Der
"Tagesspiegel" schreibt:
Das deutsche Ideal der Liebe mündet in die Vernunftehe. Er ist 33, sie 29, beide sind beruflich schon etwas abgesichert, sie lernen sich über eine Partnerschaftsvermittlung kennen, bei der sich ein hohes Maß an Gemeinsamkeit herausstellt. Herkunft und Bildungsstand sind ähnlich, sie haben viele gemeinsame Interessen. Jeder Pott findet seinen Deckel.
Wer gegen dieses Ideal verstößt, gilt als irrationaler Romantiker, dessen Beziehungen immer wieder scheitern werden. Dass Liebe auch auf das ganz Andere gerichtet sein kann, das Rätselhafte, das angeblich Unerreichbare, auf die Überwindung von Standes- und Altersunterschied, dass sich in der Liebe das objektiv Falsche in das subjektiv Richtige verwandelt – das gilt den Vernünftigen als Torheit.
Ja, sie nehmen es gar als Bedrohung wahr. Denn die Vernunftehe hat vor allem einen Feind: die rebellische Liebe. Liebe von freien Menschen freilich ist nie unmoralisch, unmoralisch indes ist stets der Betrug.
Vor diesem Hintergrund ist es zwar nicht seltsam, aber ein ethisches Armutszeugnis unserer Gesellschaft, dass sie den Betrügern eher verzeiht als den Liebenden. Horst Seehofer hatte eine außereheliche Beziehung zu einer Bundestagsmitarbeiterin (Ehebetrug plus Ausnutzung des politischen Machtverhältnisses), inklusive außerehelicher Vaterschaft. Schwamm drüber. EU-Kommissar Günter Verheugen hinterging nach 20 Jahren Ehe seine Frau mit der Kabinettschefin (siehe oben). Schwamm drüber. Woody Allens Beziehung zu Mia Farrow zerbrach, nachdem der Regisseur ein Verhältnis mit Farrows Adoptivtochter (Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses), Soon-Yi Previn, zugeben musste; später heirateten Allen und Previn. Schwamm drüber.
Wenn es stimmt, was der am Sonntagabend zurückgetretene Spitzenkandidat der CDU in Schleswig-Holstein, Christian von Boetticher, über seine Beziehung im Frühjahr 2010 zu der damals 16-jährigen Frau aus Nordrhein-Westfalen erzählte, dann war es eine freie Liebe von zwei freien Menschen (Boetticher: Ich habe damals keine Beziehung zu einer anderen Frau unterhalten. Deshalb war es auch keine Affäre. Es war schlichtweg Liebe. – Die heute 17-Jährige: Es war Liebe. Ich kann bis heute nichts Schlechtes über Christian sagen). Weder wurde eine Zwangslage ausgenutzt, noch Geld gezahlt, weder wurde ein Abhängigkeits- noch ein Arbeitsverhältnis missbraucht.
Nun mögen Liebende manchmal Deppen sein und in Gefühlsdingen "unreif", wie es in der Sprache der "Gefühlsreifen" heißt. Aber im Unterschied zu den Seehofers, Verheugens und Allens haben diese Zwei offenbar keinen Verrat begangen, kein Wort gebrochen, kein Leid verursacht (sollte es stimmen, dass von Boetticher zeitgleich doch fest gebunden war, stellt sich die Sache natürlich anders dar). Man kann den Rücktritt von Boettichers verstehen, politisch war der „konservative Erneuerer“ wohl nicht zu halten. Aber der moralische Druck, der auf ihn erzeugt wurde, kündet erstens von Scheinheiligkeit und zweitens vom Unvermögen (leider auch von Konservativen), sich Liebe in Deutschland anders vorstellen zu können als Gefühlskumpanei nach dem Motto: Gleich und gleich gesellt sich gern.
Und am 16.08.2011:
Der Lolita-Komplex: Ist Sex mit Minderjährigen verwerflich?
Ein 40-Jähriger hat eine Affäre mit einer 16-Jährigen, er sagt, es war Liebe. Christian von Boetticher weinte, als er am Sonntag ankündigte, dass er wegen der früheren Affäre auf CDU-Parteivorsitz und Ministerpräsidenten-Kandidatur verzichten werde. Wegen der „moralischen Komponente“, die er falsch eingeschätzt habe.
Die politische Komponente ist klar: Nach einer solchen Facebook-Bekanntschaft lässt sich kaum eine glaubwürdige Karriere als wertkonservativer Landesvater antreten.
Mit der moralischen Komponente ist es nicht so einfach. Man denkt an Roman Polanski, der 2009 in der Schweiz erneut verhaftet wurde, weil er 1977 in den USA Sex mit einer 13-Jährigen hatte. Man denkt an Michael Jacksons (mutmaßlich harmlose) Spielchen mit Kindern in seiner Ranch Neverland. An Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“, in dem der ältliche Humbert Humbert einer 12-Jährigen verfallen ist. An Woody Allen, der 1997 Soon-Yi Previn heiratete, die Adoptivtochter seiner früheren Lebensgefährtin Mia Farrow. Und an Dustin Hoffman als Liebesschüler von Anne Bancroft in „Die Reifeprüfung“: Eine verheiratete Dame lehrt einen blutjungen College-Absolventen den Spaß am Sex – die Umkehrung der Geschlechterrollen ist selten genug.
Man denkt also vor allem an die Liebesgeschichten von Männern mit Mädchen, mit Pubertierenden, mit Minderjährigen – und empfindet ein doppeltes Unbehagen. Nach dem Gesetz ist solche Liebe zwar nicht strafbar: Boettichers Freundin war älter als 14, es gab kein Ausbildungs- oder Abhängigkeitsverhältnis und es handelte sich nicht um Prostitution. Aber es fällt bei so einem Altersunterschied schwer, an eine ebenbürtige Beziehung zu glauben, an die Freiheit der Wahl von beiden Seiten, daran, dass auch nicht im geringsten Zwang, Vorteilsnahme oder Missbrauch im Spiel waren. Einerseits.
Gleichzeitig gilt – und auch das löst Unbehagen aus: Kaum eine Beziehung ist restlos ebenbürtig, und die Liebe ist noch im hohen Alter oft eher eine unreife als eine reife Angelegenheit. Eine 15- oder 16-Jährige ist außerdem kein Kind mehr. Warum soll sie nicht mit einem 40-Jährigen glücklich sein – und sei es für eine kurze Zeit? Liebe ist voller unmoralischer Komponenten: eine Verrücktheit, ein Wahnsinn.
Sex hat mit Vernunft erst recht wenig zu tun, er enthält nicht nur Momente der Zärtlichkeit, sondern auch der Gewalt, bei Gleichaltrigen wie bei Partnern mit großem Altersunterschied. Ja, es gibt den gesellschaftlich sanktionierten Sexismus, der älteren Männern jüngere Geliebte eher verzeiht (und lüstern „Skandal“ schreit) als den „entsorgten“ älteren Ehefrauen die amour fou mit einem 17-Jährigen. Ja, es gibt die Notwendigkeit von Gesetzen, die die Freiheit der Liebe einschränkt, zum Schutz der Schwächeren, der Zöglinge, die sich im Zweifel nicht wehren können gegen Lehrer oder Internatsleiter, ältere Cousins oder den eigenen Vater. Aber es gibt auch die unvermeidliche Portion Willkür bei solchen Gesetzen: Manche 14-Jährige ist mündiger, erwachsener, sexuell reifer als andere mit 16. Auch wenn das im Einzelfall zur Tragödie führen mag: Es geht nicht anders, der Gesetzgeber muss eine Altersgrenze ziehen. Den Schwächeren zuliebe.
Der Rest ist Fantasie – und Unterscheidungsvermögen. Samantha Geimer, Polanskis Opfer, ist eine reale Person, als 13-Jährige genoss sie den Schutz der amerikanischen Justiz. Lolita ist eine Romanfigur: Für sie und ihren Humbert Humbert gelten nur die Gesetze der Literatur. Die empörte Öffentlichkeit, die Nabokovs Buch auf den Index setzte, mochte sich nicht eingestehen, wie viele Männer von Lolitas träumen, wie schmal der Grat zwischen inspirierender Muse und kriminellem Missbrauch bemessen ist. Das Wissen um diesen prekären Grat führt oft zu Prüderie und Bigotterie. Aber eine Gesellschaft, der gleichermaßen an individueller Freiheit wie am Schutzraum der Kindheit gelegen ist, muss diese Nähe aushalten können, muss zum Beispiel die Freiheit der Kunst verteidigen – und gleichzeitig auf die Einhaltung der Gesetze zum Schutz Minderjähriger achten.
Am kompliziertesten ist der Fall Woody Allen. Soon-Yi Previn war 21, als er sie heiratete, aber er hatte bereits fünf Jahre vorher Aktfotos von ihr gemacht. Das Sorgerecht für Soon-Yi besaß er nie, aber es war wohl trotzdem ein VaterTochter-Verhältnis. Mia Farrow führte einen juristischen Krieg gegen ihn, bis ihm das Sorgerecht für die jüngeren Adoptivsöhne entzogen wurde. Es fehle ihm an väterlicher Eignung, befand das Gericht. Soon-Yi Previn und Woody Allen adoptierten ihrerseits zwei Kinder. Wer will darüber richten.