Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof

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Boris Büche
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Re: Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgericht

Beitrag von Boris Büche »

@Fragender:
"Bin zwar auch skeptisch, aber bei Inzest geht es nun wirklich nicht nur um kollektive Wertvorstellungen, sondern um die recht hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein dabei evtl. gezeugtes Kind wegen des zu nahen Verwandtschaftverhältnisses der Eltern mit genetischen Fehlern zur Welt kommen wird."

- Du magst Recht haben mit der Aussage hinsichtlich Genetik. Der Punkt ist: Das BVG hat DARAUF nicht seine Entscheidung begründet, wohlweislich nicht! Erstens wegen der Vergangenheit, die Deutschland hat - Eugenik ist tabu! -; zweitens, weil dann genetisch gleichermaßen vorbelastetete, nichtverwandte Elternpaare ebenso in die Verantwortung genommen werden müssten.
Da wären wir dann wieder beim "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses".
Drittens: Auf die Fortpflanzung kommt es nicht an. Nur vaginaler Geschlechtsverkehr ist vom Gesetz erfasst, und das egal ob verhütet wird oder nicht. Im konkreten Fall hat der Mann sich nach dem dritten Kind sterilisieren lassen - die Strafverfolgung ging weiter.

Besonders interessant finde ich, dass ein entsprechendes Gesetz in Frankreich seit dem Code Napoléon nicht mehr existiert (ca.1810), sondern als klerikales Relikt gestrichen wurde. Von Genetik wusste man damals noch nichts . . .

"Verhütung erbkranken Nachwuchses" wäre das einzige rationale Argument für ein Verbot des Inzests zwischen Erwachsenen. Dann müsste man aber auch alle Mütter kritisch befragen, die ein behindertes Kind zur Welt gebracht haben - haben sie während der Schwangerschaft geraucht/getrunken/ungesunde Sachen gemacht? Wussten sie u.U. von familiärer Vorbelastung, und dachten, "mich trifft es schon nicht"?

Ein BVG-Richter stellte sich damals ausdrücklich gegen die Entscheidung:
"Eine Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte ist von vornherein kein verfassungsrechtlich tragfähiger Zweck einer Strafnorm. Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, dem nach dem Willen des Gesetzgebers „besondere Bedeutung“ zukommt (BTDrucks VI/3521, S. 18), weil erst die eugenischen Überlegungen es verständlich machten, dass schon das geltende Recht die Strafbarkeit auf die Fälle des Beischlafs beschränkt (BTDrucks VI/1552, S. 14), kommt als geschütztes Gut nicht in Betracht.

Dabei kann dahinstehen, ob es tatsächlich eine besondere Gefahr von Erbschäden bei aus Inzestverbindungen hervorgegangenen Kindern gibt. Es verbietet sich schon von Verfassungs wegen, den Schutz der Gesundheit potentieller Nachkommen zur Grundlage jedenfalls strafgesetzlicher Eingriffe zu machen. Ein Rechtsgutsträger, dessen mutmaßliche Interessen zur Rechtfertigung des Inzestverbots herangezogen werden könnten, existiert zum Zeitpunkt der Tathandlung neben dem betroffenen Geschwisterpaar nicht. Der Gedanke eines strafrechtlichen Schutzes potentieller Nachkommen vor genetischen Schäden setzt zudem die absurde Abwägung des mutmaßlichen Interesses potentiell gezeugten Nachwuchses an einem Leben mit genetischen Defekten einerseits mit einem mutmaßlichen Interesse an der eigenen Nichtexistenz andererseits voraus. Deshalb kennen wir aus guten Gründen eine Strafbarkeit des Beischlafs selbst dort nicht, wo die Wahrscheinlichkeit behinderten Nachwuchses höher ist und die erwartbaren Behinderungen massiver sind als beim Inzest.
"

Ein Rechtsgutträger "Deutsches Volk" existiert eben nicht mehr.

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Kasharius
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Re: Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgericht

Beitrag von Kasharius »

@Boris

alles sehr richtig und wir wollen schwer hoffen, daß es auch so bleibt.

Mal was anderes: Ist den nun am 8.12. beim Vorbereitungstreffen etwas beschlossen worden?

Kasharius grüßt

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fraences
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Re: Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgericht

Beitrag von fraences »

Pressemitteilung – Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland: Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
Am 5. Februar 2019 ist auf Initiative von Doña Carmen e.V. eine Klage gegen das deutsche Prostituiertenschutzgesetz beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht worden.

Unterzeichnet ist die Klage von einer Sexarbeiterin, von der Betreiberin eines Wohnungsbordells, von der Betreiberin eines Laufhauses, von einer Tantra-Masseurin sowie von einem Prostitutionskunden. Die Unterzeichner/innen der Beschwerde stehen stellvertretend für viele Klageberechtigte und Klagewillige aus unterschiedlichen Bereichen des Prostitutionsgewerbes, die von den massiven Grundrechtseinschränkungen durch das Prostituiertenschutzgesetz persönlich betroffen sind.

Die Beschwerdeführer/innen waren allesamt Unterzeichner/innen der im Juni 2017 in Karlsruhe eingereichten Verfassungsbeschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz.

Im Juli 2018 entschieden die Karlsruher Richter auf „Nichtbefassung“ mit der Beschwerde. Mit einer knappen, inhaltlich hanebüchenen „Begründung“ wurde sie seinerzeit rüde abgebürstet. Die Nähe zu konservativen politischen Entscheidungsträgern war den Verfassungsrichtern ganz offenbar wichtiger als die Verpflichtung auf die Grundrechte der Verfassung.

Dass dabei von den Karlsruher Richtern auch europäisches Recht missachtet wurde, rügt die jetzige Beschwerde vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Die in entscheidenden Punkten fehlerhafte Begründung des Bundesverfassungsgerichts für die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird als Verstoß gegen das in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Menschenrecht auf ein faires Verfahren bewertet. Darüber hinaus wäre das Bundesverfassungsgericht aufgrund der damals vorliegenden Verfassungsbeschwerde zur Anrufung des EuGH verpflichtet gewesen, was in willkürlicher Weise versäumt wurde.

Die Beschwerde vor dem Straßburger Gericht für Menschenrechte richtet sich gegen mehrere Vorschriften des Prostituiertenschutzgesetzes. Dazu gehören die in Deutschland erstmals seit dem Nationalsozialismus wieder praktizierte Anmelde- und Registrierungspflicht für Sexarbeiter/innen (§ 3 ProstSchG), die Ausstellung und Mitführpflicht eines Hurenpasses (§ 5 ProstSchG), die Pflicht zu einer regelmäßig zu wiederholenden gesundheitlichen Beratung (§ 10 ProsSchG), die Möglichkeit zu übermäßigen und rechtlich unbestimmten „Anordnungen gegen Prostituierte“ (§ 11 ProstSchG), die das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung verletzenden jederzeitigen Betretungsrechte von Überwachungsbehörden in Räumlichkeiten für sexuelle Dienstleitungen (§ 29 u. § 31 ProstSchG) sowie der in § 32 ProstSchG verankerte, weltweit einmalige Kondomzwang bei Prostitution, der das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen grob missachtet. Darüber hinaus richtet sich die Beschwerde gegen die in § 12 ProstSchG verankerte Erlaubnispflicht für Prostitutionsgewerbe als Verletzung des Rechts des Einzelnen auf Achtung seines Eigentums gemäß Art 1 Abs. 1 des Ersten Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Die Beschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz in Straßburg verweist darauf, dass für die flächendeckemden Einrichtung eines digitalen Hurenregisters sowie für das ebenso flächendeckende Überwachungsregime, das angeblich der Kriminalitätsbekämpfung dienen soll, jegliche belastbare Rechtstatsachenforschung fehlt. Insbesondere der Aspekt der nicht vorhandenen Datensicherheit im Hinblick auf sensible Daten zum Sexualleben sieht die Beschwerde kritisch. So ist ein entsprechender Gesetzentwurf in den Niederlanden, der die Einführung eines Hurenregisters vorsah, dort im Jahre 2012 gescheitert.

Insbesondere die unverhältnismäßigen Eingriffe in das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung durch die in § 29 und § 31 ProstSchG verankerten staatlichen Eingriffsbefugnisse werden als Verletzung des intimen Bereichs des Privatlebens und der Sexualität der Betroffenen gewertet, wofür vom deutschen Gesetzgeber keine triftigen Gründe ins Feld geführt wurden. Daher ist hier von einer Verletzung der in Art. 8 EMRK genannten Menschenrechte auszugehen.

Als „besonders erschreckend“ werden darüber hinaus die Parallelen von Teilen des Prostituiertenschutzgesetzes zu entsprechenden Maßnahmen während der Zeit des Nationalsozialismus (Registrierungspflicht, Hurenpass) hervorgehoben.

Die aktuell verheerende Bilanz der Umsetzung des Prostituiertenschutzgesetzes – nach anderthalb Jahren der Umsetzung sind lediglich 15 % der angenommenen 200.000 Sexarbeiter/innen registriert – verdeutlicht, dass das Gesetz seine vermeintlich hehren Ziele nicht erreichen wird, stattdessen aber zu einer weitgehenden Abdrängung von Sexarbeit in die Illegalität führt.

Die Beschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz betritt ein Stück weit juristisches Neuland. Der Straßburger Gerichtshof habe nunmehr die Gelegenheit, so die Beschwerdeführer, zurückliegende Entscheidungen betreffend kommerzieller sexueller Dienste weiterzuentwickeln und „ein klares Wort zur Anwendbarkeit von Art. 8 Abs. 1 EMRK auch für die legale Dienstleistung von Prostitution zu sprechen.“ Unabhängig von moralischen Bewertungen müssen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention kodifizierten Grund- und Menschenrechte auch für Sexarbeiter/innen und andere im Prostitutionsgewerbe tätige Menschen gelten.

Mit der rechtlichen Vertretung der Beschwerdeführer/innen ist der Berliner Rechtsanwalt Percy MacLean beauftragt. Percy MacLean war viele Jahre Vorsitzender Richter des Verwaltungsgerichts Berlin und zeitweilig Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

Doña Carmen e.V., Verein für die rechtlichen und sozialen Interessen von Prostituierten, unterstützt die Beschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz in Straßburg. Wir werden auch weiterhin alles daran setzen, durch rechtliche Schritte, durch politische Initiativen vor Ort und Aufklärungsarbeit gegenüber der Öffentlichkeit das Schandgesetz zur Diskriminierung und Kriminalisierung von Sexarbeiter/innen und zur systematischen Vernichtung der Infrastruktur von Prostitution zu Fall zu bringen.

PS.
Die Beschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umfasst fünf unterschiedliche Beschwerdeformulare mit jeweils einem Beiblatt zu jeder Beschwerdeführerin. Zusammen hat das einen Umfang von 137 Seiten.

Außer Felicitas Schirow haben alle Klagenden von ihrem Recht auf Anonymisierung Gebrauch gemacht. Anhängend veröffentlichen wir das Beiblatt zur Beschwerde von Felicitas Schirow, woraus die rechtliche Argumentation ersichtlich ist.

https://www.donacarmen.de/wp-content/up ... 000036.pdf


https://www.donacarmen.de/pressemitteil ... richtshof/
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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Kasharius
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Re: Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgericht

Beitrag von Kasharius »

Die Beschwerdebegründung von Frau Schirow liest sich sehr gut. Ich wünsche allen Beteiligten viel ERfolg.

Kasharius grüßt

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ellemme
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Re: Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgericht

Beitrag von ellemme »

https://www.prostituiertenschutzgesetz. ... n-data.pdf It is just my point of view probably not expecialized in law matter and for sure not so interesting but I'll share..
I studied and read the text and really don't understand your point...I don't want to sound provocative and I wish you all the success in your battle...but really I'm missing your point...since I'm a transgender person my coming out did my life much better...with real friends, family and others...I feel me free because I'm like this...the truth has made me free...just this.

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floggy
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Bundesweites Vorbereitungstreffen: Klage gegen Prostituiertenschutzgesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof

Beitrag von floggy »

The German Prostitute Protection Act does not - as is repeatedly claimed - protect prostitutes from restrictions to their autonomy, rather it itself is an instrument of the disenfranchisement and massive deprivation of rights experienced by sex workers. The objective of this law is the ideologically motivated containment of prostitution to the maximum degree possible. Once again, society is being protected from prostitution rather than protection being provided for the activities of prostitutes. The German Prostitute Protection Act is a product of cold, unempathetic technocrats. It is targeted towards the stance of refusal to grant rights and society's condemnation of sex work and will be the cause of a great deal of suffering for those affected.

Doña Carmen's Handbook for day-to-day practical use. 266 questions & answers on the German Prostitute Protection Act (ProstSchG)
http://www.dvs-buch.de/bestell.php?buch=18
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