dem Finger auf ihn zeigen, früher gemeinsam die Stimme erheben müssen, und das System Weinstein wäre viel eher zusammengebrochen. Vielleicht wäre es gar nicht erst entstanden. Dieses Versäumnis entschuldigt keine von Weinsteins Taten. Harvey Weinstein war, wenn die Aussagen all derer, die sich jetzt an die Öffentlichkeit wagen, stimmen, ein Monster. Aber sein System konnte eben nur funktionieren, weil sehr viele Menschen, Männer wie Frauen, an den eigenen Vorteil dachten, den eigenen Nachteil fürchteten, anstatt sich ihm in den Weg zu stellen.

In einem Film über sexuelle Belästigung würde ein Held dem Täter entgegentreten. Aber das Leben ist kein Film, und die meisten Menschen sind eben nicht zum Helden geboren. Wobei, auch das muss man wissen, das amerikanische Arbeitsrecht nicht gerade dabei hilft, sich gegen einen Mann wie Weinstein zur Wehr zu setzen.

Oft enthalten die Arbeitsverträge eine Klausel, die dazu verpflichtet, rechtliche Konflikte nicht vor Gericht, sondern vor einem privaten Mediator zu klären. Wer einen Streit über sexuelle Belästigung auf diese Art beilegt, verpflichtet sich gegen eine bestimmte, oft sehr hohe Geldsumme zum Stillschweigen und zur Beseitigung eventueller Beweise. Auch das gehörte zum System Weinstein. Von dem Tag an, als Weinsteins wirkliches Leben öffentlich wurde, stand eine Frage im Raum: Gibt es solche Typen auch anderswo? Filme werden fast überall gedreht, und fast überall sind sie verbunden mit der Hoffnung auf Aufstieg, Glanz und Selbstbestätigung. Begehrte Güter, die sich womöglich gegen Sex eintauschen lassen.

Der Text beginnt und endet mit Anspielungen auf Prostitution. Dazwischen wird ohne logische oder empirische Vermittlung (die Auslassungen im Zitat enthalten lediglich Abschweifungen vom Thema), allein durch Gedankensprünge und Sinnverschiebungen, aus einem Mann, auf dessen Schoß ein regelrechtes Gedränge herrschen musste, sobald Fotografen in der Nähe waren, ein „Monster“, das gegenüber den irgendwie und fast schon demiurgenhaft produzierten „Opfern“ spornstreichs aufs „Drohen. Bestechen. Erpressen. Belügen. Einschüchtern“ verfiel.

Als Belege für ein unterstelltes Zwangssystem, das „Opfer“ entlastet und von einer Verstrickung in die Zusammenhänge, unter den sie leiden, freispricht, würde man nun weniger Beispiele des „Bestechens“ und „Belügens“, sondern vielmehr Akte des Drohens, Erpressens und Einschüchterns erwarten. Denn nur so wären wohlhabende Staatsbürgerinnen westlicher Nationen wie z.B. Uma Thurman, Gwyneth Paltrow, Kate Beckinsale und Asia Argento, denen – im Unterschied etwa zum Schicksal einer mittellosen und verschleppten osteuropäischen Zwangsprostituierten – niemand den Pass abgenommen hat, dafür aus der Selbstverantwortung zu nehmen, noch Jahre nach dem angeblichen Missbrauch Filme und/oder Bussi-Bussi-Fotos mit Weinstein gemacht zu haben (siehe hier und hier).

Folgerichtig kolportierte unter dem Titel „Harveys Spione“ etwa Welt-Online (10.11.2017) mit Verweis auf The New Yorker, dass Weinstein ehemalige Offiziere des Mossad gegen die mutmaßlichen Opfer eingesetzt haben soll, und Mossad-Agenten sind schließlich – wie man in Deutschland spätestens seit der Eichmann-Entführung weiß – nicht zimperlich.

Die Provokation

Stories wie diese ließ man aber eher links liegen und hob stattdessen auf „Bestechungsgelder“ ab. Auch das meinte nicht, dass Weinstein wie die Mafia in ihren sanfteren Methoden unabhängige Zeugen mit Geld kaufte, nein, Weinstein soll „die Opfer“, die vom Text zuvor zu Überlebenden sexueller Belästigung vereindeutigt worden waren, direkt zum Schweigen gebracht haben. Angeprangert und dem „System Weinstein“ subsumiert wurden ausgerechnet Vergleiche, wie sie zum Usus des amerikanischen Arbeitsrechtes gehören, juristische Vergleiche, die, für sich genommen, weil die Schuldfrage ungeklärt bleibt, für beide Seiten unbefriedigend sind und schon daher nicht durch ihr bloßes Vorliegen – bekannt wurden mit Beginn des Weinstein-Skandals acht solcher Vergleiche – gegen den Bezichtigten sprechen. Genaueres zu den Inhalten solcher Vergleichsabkommen und den „oft sehr hohen Geldsummen“, mit denen sich „Weinstein-Opfer“ aufs „Stillschweigen“ verpflichten ließen, erfuhr man von Zeit-Online im Oktober nicht.

Bild allerdings berichtet am 22. November 2017 unter Berufung auf The New Yorker, dass Weinstein das italienische Model Ambra Battilana Gutierrez im Jahr 2015 mittels eines 18-seitigen Vertrags und Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe zum Schweigen darüber brachte, dass er ihr an den Busen gefasst habe. Weiter heißt es im selben Atemzug: „Mit dem Geld konnte Gutierrez jedoch nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie absichern. Gutierrez ist nicht die einzige Frau, die eine solche Vereinbarung unterschrieben hat. Laut The New Yorker nutzte Weinstein seine Macht aus, um Frauen unter Druck zu setzen.“

Man kann die Verlockung, ein Bagatelldelikt im Tausch für ein gutes Leben nachträglich zu legalisieren, natürlich als besonders perfide Form des Unter-Druck-Setzens interpretieren. De facto macht die Annahme eines solchen Bestechungsgeldes, die Einwilligung in den so inoffiziellen wie großzügigen Täter-Opfer-Ausgleich, das vergangene Geschehen zwar nicht ungeschehen, aber rückwirkend zu einem prostitutionsähnlichen Akt.

Aus dem sich immer wieder aufdrängenden Komplex von Prostitution und Prostitutionsabwehr führt der Verweis auf vorliegende Vergleiche in Sachen sexueller Belästigung also gerade nicht heraus. Schlimmer noch, er nötigt insbesondere Frauen, die den „Weinstein-Skandal“ verfolgen, die Frage auf, ob und für wie viel Geld eigentlich sie sich an den Busen fassen lassen würden, schließlich stünde hier ein überlebbarer Augenblick der Scham gegen die Aussicht auf ein materiell sorgenfreies Leben, also: ein bisschen Sex dafür verkaufen, sich nie mehr verkaufen zu müssen.

Sollte die Frage nach der eigenen Prostituierbarkeit als solche schon auf heftige emotionale Abwehr stoßen und dann ein Projektionsobjekt für die sich einstellende eigene Wut vonnöten sein, ist klar, welcher Mann sich seit Herbst 2017 dafür besonders eignet.

Lesen Sie morgen: „Akte Weinstein“ (4): Prostitution als Tabu und Modell

Den ersten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Den zweiten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Den vierten Teil dieser Serie lesen Sie hier.

Dies ist ein leicht überarbeiteter und aktualisierter Text von Thomas Maul, der zuerst in Bahamas Nr. 78 erschienen ist.

Foto: David Shankbone CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

https://www.achgut.com/artikel/akte_wei ... nd_moneten


Thomas Maul, Gastautor / 06.09.2019 / 06:05 / Foto: David Shankbone /32 /

„Akte Weinstein“ (4): Prostitution als Tabu und Modell

Von Anfang an wussten beim „Fall Weinstein“ alle, dass der gewöhnliche Kapitalismus in Kombination mit dem Ausnahmeort Hollywood – vom Ausdruck „Traumfabrik“ adäquat wiedergegeben – eine spezifische Form der Prostitution, und damit ziemlich privilegierte „Opfer“, hervorbringt. Und von Anfang an sollte – wie im schwedischen Prostitutionsgesetz – allein der Freier für den von vornherein (oder rückwirkend via Bestechung hergestellten) „einvernehmlichen Sex“ bluten.

So schrieb die FAZ bereits zu Beginn des Skandals:

Argento (Asia, die Tochter des Regisseurs Dario Argento, T. M.) spricht auch von der Angst, die sie dazu trieb, einen der mächtigsten Männer der Filmbranche gewähren zu lassen. „Ich hatte das Gefühl, ich muss das tun, denn mein Film kam gerade heraus, und ich wollte ihn nicht verärgern.“ Ähnliches berichten Schauspielerinnen nun über viele Übergriffe, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Gemeinsam ist den Frauen, dass sie alle jung waren und neu in der Branche. Es war bekannt, dass Weinsteins Filme Oscars gewannen. Eine Rolle in seinen Produktionen konnte Jungschauspielerinnen zu Stars machen – und er konnte Besetzungen auch leicht verhindern. Weinstein nutzte diese Macht schamlos aus, davon zeugt die Lawine an Anschuldigungen, die jetzt über ihm niedergeht. (faz.net, 11.10.2017)

Dem deutschen Sexualstrafrecht nach beginnt justitiable Nötigung/Erpressung nicht erst mit der Anwendung oder Androhung von physischer Gewalt, sondern mit der Androhung eines „empfindlichen Übels“. Dem Ruch eines mindestens sexuellen Nötigers konnte Weinstein also gar nicht entkommen in einer Welt, die es als „empfindliches Übel“ auslegt, kein reicher und berühmter Weltstar werden zu können, worauf im vollendeten Narzissmus anscheinend jeder ohne Gegenleistung oder zufälliges Glück einen Anspruch hat.


In die Prostitution locken

Den Bezichtigungen und ihren Kolportagen zufolge besteht das eigentliche Verbrechen Weinsteins also darin, das personenunabhängig angeblich Nötigende, in Wirklichkeit: in die Prostitution Lockende „seines Amtes“ – seiner Machtposition – im Unterschied zu anderen unverhohlen ausgesprochen bzw. gestisch – Bademantel, Alkohol – unterstrichen (eben „schamlos ausgenutzt“) zu haben.

Bei all dem ist das Verhältnis von sexueller Selbstbestimmung und bürgerlicher Subjektform zur Prostitution doppelbödig, bzw. macht sich eine verquere Dialektik in ihm geltend. Der Logik des das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau beschränkenden schwedischen Prostitutionstabus folgend, geben die Hollywood-Schauspielerinnen ihren Subjekt-Status zugunsten einer Selbstviktimisierung preis.

Statt die Folgen eigener Entscheidungen und Handlungen noch irgendwie zu verantworten, vereinigen sich zum Schwestern-Kollektiv der Weinstein-Opfer jene, die für die Karriere entweder mit Weinstein Sex hatten oder lediglich penetrante Nachstellungen über größere Zeiträume ertrugen, die, welche für ihr Stillschweigen über sexuelle Belästigungen in Form von arbeitsrechtlichen Vergleichen oder inoffiziellen Bestechungen Geld erhielten, und solche, die jede Beziehung mit Weinstein nach der ersten „schlimmen Erfahrung“ abbrachen. Um anlässlich des Weinstein-Skandals so etwas wie die Entstehung einer neuen Frauenbewegung zu simulieren, wurde via „MeToo“ dann noch alles eingebunden, was von den tatsächlichen Opfern einer Vergewaltigung bis zu den Adressatinnen von Herrenwitzen schon einmal irgendwie unangenehme Erfahrungen mit Männern machen musste.

Dabei bauten nicht nur der allgemeine Hang zur öffentlichen Selbstentblößung und die Funktionsweise sozialer Medien die neue Gemeinschaft störende Distanzen und potenziell Trennendes ab, wie es mit Prominenz und Klassenzugehörigkeit der Anführerinnen gegeben gewesen wäre. Man setzte der Melange aus Kitsch und Verlogenheit im obligatorischen Charity noch eins drauf und gründete – statt Kinder armer Weltregionen zu adoptieren – unter dem Namen „Time’s Up“ eine Initiative samt Spendenfonds, um „künftig auch weniger privilegierten Frauen wie Arbeiterinnen, Kellnerinnen und Zimmermädchen Schutz vor und Rechtshilfe nach sexuellen Angriffen zu bieten.“ (faz.net, 1.1.2018).


Unschuldslämmer in Schwarz

Als die Weltstars dann anlässlich der 75. Verleihung des Golden Globe wieder zusammenkamen und „über den roten Teppich vor dem Beverly Hilton Hotel in Los Angeles flanierten“, ging das nicht mehr, ohne zahlreiche Zeichen zu setzen:

Die meisten verzichteten auf bunte Roben und trugen stattdessen Schwarz, als Protest gegen sexuellen Missbrauch und die Benachteiligung von Frauen in Zeiten der #MeToo-Bewegung. Emma Watson und Laura Dern zählten zu einer Reihe weiblicher Stars, die von acht Frauen-Aktivistinnen zu der Gala begleitet wurden. […] Als Zeichen der Solidarität für mehr Geschlechtergleichheit trugen viele Stars einen Anstecker der Initiative Time’s Up (Die Zeit ist vorbei). (Zeit.de , 8.1.2018)

Man möchte meinen, für die aus einem mit religiöser Hysterie betriebenen Exorzismus von Prostitution gereinigt hervorgegangenen Unschulds- und Opferlämmer wäre weiße Kleidung die passendere gewesen. Andererseits kam in der Ikonographie des Auftritts – Trauerkleidung und Anstecker – angemessen zum Ausdruck, dass die weiblichen Opfer von „Missbrauch“ und „Benachteiligung“ in den Augen ihrer Patronage mindestens den Status von Aids-Toten genießen, obwohl sie bisher weder krank noch gestorben sind.

Der Perhorreszierung von Prostitution zum Trotz – und dass das kein Widerspruch ist, zeigt wiederum die schwedische Gesetzgebung – machen sich, durch die Weinstein-Affäre und „MeToo“ verstärkt, zunehmend Momente moderner Prostitution gerade dort geltend, wo sie am wenigsten zu suchen hätten.

Indem die jüngste Sexualstrafrechtsreform in Schweden als Reaktion auf „MeToo“ das wechselseitige Einvernehmen als Voraussetzung legaler Sexualität an ein aktives Ja – statt wie zuvor an ein ausbleibendes Nein – bindet, wird nämlich nahegelegt, dass die nur noch als schutzbedürftiges pozentielles Opfer männlich-aggressiver Benutzung gedachte Frau ihre Freiheit und Selbstbestimmung allein in einer vertraglichen Reglementierung des Sexualaktes verwirklichen kann, die diesen, abgesehen von der Bezahlung, strukturell der Prostitution gleichsetzt, wie sie im Modell „autonomer Sexarbeit“ konzipiert ist: Prostituierte setzen dem Freier klare Grenzen, es wird vorab konsensual abgestimmt, wer was tun und unterlassen muss, erste Informationen zum Aussehen der Hure, zu Preis und Bestimmung des Standardprogramms sowie zu Aufpreisen für Extras sind dem Internet zu entnehmen bzw. lassen sich via Tinder et al über den potenziellen Partner in Erfahrung bringen.

Nach Vollzug der vereinbarten Handlungen ist das Ganze vorbei, es darf keine darüber hinausgehenden Gefühle geben, weil die nur abhängig und unfrei machen.

Kurz, wenn man von der Prostitution alles abzieht, was ihr Verruchtheit und den Reiz des Halbseidenen verleiht, inklusive der Tatsache, dass für sie bezahlt wird, sie also an sich selbst als Warentausch erscheint, dann hat man das, was Genderfeministen von Schweden bis Hollywood allenfalls noch als legitime sexuelle Handlung gelten lassen wollen.


Fahndungsaufrufe in sozialen Medien

Ausgerechnet da also, wo beide Geschlechter – Frauen wie Männer – die Erfahrung glücklicher Ohnmacht in der Hingabe machen könnten, welche die Subjektform, ein souveränes Selbst, vorübergehend suspendiert, fordern Opferschützer eine Rationalität ein, die alles, was geschehen kann, einem selbstherrlichen Kontrollwahn bzw. pedantischen Verhandlungen unterwerfen soll. Aus (insbesondere hetero-)sexuellen Beziehungen wäre damit alles getilgt, womit die Partner einander eventuell überraschen könnten, auf dass die Beziehung genauso überregelt, selbstrepressiv und öde ist wie das übrige Leben.

Gesamtgesellschaftlich fügt der einzelne tatsächliche Sexualverbrecher der Hoffnung auf eine Versöhnung der Geschlechter somit weniger Schaden zu als die Initiativen zu seiner Bekämpfung. In diesem Sinn war es unfreiwillig ehrlich, als sich die Selbstbeweihräucherung der Stars auf dem roten Teppich die Anmutung einer Trauerfeier gab.

Im informellen Bündnis aus Opferschutz, Puritanismus und Narzissmus wurde bei der sekundären Verarbeitung des Weinstein-Skandals die Verbindung von Prostitution(sabwehr) und Hollywood aus der Gleichung genommen bzw. verdrängt. Nur der Name „Weinstein“ blieb das einzig Konkrete in einem allgemeinen Gebrabbel von nötigender Gewalt, sexueller Übergriffigkeit, Belästigung, Macht, Opfer und Patriarchat. So konnte die strunzdumme Frage, „ob es solche Typen wie Weinstein auch außerhalb Hollywoods gibt?“ (Zeit) – in der Form selbstverständlich nicht –, zum Fahndungsaufruf in den sozialen wie seriösen Medien („Wider die Weinsteins“, Handelsblatt, 21.12.2017) samt der entsprechenden Abwehrgesten mutieren: „‚Aber ich bin doch kein Weinstein!' Das sagen viele aufgeklärte Männer, wenn sie lesen, was Frauen unter dem Hashtag #Me-Too posten.“ (Süddeutsche.de, 20.10.2017)

Am 18.10.17 hieß es auf faz.net:

#metoo […] avancierte zum globalen Megatrend in den sozialen Netzwerken. In den Twitter-Charts rangiert der Hashtag seit Tagen ganz oben. Unter ihm berichten Frauen von anzüglichen Bemerkungen in der Schule, an der Universität, im Beruf, auf der Straße; von Grabschern auf der Tanzfläche und der Angst allein auf dem Nachhauseweg im Dunkeln, von Vergewaltigungen, von Männern, die sie gegen ihren Willen berührten, verbal erniedrigten, ihre physische Stärke oder hierarchische Autorität ausnutzten. Harvey Weinstein ist überall, das will der Hashtag „#myharveyweinstein“ signalisieren.


„Unser Weinstein“

Anfang November 2017 zogen die Veranstalter der traditionellen Bonfire Night in Edenbridge erste praktische Konsequenzen aus dieser Omnipräsenz des Bösen, indem sie die dieses Jahr zur Verbrennung bestimmte Figur bekanntgaben: „Es handelt sich um eine halbnackte Weinstein-Figur, die eine Oscar-Statue umklammert hält. Mit einer offenen Filmklappe im Schritt der Weinstein-Figur deutet eine Frauenfigur das Abschneiden des Genitals des Filmproduzenten an. Die Klappe trägt die Aufschrift Final Cut.“ (Vgl. hier, wo auch die Figur abgebildet wird.)

Nachdem also Harvey Weinstein oder auch nur sein jüdischer Nachname weltweit als von jedem Kontext losgelöster Inbegriff des nötigenden Sexmonsters etabliert war, griffen deutsche Journalisten nur noch unbedarft zur naheliegenden Formulierung, als im Januar 2018 – im entscheidenden Unterschied zum Fall Weinstein – halbwegs konsistente Vorwürfe sexueller Nötigung gegen den Regisseur Dieter Wedel laut wurden und man von FAZ bis Tagesspiegel am 5.1.18 titelte: „Ist Dieter Wedel unser Weinstein?“ oder „Ist Dieter Wedel ein deutscher Weinstein?“

Legitimiert sich die Verbindung im Konkreten divergierender „Fälle“ allgemein über „die Filmindustrie“, dann hätte bereits der Fall Weinstein dieser Logik nach unter der Schlagzeile „Ist Weinstein ein weißer (oder jüdischer) Bill Cosby?“ verhandelt werden müssen, insofern der afroamerikanische Schauspieler und Komiker seit den 2000ern mit Beschuldigungen und Prozessen überzogen wird, die sich auf konkret und zumeist glaubwürdig geschilderte Fälle mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs von Frauen (sexuelle Handlungen mittels Medikamenten wie K.o.-Tropfen) seit den 1960er Jahren beziehen. Am 27. Juli 2015 waren auf dem Cover der Zeitschrift New York 35 Frauen abgebildet, die darin ihren Missbrauch durch Cosby schilderten.

Wäre aber Weinstein als Wiedergänger des mittlerweile verurteilten Cosby dargestellt worden, wäre das antirassistische Geschrei groß gewesen. Das letzte, das übergreifende Hassbild musste „der Weinstein“ sein, weil sich gegen ihn und seinesgleichen alle einig sind.

Dass sich das alte neue Unbehagen gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung der Frau in ihrer Verschränkung mit der bürgerlichen Subjektform als im Grunde antizivilisatorisches Ressentiment mit Weinstein an einem jüdischen Amerikaner entzündete, mag dem Zufall geschuldet sein. Ein weißer, alter Sack musste aber wohl auf jeden Fall her. Auf einen solchen haben antirassistische Postfeministinnen insbesondere in Deutschland gelauert, seit ihre Diffamierungen der tatsächlichen Opfer der Kölner Domplatte als rassistische Trittbrettfahrerinnen und ihr verharmlosender Fingerzeig aufs Oktoberfest im Mainstream noch nicht so richtig verfingen.

Ende der Serie

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Dies ist ein leicht überarbeiteter und aktualisierter Text von Thomas Maul, der zuerst in Bahamas Nr. 78 erschienen ist.

Foto: David Shankbone CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von deernhh »

Jeffrey Epstein
:
Solange das Geld fließt, fragt niemand nach

Der Sexualstraftäter Jeffrey Epstein unterstützte das MIT Media Lab und traf Unternehmer wie Bill Gates. Jetzt muss sich die Techbranche fragen, mit wem sie sich einließ.

Von Eike Kühl

11. September 2019, 19:39 Uhr 56 Kommentare
Jeffrey Epstein verkehrte mit bekannten Personen aus der Technikbranche.

Jeffrey Epstein verkehrte mit bekannten Personen aus der Technikbranche. © Krzysztof Kowalik/​Unsplash; Rick Friedman/​Corbis via Getty Images

Epstein war, so liest man, ein ebenso erfolgreicher wie charismatischer Geschäftsmann. Seit den Achtzigerjahren verkehrte der Investmentbanker und Berater sowohl privat als auch beruflich mit Schauspielern, Models, Politikerinnen und zunehmend mit Gründern aus dem Silicon Valley, führenden Wissenschaftlerinnen und Akademikern. Der Multimillionär spendete gut und gerne Geld an NGOs, Forschungsprojekte und Universitäten – und die nahmen es lange Zeit dankend an. Selbst dann noch, als der Name Jeffrey Epstein in der Öffentlichkeit längst nicht mehr gut ankam.


Jeffrey Epstein war nämlich auch ein verurteilter Sexualstraftäter. Ab 2005 legte eine Untersuchung offen, dass Epstein über Jahre hinweg Frauen und minderjährige Mädchen missbraucht und zur Prostitution gezwungen hatte. Epstein verbrachte aufgrund guter Führung lediglich 13 Monate im Gefängnis, wobei er allerdings unter der Woche meistens Freigang hatte, um weiterhin zu arbeiten. Anfang Juli 2019 wurde er aufgrund neuer Erkenntnisse erneut verhaftet, am 10. August starb er in seiner Gefängniszelle – Suizid, heißt es offiziell.

Jetzt, einen Monat nach Epsteins Tod, wird sein Einfluss zu Lebzeiten kritisch beäugt. Es geht um die Frage, ob man als Unternehmen, Hochschule oder Wissenschaftler Geld von einem verurteilten Kriminellen annehmen sollte. Wo hören private Spenden auf und wo fangen die moralischen Bedenken an? Und was sagt das über das Selbstverständnis von Wissenschaft und Technikbranche aus?

Treffen mit Silicon-Valley-Promis

Im Mittelpunkt der Debatte steht das MIT Media Lab, eine Fakultät des Massachusetts Institute of Technology, die an der Schnittstelle von Kultur und Technologie arbeitet und vor allem durch Spenden finanziert wird. Vergangene Woche zeigten Recherchen des US-Magazin New Yorker, dass Lab-Leiter Jōichi Itō über einen längeren Zeitraum Spenden von Jeffrey Epstein angenommen haben soll. Und zwar in einem Umfang, der deutlich größer war, als Itō zunächst angab. Insgesamt 7,5 Millionen US-Dollar soll Epstein über Partner an das Media Lab überwiesen haben. Weil er aber auf der schwarzen Liste unerwünschter Spender des MIT stand, haben die Verantwortlichen des Media Lab versucht, Epsteins Namen in offiziellen Dokumenten möglichst nicht zu erwähnen. Sein Deckname soll Voldemort gewesen sein – benannt nach dem Bösewicht aus Harry Potter.


Jōichi Itō ist vergangene Woche von seinem Posten am Media Lab zurückgetreten, doch der Skandal ist damit nicht beendet. Längst richtet sich der Blick nicht mehr nur auf das MIT Media Lab, sondern auch andere Institutionen wie die Harvard University, die ebenfalls Spenden von Epstein in Millionenhöhe annahmen. Auch prominente Vertreter aus dem Silicon Valley wie Tesla-Geschäftsführer Elon Musk, Google-Gründer Sergey Brin und Amazon-Chef Jeff Bezos stehen in der Kritik.

Sie alle sollen 2011 an einem Treffen teilgenommen haben, bei dem auch Jeffrey Epstein zugegen war, berichtet Buzzfeed. Zu diesem Zeitpunkt waren dessen Straftaten bereits hinlänglich bekannt. Organisiert wurde das Abendessen von dem einflussreichen Literaturagenten John Brockman, der mit der Edge Foundation einen Club für Intellektuelle aus Wissenschaft und Technik gegründet hat – und offenbar eine gute Beziehung zu Epstein hatte. So diente dessen Privatinsel, wo er später Minderjährige wiederholt missbraucht haben soll, in der Vergangenheit als Treffpunkt für Konferenzen, an denen führende Wissenschaftler wie Stephen Hawking teilnahmen.

Nun ist natürlich nicht verboten, an einem Abendessen teilzunehmen, an dem auch Jeffrey Epstein zugegen war. Zumal Epstein seine Strafe zum Zeitpunkt des erwähnten Dinners abgesessen hatte und viele der Anwesenden offenbar zuvor weder wussten, dass Epstein anwesend sein würde, oder auf Nachfrage von Buzzfeed erklärten, ihn zum damaligen Zeitpunkt gar nicht erkannt zu haben.

Alles "moralisch bankrotte Opportunisten"?

Jōichi Itō vom MIT Media Lab (rechts) mit LinkedIn-Gründer Reid Hoffman (Archivbild)
Jōichi Itō vom MIT Media Lab (rechts) mit LinkedIn-Gründer Reid Hoffman (Archivbild) © Kimberly White/​AFP/​Getty Images
Andere Prominente aber wussten es sehr wohl, etwa Microsoft-Gründer Bill Gates. Er traf sich Berichten zufolge 2013 auf dessen wiederholten Wunsch mit Epstein, um über Spendenaktionen zu sprechen. Später soll Gates über seine Stiftung zwei Millionen US-Dollar an das MIT Media Lab überwiesen haben – initiiert durch Epstein, heißt es in einer internen E-Mail der Fakultät. In einem Interview mit dem Wall Street Journal am Dienstag sagte Gates, es habe keine Geschäftsbeziehungen zu Epstein gegeben. Er habe ihn letztlich nur deshalb getroffen, weil dieser "viele reiche Leute" gekannt habe.

Es ist eine Aussage, die die Beziehung zwischen Epstein und dem MIT Media Lab, aber auch die Beziehung zwischen Institutionen und ihren Geldgeberinnen beschreibt: Geld verbindet und solange genug davon fließt, wird nicht hinterfragt, woher es kommt. Oder es wird, wie in der aktuellen Debatte, notfalls verschleiert. So wie der Fall von Harvey Weinstein die "don't ask, don't tell"-Einstellung der Filmbranche gegenüber sexuellen Übergriffen offenbarte, scheint der Fall von Jeffrey Epstein die moralischen Abgründe der Technikbranche zu beleuchten.

Nicholas Negroponte, Gründer des MIT Media Lab, sagte noch zwei Tage vor der Veröffentlichung des New Yorker in einem Meeting, dass es gerechtfertigt gewesen sei, Epsteins Geld anzunehmen. Jedenfalls zu Zeiten, in denen die jüngsten Vorwürfe des Menschenhandels noch nicht bekannt waren. "Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich es wieder tun", sagte Negroponte nach Berichten von Technology Review. In Zeiten des Fundraisings seien solche Vorkommnisse keine Seltenheit und kein Grund, die Geschäftsbeziehungen abzubrechen. Eine Aussage, die bei einigen Anwesenden starke Gegenwehr auslöst
Auch Reid Hoffman, Mitgründer der Business-Plattform LinkedIn, schien noch Ende August die Entscheidung von Jōichi Itō in einer E-Mail zu verteidigen. Ein interessantes Detail: Noch vor zwei Jahren sprach sich Hoffman aktiv gegen Belästigung und Benachteiligung von Frauen aus und forderte eine neue, bessere Unternehmenskultur im Silicon Valley. Dass ein renommiertes Forschungseinrichtung Spenden von einem Mann annahm, der mutmaßlich Dutzende Frauen missbraucht hat, schien Hoffman aber noch bis vor Kurzem nicht zu stören.

Milliardäre treffen auf Stars, Philanthropen auf Kapitalgeber

Natürlich gibt es auch Gegenstimmen. Die Journalistin Kara Swisher etwa schrieb in der New York Times, Itōs ethischer Kompass sei kaputt gegangen, was wiederum ein Symptom einer Branche sei, die offenbar nicht Nein sagen könne: Nicht jedes Vermögen sei sauber und nicht jeder Geldgeber komplett rein, aber man müsse trotzdem in der Lage sein, sich klar gegen Geldgeber auszusprechen, die Journalisten töten (in Anspielung auf Finanzierungen durch Saudi-Arabien) oder Frauen vergewaltigen.

Noch deutlicher sagt es der langjährige Silicon-Valley-Kritiker Evgeny Morozov im Guardian: "Der Epstein-Fall zeichnet die Technik-Eliten als eine Gruppe moralisch bankrotter Opportunisten", getrieben von der stetigen Suche nach dem großen Geld.

Für Morozov ist es kein Zufall, dass ausgerechnet das MIT Media Lab im Mittelpunkt der Affäre steht. So wie John Brockman mit seiner Edge Foundation seit den Neunzigerjahren den Vormarsch einer "dritten Kultur" propagiert, in der Wissenschaft und Kultur näher zusammenrücken, arbeitet auch das Media Lab an dieser Schnittstelle. Morozov sieht darin bloß einen Vorwand, unternehmerische Aktivitäten unter einem intellektuellen Deckmantel zu verstecken, Milliardäre aus dem Silicon Valley mit Hollywoodstars, Philanthropen mit Risikokapitalisten zu vernetzen. Es sei eine Konstellation, die Menschen wie Epstein erlaube, sich von ihren Taten reinzuwaschen.

Morozovs Worte sind harsch, aber nicht falsch: In Zeiten, in denen die Risikokapitalgeber über den Erfolg und Misserfolg von neuen Unternehmen bestimmen und immer mehr Hochschulen – nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland – von Industriekooperationen und Stiftungen abhängig sind, lösen sich die Grenzen zwischen Ingenieuren, Gründerinnen, Forschern, Intellektuellen und Geldgebern immer weiter auf.

Das entschuldigt am Ende nicht die Entscheidung von Jōichi Itō, das Geld von Jeffrey Epstein anzunehmen und es zudem noch zu verheimlichen. Vielleicht hat er, so wie Bill Gates bei seinem Treffen mit Epstein, letztlich nur geglaubt, dass jede zusätzliche Finanzierung und Spende besser als keine sei. Es war eine Fehleinschätzung, die ihn persönlich den Job gekostet hat. Aber vielleicht zeigt sie auch Wirkung: So wie im Fall von Harvey Weinstein die #metoo-Bewegung entstand, könnte der Fall von Jeffrey Epstein auch in der Technikbranche wieder für etwas mehr Sensibilität sorgen, woher das Geld kommt, mit dem man sich finanziert.

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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von deernhh »

Einige kleine Worte von mir:

Ich möchte mich entschuldigen, dass ich die Fälle Weinstein / Epstein nicht als EINEN Beitrag senden konnte, denn es war/ist in einem Beitrag nur eine bestimmte Anzahl von Zeilen gestattet, wie ich als Hinweis erfuhr.
Deshalb musste ich etwas abtrennen.

Liebe Grüße von deernhh

PS: Welch Zufall bzw. welche Ironie:
Beide heißen im letzten Wortteil "Stein".

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Lucille
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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von Lucille »

Wesentlich ist m.E. diese deutliche Formulierung:

„ … gegenüber prospektiven Arbeitgebern eben auch die „Waffen einer Frau“ einzusetzen.

Entsprechend ließ sich Proll auch von der pseudofeministischen Gehässigkeit, nach dem Modell des schwedischen Prostitutionsverbots allein den Freier – also den bösen Mann – und nicht auch die Prostituierte für ihren „Deal“ haftbar zu machen, nicht den Blick dafür vernebeln,

was in derlei Opferschutzprogrammen das Hauptangriffsziel ist:
nämlich die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen, deren nonkonformen Ausdruck der neue Puritanismus nur dann nicht an ihnen verfolgt, wenn er ihn irgendwie als Resultat von Männergewalt konstruieren und die Frauen damit ins binäre Identitätsschema „Opfer oder Schlampe“ zurückzwingen kann“


… und Sexworker, die sich nicht als Opfer begreifen, werden, von hessischen Landesministerien legitimiert, vom sozial-psychiatrischen Dienst zwangsberaten … … ( Schlampen sind doch Volksschädlinge, oder wie war das noch … damals?)

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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von deernhh »

Danke Lucille,

für Deinen Kommentar. 👍
Vollkommen richtig!

Die Zeilen, auf Du Dich bezogen hast, habe ich oben im Weinstein-Beitrag nachträglich gelb markiert.

Liebe Grüße von mir

**************************************************

Jetzt ein Artikel über die Moral der "Silicon-Valley-Protagonist*innen", wo es nicht so sehr um Prostitution geht, sondern eher darum geht, Unmengen an Geld zu scheffeln.

Fall Epstein zeigt: Das Silicon Valley ist besessen von Geld — mit schrecklichen Konsequenzen

Alyson Shontell 27.08.2019, 15:38

FILE - This March 28, 2017, file photo, provided by the New York State Sex Offender Registry, shows Jeffrey Epstein. The will that Epstein signed just two days before his jailhouse suicide on Aug. 10, 2019, puts more than $577 million in assets in a trust fund that could make it more difficult for his dozens of accusers to collect damages. (New York State Sex Offender Registry via AP, File)

Viele Gründer haben Geld von einem Wagniskapital-Fonds angenommen, an dem der verurteilte Kriminelle Jeffrey Epstein beteiligt war. Jetzt sind ihre Produkte belastet.Associated Press

Die Tech-Riesen im Silicon Valley behaupten, dass es ihnen darum geht, innovative Produkte zu entwickeln, die die Welt verändern. Aber in dem verzweifelten Streben nach Erfolg riskieren viele Gründer und Risikokapitalgeber eine moralische Bankrotterklärung .
Sie akzeptieren wissentlich Geld aus korrupten Quellen. Jeffrey Epstein war ein Tech-Investor und Partner eines Wagniskapital-Fonds. Saudi-Arabien hat Milliarden in Tech-Startups wie Wework und Uber investiert.
Wenn diese Gründer erfolgreich werden und wenn wir ihre Produkte einsetzen, bereichern wir damit schlechte Akteure.


Risikokapitalgeber und Unternehmer haben ein Hauptziel: Sie wollen extrem erfolgreich sein. Vielleicht haben einige von ihnen auch die noblere zweite Absicht, etwas zu erschaffen, das die Welt verbessert. Aber wenn man nicht zuerst erfolgreich ist, hat man kaum eine Chance, diese weltverändernde Idee zu entfesseln.


Erfolg wird typischerweise in Euro gemessen: Wie viel Geld man sammelt. Wie groß der Fonds ist. Eine Milliardenbewertung. Wie hoch die Rendite ist, die man für Investoren erzielt. Oder, aus der Perspektive des Investors, für die Kommanditisten.

Letztendlich geht es darum, wie reich man wird.

Und da heutzutage so viel Geld im Silicon Valley herumschwappt, war es nie einfacher, den Traum vom Erfolg zu verfolgen. Kapital aus der ganzen Welt ist verfügbar. Für Tech-Gründer und Investoren spielt es keine Rolle, zu welchem Geldautomaten Sie gehen — sie alle spucken Geld aus.

Der moralische Kompass des Silicon Valley ist kaputt

Aber nicht alles Geld ist gleich. Wenn ihr Geld von guten Menschen nehmt, wird euer Erfolg zu ihrem Erfolg. Ebenso, wenn ihr Geld von schlechten Menschen nehmt, wird euer Erfolg auch zu ihrem Erfolg. Das ist etwas, worüber viel zu wenige Unternehmer und Risikokapitalgeber nachdenken wollen. Der moralische Kompass des Silicon Valley ist kaputt.

Letzte Woche habe ich mit zwei etablierten Gründern zu Mittag gegessen, die sich mitten im Fundraising befinden. Sie suchen riesige Schecks, mehr als 50 Millionen Dollar pro Geldgeber. Ich fragte, ob sie darüber nachdenken, an wen sie herantreten und woher ihr Geld kommt.

Ja, antworteten sie, sie hatten darüber nachgedacht. Sie hatten sich jedoch noch nicht darauf geeinigt, was sie tun sollten. Geld aus Saudi-Arabien zu nehmen, so einer von ihnen, sei im Wesentlichen dasselbe wie das Betanken ihres Autos. So oder so, Sie unterstützen den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, den de facto Herrscher des Landes, der hinter der Ermordung eines Journalisten steckt.

In einem kürzlich veröffentlichten Interview mit dem Wework-Chef Adam Neumann habe ich ihn nach dem Kapital aus dem ersten Vision Fund der Softbank gefragt, der größtenteils von Saudi-Arabien unterstützt wurde. Er hielt inne, bevor er die Frage beantwortete, und sagte dann im Wesentlichen, dass er seine Kapitalquellen beim nächsten Mal besser betrachten würde.

Fall Epstein zeigt die Korrumpierbarkeit des Systems

Jeffrey Epstein, der in Ungnade gefallene Finanzier, der sich diesen Monat im Gefängnis umgebracht hat, war auch ein Tech-Investor. Er war angeblich Partner bei Wagniskapital-Fonds und Startup-Investor.

Mindestens ein Investor, der sein Geld 2013 genommen hat, Joi Ito, hat sich bisher öffentlich bekannt. Er bestätigte, dass er Epsteins Geld akzeptiert hatt — Jahre nachdem die Anschuldigungen von 2008, einschließlich Epsteins Schuldeingeständnis, Prostitution mit Minderjährigen zu betreiben, öffentlich gemacht wurden.

„Bedauerlicherweise hat das Lab im Laufe der Jahre durch einige der von ihm kontrollierten Stiftungen Geld erhalten. Ich wusste von diesen Geschenken und diese Gelder wurden mit meiner Erlaubnis überwiesen“, sagte Ito letzte Woche in einer öffentlichen Entschuldigung. „Ich habe ihm auch erlaubt, in mehrere meiner Fonds zu investieren, die in Technologie-Startup-Unternehmen außerhalb des MIT investieren.“

Itos Entscheidung half ihm finanziell, schadet aber anderen langfristig. Risikokapitalgeber müssen nicht offenlegen, wer ihre Kommanditisten sind, und es ist wahrscheinlich, dass keiner der Gründer, die die Finanzierung von Ito akzeptierten, wusste, dass etwas davon von Epstein kam. Jetzt sind ihre Produkte mit Sexualstraftaten belastet.

„Ist es zu viel verlangt, dass die Leute eine einfache Google-Suche durchführen, bevor sie mit jemandem ins Geschäft kommen?“
Gründer sollten eine sorgfältige Prüfung bei Investoren durchführen, bevor sie ihr Geld annehmen. Das bedeutet, Referenzen anzufordern, um zu sehen, ob es sich um anständige Menschen handelt. Ebenso sollen Investoren sowohl bei den Gründern, die sie unterstützen wollen, als auch bei den Kommanditisten, die in ihre Fonds investieren, eine Sorgfaltspflicht wahrnehmen.

Oftmals findet wenig bis gar keine Prüfung statt. „Ist es zu viel verlangt, dass die Leute eine einfache Google-Suche durchführen, bevor sie mit jemandem ins Geschäft kommen?“, schrieb etwa der Unternehmer Om Malik, nachdem die Epstein-Ito-Verbindung offengelegt wurde.

Fred Wilson, ein Risikokapitalgeber, der früh in soziale Netzwerke wie Tumblr und Twitter investierte, schrieb kürzlich, dass er überrascht war, wie leichtsinnig einige Gründer ihre Investoren wählten. „Es ist leicht, sich im Spiel der Startups und Investments zu verlieren“, schrieb Wilson. „Ein Fundraising-Prozess ist im Kern ein Wettbewerb. Und jeder will gewinnen. Aber man bekommt keine Trophäe, wenn man dieses Spiel gewinnt. Man gerät in eine Beziehung. Oft eine sehr lange.“

Es sind nicht nur Investoren und Unternehmer, die in lange Beziehungen zu schlechten Menschen geraten. Es geht um uns alle.

Benzin tanken kann schlechte Akteure bereichern. Ebenso wie jede saudi-geförderte Fahrt, die ihr mit Uber macht oder jedes Wework-Büro, in dem ihr arbeitet. Euer iPhone wird in China hergestellt, wo die Regierung Millionen von uigurischen Muslimen in Umerziehungslager gezwungen hat. Unsere technischen Produkte sind alle befleckt worden, in irgendeiner Weise.

Wenn wir unsere Überzeugungen in unserem Privatleben nicht durchsetzen können, warum sollten wir dann erwarten, dass Unternehmen mit Gewinn und Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern solche Entscheidungen treffen?

Es ist eine komplizierte Frage, mit keinen einfachen Antworten. Aber im Silicon Valley, wo das Ideal, die Welt zu verändern, seit Jahren mythologisiert wird und jeder davon profitiert, gibt es eine größere Verantwortung, sich ihr zu stellen. Und je mehr Gründer und Investoren versuchen, ihren Prinzipien gerecht zu werden, desto schwieriger wird es, die Dinge zu erklären, die falsch laufen.

Richard Titus, ein Tech-Investor und Unternehmer, stimmt zu, dass dies ein „toxisches“ Problem im Tech-Bereich ist, räumt aber ein, dass es für Gründer und Investoren schwierig sein kann, den richtigen Weg zu gehen — und die Balance zwischen der Finanzierung des Traums und der Entscheidung, das Richtige zu tun, zu meistern.

„Wir müssen uns mehr mit den Geldquelle auseinandersetzen“, sagte er auf Twitter. „Aber wenn man kein Geld mehr hat und so getrieben ist, wie viele Gründer es sind ... ist es schwer. Sehr schwer.“

https://www.businessinsider.de/startups ... ein-2019-8

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Kasharius
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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von Kasharius »

Zum Fall Epstein:

https://de.euronews.com/2019/09/12/mutm ... frankreich

Kasharius grüßt

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deernhh
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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von deernhh »

PANORAMA
URTEIL GEGEN HARVEY WEINSTEIN
Jenseits vernünftigen Zweifels
Stand: 18:49 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten
Von Hannes Stein



In dem Vergewaltigungsprozess kam die Jury zu der Entscheidung, den 67-Jährigen wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu verurteilen. Nicht schuldig sei Weinstein jedoch im schwersten Anklagepunkt des „raubtierhaften sexuellen Angriffs“.

Quelle: WELT

Gut zwei Jahre nach dem Start der MeToo-Bewegung durch Vorwürfe gegen Harvey Weinstein hat ein US-Gericht den früheren Hollywoood-Mogul wegen Sexualverbrechen schuldig gesprochen. Weinstein drohen nun Jahre in Haft. Das Strafmaß wird später verkündet.

Das amerikanische Rechtssystem ist auf Spezialisten angewiesen: auf Staatsanwälte, die nach juristischen Standards eine Anklage formulieren, auf Verteidiger, die rhetorisch brillante Plädoyers halten, auf Richter, die für ein nach den Regeln der Prozessordnung ablaufendes Verfahren sorgen. All diese Spezialisten wurden lange Jahre an speziellen Universitäten ausgebildet, und manche von ihnen verdienen mit ihrer Arbeit viele Millionen Dollar.

Aber nicht sie sind es, die über Schuld und Unschuld eines Angeklagten befinden – wenigstens nicht in einem Kriminalfall. Über die Schuld oder die Unschuld eines Angeklagten entscheiden in den Vereinigten Staaten am Ende überhaupt keine Spezialisten, sondern zwölf Menschen, die quasi zufällig auf der Straße aufgelesen wurden. Zwölf Leute aus allen Lebenslagen, die das amerikanische Volk sozusagen in seiner Gesamtheit repräsentieren.

Man kann diese Praxis der Rechtsprechung je nach Gusto abenteuerlich, arrogant oder im Gegenteil als Zeichen der Demut betrachten. Die Frage, ob ein Angeklagter schuldig ist, wird in Amerika als dermaßen kompliziert betrachtet, dass nur ein Haufen dahergelaufene Idioten („Idioten“ im Sinne der griechischen Urbedeutung dieses Wortes: also Privatleute) darüber abstimmen kann.

Harvey Weinstein vor Gericht
Quelle: REUTERS
Von den Geschworenen im Falle Harvey Weinsteins – des ehemaligen Hollywood-Moguls, dem Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vorgeworfen wurden – wussten wir Folgendes: Es handelte sich um fünf Frauen und sieben Männer. Unter ihnen befanden sich ein Geschäftsmann, ein Bankier, eine Frau, die für einen Wachdienst arbeitet, ein Vater von zwei schulpflichtigen Kindern, ein Autor, ein Unternehmer, eine Finanzexpertin, die sich ihre Wohnung mit zwei anderen Leuten teilt.

Ferner wussten wir, dass der Richter die Geschworenen belehrt hatte, so wie alle Geschworenen zu Prozessbeginn belehrt werden: Der Angeklagte habe zunächst einmal als unschuldig zu gelten. Schuldig sprechen dürften die Herren und Damen Geschworenen erst, wenn es der Staatsanwaltschaft gelungen sei, seine Schuld „jenseits eines vernünftigen Zweifels“ zu beweisen.

Hier liegt natürlich – übrigens in jedem Kriminalfall – der Hase im Pfeffer. Denn was, bitte, ist ein „vernünftiger Zweifel“? Und was ein lediglich unvernünftiger? Das kann kein Mensch definieren, auch kein Richter. Es bleibt den Geschworenen überlassen, ob sie den Zeugenaussagen glauben oder nicht; ob sie Indizienbeweise mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen oder sich von ihnen beeindrucken lassen. Besonders schwierig wird die Angelegenheit dann, wenn es sich beim Angeklagten – wie hier – um eine Berühmtheit handelt. Denn die Herren und Damen Geschworenen haben die vergangenen Jahre ja nicht hinter dem Mond verbracht; sie haben die Nachrichten gesehen und erfahren, dass mehr als 80 Frauen ausgesagt haben, sie seien von diesem Mann misshandelt, belästigt, vergewaltigt worden.

Kann es unter diesen Umständen noch ein faires Verfahren geben? Jeder Angeklagte in Amerika hat das Recht, ein „bench trial“ zu verlangen: Er kann sagen, dass er lieber eine Verhandlung ohne Geschworene – nur vor einem Richter – haben möchte. Harvey Weinstein und seine Anwälte entschieden sich dafür, ihre Verhandlung vor Geschworenen abzuhalten. Sie werden gewusst haben, warum: Bei einer Verhandlung mit Jury genügt es, dass ein Geschworener – ein einziger – Zweifel an der Schuld des Angeklagten äußert und sich von diesem Zweifel nicht abbringen lässt. Dann muss der Richter erklären, es handle sich um einen „ergebnislosen Prozess“, und der Angeklagte kann gehen.

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Die Staatsanwaltschaft muss in diesem Fall entscheiden, ob sie das Handtuch wirft oder einen neuen Prozess anstrengt. Wenn die Geschworenen einen Angeklagten freisprechen, kann die Staatsanwaltschaft ihn nicht noch einmal wegen desselben Vergehens belangen – nicht einmal dann, wenn in der Zwischenzeit neue Beweise auftauchen.

PEOPLE-HARVEY WEINSTEIN/
Mimi Haleyi bei ihrer Aussage
Quelle: REUTERS

Es gab von Anfang ein klares Zeichen, wie dieser Prozess ausgehen würde. Zu den Belastungszeugen gehörten nicht nur Mimi Haleyi, die aussagte, Weinstein habe sie 2006 zum Oralverkehr gezwungen, und Jessica Mann, die zu Protokoll gab, Weinstein habe sie 2013 in einem Hotelzimmer vergewaltigt. Nein, der Richter ließ außerdem die Zeugenaussagen von vier weiteren Frauen zu: Dawn Dunning, Tarale Wulff, Lauren Young und Annabella Sciorra. Sie alle sagten aus, Weinstein habe sie bedrängt, belästigt, begrabscht, vergewaltigt. Annabella Sciorra berichtete von einer Vergewaltigung, die an einem Winterabend 1993 oder 1994 in ihrer Wohnung stattgefunden habe.

Keine dieser Taten konnte Gegenstand des Prozesses sein, weil sie verjährt waren. Und eigentlich verbietet es das Strafrecht des Bundesstaates New York, in einem Prozess andere Vergehen desselben Angeklagten zu erwähnen. Allerdings erlaubt dasselbe Strafrecht, Zeugen zu hören, die ein „Verhaltensmuster“ erkennen lassen. Solche Zeugen werden in New York – nach einem Präzedenzfall – als „Molineux-Zeugen“ bezeichnet. Einer von Weinsteins Anwälten sagte, es sei „außerordentlich“, dass so viele „Molineux-Zeuginnen“ aussagen durften, obwohl es doch im Grunde nur um die Aussagen von zwei Zeuginnen – Mann und Haleyi – gehe. Und natürlich machte die Aussage dieser Extrazeuginnen das Geschäft der Verteidigung von Anfang an schwierig.

Richter James Burke
Quelle: REUTERS

Es mangelte nicht an dramatischen (und halb komischen) Momenten in diesem Prozess. Einmal wollte die Verteidigung, dass der Richter James Burke sich selbst für befangen erklären sollte. Der Grund? Ein Gerichtsdiener hatte Harvey Weinstein dabei erwischt, wie er vor Prozessbeginn zehn Minuten lang auf seinem Smartphone Textnachrichten sichtete und verschickte. Und hatte dem Angeklagten eine Strafpredigt gehalten: „Wollen Sie wirklich dafür lebenslänglich im Gefängnis landen? Weil sie getextet haben, obwohl das Gericht Ihnen das untersagt hatte? Wirklich?“ Die Verteidigung sagte, die Gardinenpredigt des Richters – über die Journalisten berichtet hatten – lasse sie an seinem unparteiischen Status zweifeln. Aber Richter James Burke blieb.

Die Verteidigung hatte immer nur eine Aufgabe: Sie musste die Zeuginnen der Anklage als unglaubwürdig erscheinen lassen. In ihrem Schlussplädoyer sagte die Anwältin Donna Rotunno, die Zeuginnen Mimi Haleyi und Jessica Mann hätten mit Weinstein einvernehmlichen Sex gehabt. Dies belegten die freundlichen Worte, die sie hinterher mit dem Angeklagten gewechselt hätten. Sie forderte die Geschworenen auf, ihre Gefühle beiseite zu lassen und von ihrem gesunden Menschenverstand Gebrauch zu machen. „Historisch gesehen sind Sie die letzte Verteidigungslinie in diesem Land, die uns vor übereifrigen Medien und einer übereifrigen Staatsanwaltschaft beschützt“, sagte sie.

Joan Illuzi zeichnete für die Staatsanwaltschaft naturgemäß ein ganz anderes Bild: das eines mächtigen Mannes, der sich über alle Regeln hinwegsetzte. Weinstein, sagte sie, habe darauf gebaut, dass seine Opfer aus Angst schweigen würden. „Der Angeklagte hat nicht nur die Würde und das Leben dieser Frauen mit Füßen getreten, er hat sie auch unterschätzt“, sagte Joan Illuzi in ihrem Plädoyer.

Fünf Tage brauchten die Geschworenen, um über das Schicksal des einstmals sehr mächtigen Mannes zu entscheiden. Sie haben – und das spricht für sie – um ihren Spruch gerungen: Am vergangenen Freitag schickten sie aus dem geschlossenen Raum, in dem sie berieten (auch der Richter hat dort keinen Zutritt) eine Notiz, sie könnten sich in wichtigen Punkten nicht einigen. Ob sie Weinstein in den weniger wichtigen Anklagepunkten für schuldig befinden und den Rest auf sich beruhen lassen könnten? Der Richter sagte: Nein. Er wies die Jury an, weiter zu beraten. Und so erfolgte erst am Montag, dem 24. Februar, das Verdikt: Die Geschworenen befanden Harvey Weinstein in zwei Punkten für schuldig – in punkto Vergewaltigung und in punkto sexueller Angriff. In zwei weiteren Punkten, einer weiteren Vergewaltigung und einem weiteren sexuellen Angriff, sprachen die Geschworenen ihn frei.

Was heißt das? Unter dem Strich einfach dies: Harvey Weinstein wurde schuldig gesprochen. Und Vergewaltigung ist eine schwere Straftat, auf die lange Haftstrafen stehen. Allerdings ist es nicht die Aufgabe der Geschworenen, darüber zu befinden: Das Strafmaß legt nun wiederum ein Profi – nämlich der Richter – fest. Übrigens wird Weinstein bald auch in einem anderen Bundesstaat, nämlich in Kalifornien, der Prozess gemacht. Wenn der Prozess dort so ausgeht wie in New York, könnte es sein, dass der gestürzte Medienmogul nie wieder einen Tag seines Lebens in Freiheit verbringt.

© Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten

https://www.welt.de/vermischtes/article ... ifels.html

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24. Februar 2020, 17:47 Uhr
USA

Jury spricht Weinstein wegen Sexualverbrechen schuldig
USA Jury spricht Harvey Weinstein schuldig Zum Video Artikel
(Video: Reuters , Foto:AP )

Die Geschworenen haben den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung schuldig gesprochen.
Strittig war unter ihnen der Vorwurf des "predatory sexual assault" - in diesem Anklagepunkt sprachen sie ihn frei.
Weinstein soll in einer Krankenstation festgehalten werden.

Die Geschworenen in New York City haben den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein der Sexualverbrechen schuldig gesprochen. Er war wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und "predatory sexual assault" angeklagt. Schuldig gesprochen wurde er nun wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Das Strafmaß wird am 11. März verkündet.

Im Kern ging es in dem Verfahren um zwei seiner mutmaßlichen Opfer: Miriam "Mimi" Haleyi, einer ehemaligen Produktionsassistentin der Weinstein Company, soll der Filmproduzent 2006 in seinem Appartement Oralverkehr aufgezwungen haben. Außerdem warf die Staatsanwaltschaft ihm vor, 2013 die heutige Friseurin Jessica Mann in einem Hotel vergewaltigt zu haben. Strittig war in der Jury zuletzt offenbar vor allem ein dritter, nur schwer ins Deutsche übersetzbarer Vorwurf: Beim "predatory sexual assault" geht es nicht um einen einzelnen Übergriff, sondern um ein "raubtierhaftes" Verhaltensmuster gegenüber Frauen. Dieser Straftatbestand war aus Sicht der Jury nicht erfüllt.

Waren Weinsteins Übergriffe "raubtierhaft"?
Seit vergangenem Dienstag hatten sieben Männer und fünf Frauen über die Schuldfrage beraten. Am Freitagnachmittag gerieten die Jury-Besprechungen in eine Sackgasse: Beim Richter ließen sie nachfragen, ob es möglich sei, nicht in allen Anklagepunkten zu einem einstimmigen Ergebnis zu kommen.

Für "predatory sexual assault" sieht der Staat New York die Höchststrafe vor: lebenslänglich - was bei einem Ersttäter wie Weinstein zehn bis 20 Jahre Haft bedeuten würde. Bei diesem Punkt ging es nicht nur um die Glaubwürdigkeit von Haleyi beziehungsweise Mann, sondern um eine weitere Frau: die Sopranos-Darstellerin Annabella Sciorra. Auch sie beschuldigt Weinstein einer Vergewaltigung. Weil dieser mutmaßliche Übergriff bereits Anfang der 90er-Jahre stattgefunden haben soll, gilt er eigentlich als verjährt - allerdings durfte er berücksichtigt werden, um dem Angeklagten ein kriminelles Verhaltensmuster nachzuweisen.

Alle Nachfragen, die die Jury seit vergangenem Dienstag an das Gericht gestellt hatte, bezogen sich auf den Fall Sciorra. Die mittlerweile 59-Jährige hatte als erste Belastungszeugin vor mehr als vier Wochen ausgesagt. Am Freitagmorgen war auf Bitten der Jury noch einmal ein entscheidender Teil der Aussage der Schauspielerin von den beiden Gerichtsstenografen vorgelesen worden.

Weitere Vorwürfe gegen Weinstein
Der 67-Jährige wirkte bei der Urteilsverkündung resigniert. Justizmitarbeiter legten ihm Handschellen an und führten ihn aus dem Gerichtssaal. Der Richter entschied, dass Weinstein in der Krankenstation festgehalten wird, nachdem seine Rechtsbeistände gesagt hatten, dass er wegen einer erfolglosen Rückenoperation ärztlicher Behandlung bedürfe.

Der einstige Erfolgsproduzent von "Pulp Fiction", "Good Will Hunting" und anderen Filmen sieht sich nun mit weiteren Vorwürfen in Los Angeles konfrontiert. Die Behörden beschuldigen ihn dort, in der Woche der Verleihung der Oscars 2013 eine Frau vergewaltigt und einen weiteren sexuellen Übergriff auf eine andere Frau verübt zu haben.

Mehr als 90 Frauen haben Vorwürfe gegen Weinstein erhoben, darunter die Schauspielerinnen Gwyneth Paltrow, Salma Hayek und Uma Thurman. Der Prozess in New York war der erste in diesem Zusammenhang. Die meisten mutmaßlichen Vergehen sind verjährt.

https://www.sueddeutsche.de/panorama/ha ... -1.4803323

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https://www.tagesschau.de/ausland/weins ... h-101.html

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Re: Weinstein / Epstein

Beitrag von deernhh »

Sexualstraftäter
Harvey Weinstein zu 23 Jahren Haft verurteilt

Das Strafmaß im Fall des früheren Hollywoodmoguls Harvey Weinstein steht fest: Er soll für 23 Jahre ins Gefängnis. Eine Jury hatte den 67-Jährigen wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung schuldig gesprochen.

11.03.2020, 16:05 Uhr

Muss für mehr als zwei Jahrzehnte ins Gefängnis: Harvey Weinstein (Archivbild)
Muss für mehr als zwei Jahrzehnte ins Gefängnis: Harvey Weinstein (Archivbild) John Minchillo/ dpa
In New York ist das Strafmaß gegen den Sexualstraftäter und ehemaligen Hollywoodmogul Harvey Weinstein verkündet worden. Der 67-Jährige ist zu 23 Jahren Haft verurteilt worden, teilte Richter James Burke mit.

Ende Februar hatte eine New Yorker Jury Weinstein wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung für schuldig befunden. Dafür hatten dem 67-Jährigen zwischen fünf und 29 Jahre Haft gedroht.

Die Staatsanwaltschaft hatte vor der Verkündung des Strafmaßes noch einmal ausdrücklich eine harte Strafe gefordert. Weinstein habe jahrzehntelang Frauen missbraucht und zeige bislang keine Reue. Die Verteidigung hat bereits angekündigt, das Urteil anzufechten.

Seit 2017 hatten mehr als 80 Frauen Weinstein sexuelle Übergriffe vorgeworfen. In dem aufsehenerregenden New Yorker Prozess ging es aber nur um zwei Fälle: Weinstein zwang 2006 die Produktionsassistentin Mimi Haleyi nach Ansicht der Jury zum Oralsex und vergewaltigte die heutige Friseurin Jessica Mann 2013.

Nach dem Schuldspruch war Weinstein zunächst in ein Krankenhaus gekommen und dann in das Gefängnis Rikers Island in der Millionenmetropole New York. Nun soll er in einem Gefängnis im Bundesstaat New York untergebracht werden.

Das Urteil gilt als Meilenstein der MeToo-Ära, die von dem Fall ausgelöst wurde. Im Herbst 2017 hatten die "New York Times" und der "New Yorker" erstmals Anschuldigungen gegen den Produzenten öffentlich gemacht. Überall auf der Welt erkannten viele Frauen und auch einige Männer in der Folge ihre eigenen Geschichten in denen der mutmaßlichen Weinstein-Opfer wieder und begannen sie unter dem Schlagwort "Me too" ("Ich auch") zu sammeln.

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ ... a0d0bfb277

https://www.t-online.de/unterhaltung/st ... teilt.html