Magersucht

Hier soll eine kleine Datenbank entstehen, die sich vornehmlich mit über den Geschlechtsverkehr übertragbaren Krankheiten und dem Schutz vor ihnen beschäftigt
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Mandy
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Magersucht

Beitrag von Mandy »

Die Anorexia nervosa, auch Anorexia mentalis oder Magersucht genannt, ist eine psychische Störung aus dem Bereich der seelisch bedingten Essstörungen[1]. Anorexia nervosa ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff Anorexie, welcher lediglich ganz allgemein eine Appetitlosigkeit beschreibt, gleich welcher Ursache.

Überblick

Die Anorexia nervosa (griech./lat.: etwa „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“) wurde erstmals 1873 von Ernest-Charles Lasègue auf der Basis von acht Fällen als einheitliches Krankheitsbild beschrieben. Dabei grenzte Lasègue die Symptome vom extremen Fasten ab, indem er die Überaktivitäten der erkrankten Personen hervorhob. 1874 veröffentlichte William Gull drei Fallberichte. Er konzentrierte sich jedoch auf die Beschreibung somatischer Veränderungen. Durch die Publikationen von Lasègue und Gull stellt die Magersucht die am längsten bekannte Essstörung dar.

Die meist jungen weiblichen Patienten leiden an einer Körperschemastörung, d. h. sie nehmen sich trotz eines bestehenden Untergewichts als „zu fett“ wahr. Anders als andere Menschen erlangen sie ihr Selbstwertgefühl nicht aus allgemeinen Leistungen in Beruf, Hobby oder Privatleben, sondern ausschließlich aus ihrem Gewicht bzw. der Fähigkeit, dieses zu kontrollieren.

Die Anorexia nervosa ist mit einer geschätzten Prävalenz von 0,7 % unter weiblichen Teenagern zwar seltener als die Bulimie, zeigt jedoch einen deutlich ungünstigeren Verlauf, nicht selten mit schweren körperlichen Komplikationen. Die Erkrankung beginnt am häufigsten im Teenager-Alter, wobei eine Diät, die anschließend außer Kontrolle gerät, ein Einstieg sein kann. Die Krankheit kann jedoch auch bei Erwachsenen oder bereits vor Eintritt der Pubertät auftreten. Nur einer von zwölf Erkrankten ist männlich[2].
In manchen Fällen dauert die Erkrankung nur kurz an und braucht keine oder nur eine kurzzeitige Behandlung. Andererseits kann der Krankheitsverlauf auch langwierig sein und auf keine Therapie ansprechen. Obwohl die Anorexia nervosa in den meisten Fällen geheilt werden kann, sterben etwa 10 % der Erkrankten letztlich an den Folgen der Magersucht.[3]

Symptome

Das Kennzeichen der Anorexia nervosa ist die selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme, die in der Regel durch vermindertes Essen erreicht wird, wobei besonders Nahrungsmittel, die als „fett machend“ angesehen werden, weggelassen werden. Manchmal wird die Gewichtsabnahme unterstützt durch Missbrauch von Appetitzüglern, Verwendung von Klistieren, Laxantien oder Diuretika, durch selbst ausgelöstes Erbrechen oder exzessive sportliche Betätigung.
Es gibt einen der Bulimia nervosa ähnlichen "Purging-Typ" der Anorexia nervosa (engl.: to purge = entschlacken)[4]. Die Betroffenen kennzeichenen sich bei diesem Typ dadurch aus, dass sie die Gewichtsabnahme durch selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Appetitzüglern, Abführmitteln und/oder Diuretika oder starke körperliche Betätigung zu steigern versuchen. Im Gegensatz zur Bulimie haben an Anorexia nervosa Erkrankte jedoch immer Untergewicht (Body-Mass-Index unter 17,5), wodurch u.a. hormonelle Störungen entstehen. Bei Frauen kommt es zum Ausbleiben der Periode (Amenorrhoe), ausgenommen sind aber Frauen, die die Anti-Baby-Pille nehmen. Beginnt die Krankheit vor der Pubertät, entwickelt sich keine weibliche Brust, außerdem stoppt das Größenwachstum.

Auf psychischer Ebene sind die Gedanken der Betroffenen eingeengt und kreisen stets um die Themen Ernährung und Gewicht.

„Die anorektische Frau lehnt das Essen ab und beschäftigt sich doch mehr damit als die meisten Gourmets. […] Sie lehnt ihren Körper ab, konzentriert sich jedoch in all ihrem Denken und Handeln auf ihn. […] Sie will selbstständig und unabhängig sein, verhält sich jedoch so, dass ihre Interaktionspartner sie nahezu zwangsläufig kontrollieren.“

– Alexa Franke: Wege aus dem goldenen Käfig - Anorexie verstehen und behandeln.

Körperliche Folgen

Die Magersucht ist eine schwere, unter Umständen tödliche, körperliche Erkrankung. Die körperlichen Folgen werden hauptsächlich durch das extreme Untergewicht verursacht.

* Herz: verlangsamter Herzschlag, niedriger Blutdruck, EKG-Veränderungen (besonders: verlängertes QT-Intervall) und Herzrhythmusstörungen.
* Blut: Störungen der Elektrolyte (besonders gefährlich: Hypokaliämie mit Herzrhythmusstörungen), Hypoglykämie, verminderte Anzahl an Leukozyten und Thrombozyten
* Hormone: niedrige Konzentrationen von Geschlechtshormonen (LH, FSH, Östrogen), dadurch: Amenorrhoe, Unfruchtbarkeit, evtl. fehlendes Wachstum der Brustverringerte bei Frauen. Verlust von Libido und Potenz bei Männern. Niedrige Konzentration von Schilddrüsenhormonen. Leicht erhöhte Konzentration von Glukokortikoiden.
* Knochen: Osteoporose mit erhöhtem Risiko einer Fraktur
* (falls häufiges Erbrechen) Zähne: Erosionen durch Magensäure, Karies

Die Patienten sind erhöht gegen Kälte empfindlich. Auch kann ihre Körpertemperatur erniedrigt sein, da der Körper den Stoffwechsel herunterfährt. Weitere Symptome sind Schwindelgefühle und Ohnmachtsanfälle. Des Weiteren kann es zu trockener Haut und zur Lanugobehaarung an Rücken, Armen und Gesicht kommen.
Bei einem Krankheitsbeginn vor der Pubertät kann es zu einem Stopp des Größenwachstums, zu einer fehlenden Entwicklung der weiblichen Brust bei Mädchen und zu einer fehlenden Entwicklung der Hoden und des Penis bei Jungen kommen. Zu einer Amenorrhoe kommt es nur, wenn die Patientinnen keine Anti-Baby-Pille nehmen, da die Anti-Baby-Pille dem Körper die Geschlechtshormone liefert, die bei ihm wegen der Essstörung fehlen.

Bis zu 15 % der Erkrankten sterben[5] — entweder durch Komplikationen wie den plötzlichen Herztod oder Infektionen, oder aber durch Suizid. Ein Teil der überlebenden Patienten leidet zeitlebens an chronischen Zuständen wie Osteoporose oder Niereninsuffizienz.

Diagnose

Die Diagnose ergibt sich aus einem ausführlichen diagnostischen Interview, das offen oder mit Hilfe von Checklisten erfolgen kann. Im Anschluss daran erfolgen weitere Tests, z. B. ein EKG und ein Bluttest, um körperliche Begleiterscheinungen des Untergewichts zu erfassen. Besteht der Verdacht, dass andere Ursachen das Untergewicht verursacht haben (siehe Differentialdiagnose), werden weitere Untersuchungen veranlasst.[6]

Die nachfolgenden Kriterien müssen für eine Diagnose erfüllt sein, wobei für Deutschland der ICD-10 entscheidend ist.


ICD-10-Diagnosekriterien für Anorexia nervosa DSM-IV-Diagnosekriterien für Anorexia nervosa

* Tatsächliches Körpergewicht mind. 15% unter dem zu erwartenden Gewicht oder Body-Mass-Index von 17,5 oder weniger (bei Erwachsenen)
* Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung und zusätzlich mind. eine der folgenden Möglichkeiten:
o selbstinduziertes Erbrechen
o selbstinduziertes Abführen
o übertriebene körperliche Aktivität
o Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika
* Körperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung
* Endokrine Störungen, bei Frauen manifest als Amenorrhö
* Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklung gestört



* Niedriges Körpergewicht, weniger als 85 % des zu erwartenden Gewichts
* Große Angst vor Gewichtszunahme
* Strikte Kontrolle der Nahrungsaufnahme
* Körperschemastörung:
o Übertriebener Einfluss des Gewichts auf die Selbstwertung
o Krankheitsverleugnung
* (nur bei Frauen) sekundäre Amenorrhö

Nach DSM-IV existieren zwei Unterkategorien der Anorexia Nervosa:

1. Anorexia nervosa vom restriktiver Typus Sie zeichnet sich durch bloßes Verzichten auf Nahrung bzw. besonders hochkalorischer Nahrung aus.
2. Anorexia nervosa vom Purging Typus Durch kompensatorische Verhaltensweisen, wie selbstinduziertes Erbrechen, Abführmittel oder Entwässerungsmittel wird der Kalorienaufnahme entgegengewirkt. Dabei ist ein deutlicher Gewichtsverlust zu beobachten.



Krankheitsentstehung
Das kulturelle Schönheitsideal von Frauen in den westlichen Industrienationen hat sich in den letzten Jahrzehnten hin zu einem Ideal extremer Schlankheit entwickelt
Das kulturelle Schönheitsideal von Frauen in den westlichen Industrienationen hat sich in den letzten Jahrzehnten hin zu einem Ideal extremer Schlankheit entwickelt

Heute weiß man, dass für die Entstehung der Magersucht eine erbliche Komponente und verschiedene Umweltfaktoren nötig sind. Generell tritt die Krankheit bei Frauen in westlichen Gesellschaften gehäuft auf.

Die Zwillingsforschung hat eindeutig eine familiäre Häufung der Erkrankung nachgewiesen, die genauen Gene konnten allerdings noch nicht gefunden werden. Die Forschung konzentriert sich zur Zeit besonders auf Gene, die im Zusammenhang mit dem Neurotransmitter-System von Serotonin stehen.

Hinzu kommt eine Reihe von individuellen Umweltfaktoren. Allgemein sind dies Erfahrungen, die die überwiegend jungen weiblichen Patienten besonders auf ihr Aussehen und Gewicht sensibilisieren. Dies können kritische Kommentare von Familie und Freunden über das Essverhalten, Gewicht, etc. sein. Der kulturelle Druck auf Frauen schlank zu sein gehört auch in diesen Zusammenhang (Schönheitsideal). Eine Diät ist daher häufig ein Einstieg in diese Erkrankung.
Ein ungünstiges Elternhaus („adverse parenting“) spielt ebenfalls eine Rolle, besonders schwerwiegend sind hierbei geringer Kontakt, hohe Erwartungen (Vermaschung) und Zwist zwischen den Elternteilen. Auch schwere psychische Traumatisierungen, wie z.B. sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte, sind manchmal zu finden.

Ein schwaches Selbstbewusstsein und Perfektionismus sind Persönlichkeitszüge, die häufig schon vor Ausbruch der Erkrankung vorhanden sind.
Ein Bild von Peter Paul Rubens aus dem 17. Jh. zeigt Frauen mit deutlich runderen Formen
Ein Bild von Peter Paul Rubens aus dem 17. Jh. zeigt Frauen mit deutlich runderen Formen

Das Zusammenwirken all dieser Faktoren nennt sich „psychobiologisch-soziales Modell“ [7]. Der Hauptgrund für Magersucht ist heute laut der Mehrzahl der Therapeuten in der Familie zu suchen[8]. In den meisten Fällen handelt es sich um eine unauffällige bürgerliche Familie. Sie stellt sich selbst gern als absolut „intakt“ dar, die Meinung von Außenstehenden hat höchste Priorität — insbesondere in Bezug auf die Patientin. Sind Jugendliche betroffen, kann oft ein erhöhter Leistungsdruck von Seiten der Eltern festgestellt werden. Sollte dieses Bemühen enttäuscht werden, wird dies in vielen Fällen nicht mit offensichtlichen Strafen geahndet, sondern mit dem Vorwurf des enttäuschten Vertrauens in das Kind. Das Bild der „eiserne[n] Faust im seidenen Handschuh“[9] vermittelt dies eindrucksvoll. Beachtung sollte zudem die „Vermaschung“[10] finden. Gemeint ist damit die Inbesitznahme des Lebens des Patienten durch die Eltern sowie das Fehlen jeglicher Privatsphäre. Natürlich gibt es trotzdem nicht die anorektische Familie. Auch konnte in der Biographie von Essstörungen überdurchschnittlich häufig sexuellem Missbrauch, allerdings besonders bei der Bulimia nervosa gefunden werden. Es ist allerdings nicht eindeutig geklärt, ob dies tatsächlich ein ätiologisches Merkmal ist[11]. Magersucht kann auch Begleiterscheinung von Depressionen oder selbstverletzendem Verhalten sein, oder wie alle Essstörungen auch als eine seiner Formen interpretiert werden, oder aber selbst von diesen Störungen begleitet sein. Des Weiteren neigen Patienten mit Anorexia nervosa zu zwanghaftem Verhalten bzw. Perfektionismus in allen Lebensbereichen.

Für die Patientin ist die Magersucht in erster Linie eine Abwehr von Fremdbestimmung. Die Kontrolle über den eigenen Körper (z. B. durch Kalorien-Zählen) ist das Einzige, was noch bleibt, da alle anderen Lebensbereiche fremdbestimmt werden. Die Magersucht ist fast immer nur ein Symptom eines tiefer liegenden psychischen (und sozialen) Problems, das behandelt werden muss. Eine Symptomtherapie (wie z. B. mit Pharmazeutika) ist niemals ausreichend. So steht auch das Schlankwerden oft nur zum Anfang im Zentrum der Krankheit, die sich zunehmend verselbstständigt und gerade von langjährig Betroffenen als Sucht erfahren wird.

Die kognitiv-verhaltenstheoretische Sichtweise sieht die Angst vor dem Dickwerden und die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers als motivierenden Faktor an. Hier spielt sowohl die Kritik von Gleichaltrigen als auch der Eltern sowie das von den Medien transportierte Schlankheitsideal eine große Rolle. Die gezielte Gewichtsabnahme reduziert die Angst und macht so das Abnehmen zu einem wirkungsvollen Verstärker[11].

Die psychoanalytische Sichtweise sieht die Hauptursache von Essstörungen in einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. Aufgrund einer gestörten Mutter-Tochter-Beziehung lehnt die Betroffene ihre weibliche Identität und damit auch die weiblichen Formen ab. Die Beherrschung des eigenen Körpers wird zu einem Mittel, Wünsche nach Autonomie, im Gegensatz zu der Angst vor der Trennung mit der Mutter, die in der Adoleszenz wiederaufleben, zu verarbeiten. Das aggressive Streben nach Autonomie, das sich häufig in der Adoleszenz zeigt, wird somit über den Körper ausgedrückt. Äußerlich zeigen magersüchtige Mädchen häufig ein sehr angepasstes, perfektionistisches Verhalten [11] [12] [13].

Therapie

Die Therapie umfasst neben einer Stabilisierung des Essverhaltens in der Regel psychotherapeutische Betreuung. Bei kritischem Untergewicht (bei einem BMI von 13 und weniger besteht akute Lebensgefahr) ist eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus mit einer parenteralen Ernährung notwendig, d. h. dass der Patient über einen venösen Zugang mit Nährstoffen/Elektrolyten versorgt wird. Diese Zwangsmaßnahme ist wichtig und lebenserhaltend, doch ohne weiterführende psychotherapeutische Behandlung nicht dauerhaft wirksam.

Oft werden systemisch-familientherapeutische Behandlungen empfohlen, die problematische Interaktionen in der Familie der Betroffenen für die Störung als Auslöser und als aufrechterhaltender Faktor als ursächlich ansehen. In diesem Kontext erscheint der anorektische Patient als Symptomträger einer Familie und ist demnach nicht alleine behandlungsbedürftig. Ebenfalls kommen psychoanalytische Behandlungsansätze zum Einsatz. Diese sollen unbewusste Konflikte, die zur Entstehung des Symptoms geführt haben, bewusst machen und so eine weitere Reifung der Persönlichkeit ermöglichen. Interessant ist, dass durch die psychodynamischen Therapien häufig eine Verbesserung der Symptomatik erreicht wird, ohne dass in der Therapie das fehlangepasste Essverhalten thematisiert wird [11].

Auch kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungen werden oft angewandt, die zum Ziel haben, die verzerrte Körperwahrnehmung der Patienten zu beeinflussen, die Einstellungen zum Essen zu verbessern und Wege für eine bessere Konfliktbewältigung sowie soziale Kompetenzen zu vermitteln.

Psychopharmakologische Therapien zeigten bisher aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht und der daraus resultierenden mangelnden Bereitschaft, an einer Therapie mitzuwirken (Compliance), keine positiven Effekte. Eventuell führen auch die Nebenwirkungen vieler Psychopharmaka, die oft mit Gewichtszunahme verbunden sind, zu einer mangelnden Compliance.

Differentialdiagnose

Zunächst ist die Anorexia nervosa von dem Symptom Anorexie abzugrenzen, das bei verschiedenen Erkrankungen auftreten kann.

Dann muss die Anorexia nervosa vor allem von anderen Essstörungen unterschieden werden. Hierbei ist die Bulimia nervosa von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu bulimischen Patienten weisen Anorektiker beider Subtypen einen erheblichen, manchmal lebensbedrohlichen Gewichtsverlust auf, auch wenn die Anorexia nervosa vom Purging-Typus ähnliche Verhaltensweisen beinhaltet.

Die genaue Abgrenzung verschiedener Essstörungen voneinander ist nur im therapeutischen Kontext, im Rahmen einer aktuellen Therapie und ihrer momentanen Ziele sinnvoll, da oft beobachtet wird, dass Patienten während ihrer Entwicklung verschiedene Formen aufweisen. Oft findet man in der Vorgeschichte von Bulimikern eine Episode von Anorexia nervosa. Manchmal kommt es auch vor, dass Personen, die unter Adipositas litten, eine Anorexia nervosa oder Bulimie entwickeln oder umgekehrt.

Affektive Störungen wie Depressionen oder bipolare Störungen können auch zu erheblicher Gewichtsreduktion führen. Die Betroffenen weisen jedoch keine verzerrte Körperwahrnehmung auf.

Physiologische Störungen können ebenso zu Gewichtsverlust führen, beispielsweise ein Hirntumor oder Stoffwechselerkrankungen wie die Hyperthyreose.

Die Magersucht ist auch abzugrenzen von Fällen, bei denen Menschen freiwillig in den Hungerstreik treten, etwa in Gefängnissen oder als Form des politischen Widerstandes.

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Melanie
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Beitrag von Melanie »

Das kommt mir sehr bekannt vor.

Ich habe eine Kollegin die daran leidet.
Wir haben uns als Krankenschwester auf der gleichen Station vor ca. 8 Jahren kennen gelernt. Nun traff ich sie in einer Agentur für Begleitung und Gesellschaft wieder.
Als Krankenschwester darf sie nicht mehr arbeiten, weil sich neben dem estörtem Essverhalten auch Depressionen ein gestellt haben.
Seit ca. 1/2 Jahr arbeiten wir zusammen.
- es erschreckt mich schon welchen Raubbau sie mit ihrem Körper begangen hat.
Immer noch Kleidergröße 34 und obwohl sie erst 36 Jahre ist - sieht sie bedeutend älter aus.
Doch sie hat Krankheitseinsicht - muss auch Antidepressiva nehmen und kommt alleine nicht zurecht mit ihrer Psyche.
Die Arbeit mit Kunden scheint ihr aber gut zu tun. Sie ist beliebt, was mich dabei erstaunt ist, dass sie keinen eigenden Stil entwickelt hat.
Mal wild , mal sehr zärtlich auch Domina - spezielle Vorlieben gibt es nicht.!
Irgendwie kann man bei uns jede Frau sehr gut einschätzen, wo die Stärken liegen , was sie nicht mögen = nur bei ihr nicht !

Ich muss zugeben - wir sehen sie nie essen. So oft wir uns zum Kaffee treffen und dabei Kuchen oder Keckse essen - sie hat gerade erst gegessen.
Sie jammert, dass ihre Gefühlswelt immer gleich ist = ein "auf und ab " gäbe es nicht. Alles wäre grau in grau - deshalb greift sie manchmal zu Cannabis, weil sie dann wieder Gefühle spürt.

Sie ist völlig unsicher selbst Entscheidungen zutreffen, auch das Bauchgefühl bei zweifelhaften Kunden fehlt ihr völlig.

Im Prinzip ist sie immer unser Sorgenkind und sie hat es in der Familie auch nicht leicht.
Ist verheiratet mit kleiner Tochter auf einem kleinem Dorf. Alles was sie als SW macht - ist heimlich.
Die Ehe ist kaputt. Der Mann betrügt sie ständig, deshalb stieg sie auch als SW ein und wegen Geldnot. Er weiß aber, was sie tut und paßt in der Zeit auf die Kleine auf oder wir nehmen die Kleine mit uns mit ( haben ja fast alle Kinder ) .

Wie können wir ihr helfen ? Psychotherapie lehnt sie ab - nimmt aber gerne Autogenes Traning, Traumreisen und Muskelentspannung an. Danach fragt sie fast täglich, wenn wir uns abends noch Mal sehen. Sie scheint dann auch gelöster, aber ihr Drogenkonsum stört uns ( auch wenn es nur selten passiert ).
Ich bin mir sicher, sie lügt uns nicht an.
Mir fiel auch auf das Organisation bei ihr gar nicht geht, sowie einfach keine Kundengespräche am Telefon. Auch in der Kleidung braucht sie stets unsere Unterstützung bevor sie zum Kunden fährt.

Aber wir sind ja nicht immer da - so wie jetzt. Bis Sonntag ist endlich 1 Mal Ruhe, das baruchten wir auch.
Das waren jetzt Mal gerade 12 Tage und jeden 2 Tag war sie doch bei mir = Einsamkeit ?

Wie kann man helfen ?

LG Melanie
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Morpheus
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Beitrag von Morpheus »

Viele der Dinge, die du schilderst mögen durchaus einen Zusammenhang mit der Essstörung haben... aber bei einigen Dingen, wie z.B. die Unfähigkeit ohne Struktur etwas zu erledigen usw. lassen mich an ADS denken, eine weit verbreitete und vollkommen missachtete "Krankeheit". Inbesondere wenn Leute dann zu Drogen greifen....

Nur so mal als Denkansatz... Ferndiagnosen sind immer kritisch!

LG

Morpheus
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Beitrag von Melanie »

Ich kenne Jugendliche mit ADS, aber die verhalten sich anders . Viel spontaner, unzuverlässig , Gedankensprünge, keine Konzentration, aber keineswegs dumm.
Leider suchen sie oft den Kick bei Drogen , aber so ist SIE nicht.
- sie ist ruhig, zuverlässig 100%; konzentriert, keine Gedankensprünge usw.

Nur sie hat nicht einen Funken Selbstbewußtsein - auch mal nein zusagen.
Sie wurde ja auch lange genug diagnostiziert, aber ich glaube - sie ißt immer noch nichts oder nur sehr, sehr wening.
Einsamkeit hält sie nicht aus, aber das können viele Menschen nicht. Eben nur so krass bei ihr.

Wir können sie ja nicht immer als kleines Mädchen behandeln, aber ihr mehr Verantwortung zugeben , wie Organisation von Hausbesuchen oder nur An- und Abmeldungen beim Kunden geht voll daneben. Da schickt sie alle raus egal zu welchen Kunden ( wo andere das Telefon gleich wieder auflegen würden oder sie vergißt bei PC- Spielen die Abmeldungszeiten der Mädels bis zu einer 1/2 Stunde. Das ging 1 Woche chaotisch zu und gab viele Beschwerden.

Nein - wir suchen Tips wie wir helfen können, dass ihr Selbstbewußtsein stärker wird. Das sie auch ihrem Mann mal die Meinung sagt und sich von Kunden nicht alles gefallen läßt.
Das sie unbedingt als Domina eingesetzt werden - erstaunt mich, weil sie gar keine Erfahrung hat. Ich habe da etwas Bauchschmerzen, dass sie es nur macht um ihre Agressionen los zuwerden ! Bisher haben wir ihr den Wunsch nicht erfüllt - nur zu zweit wäre das ok.
Aber danke für die Gedanken die Du Dir gemacht hast - viele wollen damit gar nichts zu tun haben !!!

LG Melanie
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*Christine*
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RE: Magersucht

Beitrag von *Christine* »

Hallo Melanie,

ich hab da leider auch keinen Rat, aber eines fiel mir bei diesem Satz auf:
Sie jammert, dass ihre Gefühlswelt immer gleich ist = ein "auf und ab " gäbe es nicht. Alles wäre grau in grau
Genauso hab ich es auch erlebt, als ich (wegen Panikattacken) mal ein Antidepressivum nehmen musste. Ich fands unerträglich, von meinen Gefühlen so abgeschnitten zu sein und habs nach einem Jahr wieder ausgeschlichen und abgesetzt.

Diese Frau sollte schon psychotherapeutische Hilfe annehmen, finde ich.

Nur, dann kommt auch das nächste Problem: Inhalt der Therapie muss aber immer auch die Arbeit als SW sein, wenn die Therapie ehrlich ist und das sollte sie sein. Und ich hab zweimal erlebt (einmal bei einer Frau und einmal bei einem Mann), dass die richtiggehend Pickel gekriegt haben, als ich das sagte und die Frau mir sagte, dass sie damit nicht umgehen kann und deshalb keine Therapie mit mir machen möchte! Ich hab mich dermassen geschämt, das war sowas von beschämend, ich bin in meinem Sessel fast gestorben.

Und das wirklich Dumme dabei ist, dass alle Psychotherapeuten, die ich erlebt habe, das als eine Störung ansehen, dass man als SW arbeitet und damit kann ich wieder nicht umgehen....

Echt schwer......... :009

Melanie
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Beitrag von Melanie »

Ich denke auch ihre Gefühlswelt nur grau in grau zu erleben ist eine Nebenwirkung von dem Antidepressiva.
Vor der Medikamention hatte sie das nicht.

Sie hat genug Psychotherapeuten kennen gelernt und nichts hat ihr etwas gebracht - zu der Zeit hat sie als SW noch nicht gearbeitet.

Nun ist sie selbst vom Fach und läßt sich nichts vormachen ( dumm ist sie ja wirklich nicht - gebe viel auf ihre Meinung ).
Aber wir haben gemerkt seit dem sie als SW arbeitet ist sie wieder lebhafter, kontaktfreudiger.

Würde mir nur wünschen, dass sie endlich mal zu essen anfängt !
Ist 165 groß bei ca. 48 kg und das sagt sie, aber auf die Wage geht sie nicht.
Glaube sie hat noch weniger !
Aber sie ist in regelmäßiger ärztlicher Kontrolle und die schauen sicher auch nach dem Gewicht. Diagnose Magersucht steht ja als gesichert.

Kann sie ja nicht mit Gewalt füttern..

Wirklich schwer...

LG Melly
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Re: RE: Magersucht

Beitrag von Aoife »

*Christine* hat geschrieben:Und ich hab zweimal erlebt (einmal bei einer Frau und einmal bei einem Mann), dass die richtiggehend Pickel gekriegt haben, als ich das sagte und die Frau mir sagte, dass sie damit nicht umgehen kann und deshalb keine Therapie mit mir machen möchte! Ich hab mich dermassen geschämt, das war sowas von beschämend, ich bin in meinem Sessel fast gestorben.
Wer als Therapeut moralisiert ist nicht nur unprofessionell, sondern extrem patientenschädlich!

Glücklicherweise gibt's auch andere, muß man aber wirklich suchen, hab auch (sehr) lange gebraucht, bis jemand mit Transsexualität umgehen konnte. Diejenigen haben jetzt allerdings auch mit SW kein Problem.

Liebe Grüße, Eva
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Re: RE: Magersucht

Beitrag von Angie_Escort »

          Bild
*Christine* hat geschrieben:
Nur, dann kommt auch das nächste Problem: Inhalt der Therapie muss aber immer auch die Arbeit als SW sein, wenn die Therapie ehrlich ist und das sollte sie sein. Und ich hab zweimal erlebt (einmal bei einer Frau und einmal bei einem Mann), dass die richtiggehend Pickel gekriegt haben, als ich das sagte und die Frau mir sagte, dass sie damit nicht umgehen kann und deshalb keine Therapie mit mir machen möchte! Ich hab mich dermassen geschämt, das war sowas von beschämend, ich bin in meinem Sessel fast gestorben.

Und das wirklich Dumme dabei ist, dass alle Psychotherapeuten, die ich erlebt habe, das als eine Störung ansehen, dass man als SW arbeitet und damit kann ich wieder nicht umgehen....
Es erschreckt mich das du da so schelchte Erfahrungen machen hast müssen. Ich war auch mal in Therapie und mir war es wichtig dem Thearpeuten gleich zu sagen was ich beruflich mache und das DAS nicht mein Problem ist :003 - er hat es zuerst mal so hingenommen (und sich wahrscheinlich gedacht, nau, Mädel, sicher ist das das Problem, da komme wir und vor allem du dann schon noch drauf...) als wir dann irgendwann aufs Thema gekommen sind habe ich ihm erklärrt wie das ganze bei mir abläuft, was es mir bringt und wie ich es empfinde - er war dann positiv überrascht und konnte sich mit dem Gedanken dann doch ganz gut anfreunden das Sexwork nicht automatisch Unterdrückung, Demütigung und Raubbau an Körper und Seele bedeutet... er fand es dann am Ende sogar sehr beeindruckend was ich für mich persönlich daraus gemacht habe.

Es war übrigends der erste Therapeut den ich, rein nach der Sympathie seines Internetauftritts, kontaktiert habe. Kann also weder behaupten das er eine positive Ausnahme war noch das er die Nadel im Heuhaufen war.

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RE: Magersucht

Beitrag von Sugar »

Zunächst einmal Hut ab für einen so ausführlichen Beitrag. Finde ich toll, dass hier auch solche Themen einen Platz finden, vor allem, weil es ja durchaus spezielle Foren für alles mögliche gibt, ich persönlich mich aber hier viel wohler fühle.

Ich selbst leide seit 15 Jahren an Essstörungen, momentan habe ich das aber gut im Griff. Leider ist es gar nicht einfach, da die richtige Hilfe zu finden, selbst wenn man endlich den Schritt dazu macht.

Ich habe etliche Therapeuten durch, da ich aber in keine der üblichen Essstörung 100% passe, hat es extrem lange gedauert, bis ich Hilfe fand. Da ich nur phasenweise hungere und dann auch wieder häufiger Fressattacken habe, passe ich halt in keine Schublade. Zudem war meine Motivation weniger die Anpassung ans Schönheitsideal, als vielmehr ein gesteigerter Perfektions- und Kontrolldrang. War ich in etwas nicht perfekt, habe ich mich mit Hungern bestraft und daraus ein tolles Gefühl von Kontrolle gewonnen. Glücklicherweise habe ich nach Jahren endlich Hilfe gefunden und es weitestgehend in den Griff gekriegt.

Allen Betroffenen kann ich nur wünschen, dass sie Hilfe suchen und finden. Das Leben ist soviel schöner, wenn es aus mehr als Essen und Selbstkasteiung besteht!

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Ronja
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RE: Magersucht

Beitrag von Ronja »

Hallo,

seit vielen Jahren ist Essstörung ein Thema in meinem Leben.
Die Auseinandersetzung mit Ursache, Wirkung,, Therapiemöglichkeiten und deren Wirksamkeit ist für mich deshalb unumgänglich.

Leider stoße ich dabei immer wieder auf allgemeine Hilflosigkeit und vor allem auf ein weit verbreitetes Krankheitsbild, das meiner Überzeugung nach verfälscht ist. Erschreckend finde ich, dass Psychologen, Therapeuten und andere aufklärenden Institutionen, den Hilfesuchenden und Patienten dieses Bild vermitteln.
Traurig macht mich dabei vor allem, dass die meisten Betroffenen mit ihren Essstörungen ohne Hilfe oder sogar nachhaltig durch verfehlte Verhaltenstherapien massive Verschlechterungen ihrer Krankheit in Kauf nehmen müssen…
Zudem sind sie der allgemeinen Unwissenheit zur Folge mit ständigem Unverständnis in ihrem alltäglichen Umfeld ausgesetzt, was sie völlig isoliert und allein in ihrer Not, und dem Gefühl selbst „falsch“ oder „nicht richtig“ zu sein, zurück.

Ich habe lange überlegt, ob ich zu diesem Thema hier schreiben soll….denn eigentlich bin ich mit anderen Themen und Fragen in dieses Forum gekommen…und die Auseinandersetzung mit Essstörungen und den Missständen in unserer Gesellschaft im Umgang psychisch kranken Menschen hat mich schon zu viel in meinem Leben gekostet.
Eure Beiträge zu diesem Thema haben mich nun doch nicht daran vorbei gehen lassen….Wenn bei sexworker.at schon Raum dafür gegeben wird, dann, finde ich, sollten auch Informationen dazu richtig und fundiert angegangen werden.

Liebe Mandy,
in persönlicher Sache kann ich manche deiner Aussagen so nicht stehen lassen. Ich hoffe, du kannst meine Richtigstellung auch als solche verstehen und bitte dich schon im Vorfeld um Entschuldigung und Nachsicht, sollte meine Wortwahl unfreundlich wirken…dies liegt dann einzig und allein an meinem Unverständnis dem System gegenüber, dass sich trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse, die eine Überholung der bestehenden Therapieverfahren verlangen, weigert sich dementsprechend neu zu organisieren.

Essstörungen sind lange nicht mehr nur ein frauenspezifisches Phänomen. Die Zahl der betroffenen Jungen und Männer nimmt ständig zu.
Nur in den seltensten Fällen zeigen Betroffene eine Reinform von gestörtem Essverhalten. Es ist sogar nur der kleinste Teil aller Erkrankten, die eine reine Magersucht haben und dem weit verbreitenden Bild des bis auf Knochen abgemagerten Mädchens gleichen.
Ich finde es fatal und zugleich vorsätzlich fehlgeleitet, gesellschaftlicher Vorstellung ein Bild zu suggerieren, dass nur auf ein Bruchteil aller Essgestörten zutrifft.
Was zu treffend ist….
Verhalten und Selbstwahrnehmung unterscheiden sich bei rein Magersüchtigen deutlich von dem anderer Patienten. Durch die ständig geringer werdende Nahrungsaufnahme, die bis hin zur völligen Verweigerung führen kann, ist der/die Patient/in mit Essstörung in diesen Fällen auch entsprechend schnell in einen lebensbedrohlichen Zustand.
Die weit verbreitete Vorstellung, Menschen, die an Essstörung leiden, müssten auch dementsprechend abgemagert sein, ist definitiv überholungsbedürftig. Ich würde sogar weiter gehen und sagen, dass es für viele Erkrankte Lebens entscheidende Konsequenzen mit sich trägt, wie früh ihr Umfeld eine Veränderung der Essgewohnheiten bemerkt und als Krankheit (an)erkennt. Im Welterleben eines an Essstörung erkrankten Menschen ist die Erfüllung seiner Sehnsucht „weniger zu werden“ überlebensnotwendig. Demnach setzt er alles daran unerkannt zu bleiben. Die Täuschung der Umwelt wird dabei ständig perfektioniert. Der fälschlichen Vorstellung ist es zu zuschreiben, dass Essstörungen meistens viel zu spät erkannt werden.

Dass Erkenntnisse der Ursachenforschung, die es bereits seit Jahren gibt, nicht in die therapeutische Arbeit der meisten Kassentherapien integriert werden, scheint ein Phänomen des gesellschaftlichen Menschenbildes zu sein, dem das gesamte soziale System zu Grunde liegt.

Traumata sind nicht eine von mehren möglichen Ursachen, sie sind immer der Grund für eine psychische Erkrankung.
„Traumatisierte geraten in Situationen, die zum Leben nicht mehr geeignet sind. Dies ist, wie ich meine, die kürzeste Definition eines Traumas. Mensch und Umwelt bilden keine Einheit mehr.“ (Die Entwicklung der modernen Traumatherapie, Prof. Dr. med. Reinhard Plassmann)
Die Psyche des Traumatisierten ergreift überlebensnotwendige Maßnahmen. Das Symptom, welches das Hungern, maßlose Fresssucht, Bulimie oder aber auch jede andere Art von Sucht bzw. selbst zerstörerischem Verhalten sein kann. Wieder andere Menschen werden aggressiv oder sie reagieren mit anderen Verhaltensauffälligkeiten.
Zu behaupten, Essstörung sei vererbbar, liegt wohl eher dem Irrtum zu Grunde, innerhalb einer Familie über Generationen hinweg Magersüchtige beobachtet zu haben und damit eine solche Interpretation her zuleiten.
Ich würde solch eine Beobachtung wohl eher der Konflikt behaftenden Beziehungen innerhalb einer Familie zu schreiben, die oft durch eine disharmonische Rollenverteilung zwischen Eltern und Kindern über Generationen Konflikte weiter tragen.
Es gibt zur Ursachenforschung noch unglaublich viel zu sagen..
Ursachen, wie auch Krankheitsbild und Verlauf sind wie so individuell und vielfältig, dass eine Verallgemeinerung eines oder vielleicht auch manchen sich ähnlich scheinenden Krankheitsgeschichten!!!!

„Die Frau, die im Mondlicht aß“ Annita Johnston beschreibt Ursachen, Lebenswelten von esssgestörten Menschen, wie auch ihre Unterschiede und schließlich, welcher Weg aus der Krankheit führen kann und weshalb nur so Heilung geschehen kann anhand von Märchen…hört sich vielleicht zuerst komisch an, ist aber ein Buch, das stets fundiert und für jeden verständlich geschrieben ist, dass es Klarheit in den Sumpf unerklärter Essstörung bringt.


Ich spreche mich deutlich dagegen aus, Menschen, mit einer Essstörung als Opfer zu stigmatisieren und sie damit an den Rand aus unserer Gesellschaft zu drängen!!!
Wer wirklich schon einmal gehungert, gefressen und bis zur Ohnmacht erbrochen hat, wie es diese Menschen über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg tun…
Wer einmal tagelang gehungert hat, deshalb Schwächeanfälle zur Folge erlebt hat, wie es diese Menschen oftmals als ihren Normalzustand erleben und beschreiben würden, wobei sie selbstverständlich jegliche, körperliche Schwäche verbergen, gleichzeitig ihre Alltagsbewältigung auf selbem Leistungsniveau erbringen, wie ihre regelmäßig essenden Mitmenschen,

Wer auch nur ansatzweise empathisch diese Belastungen beim Anblick einer vielleicht schwach wirkenden Esssgestörten in sein Bewusstsein rufen kann…der müsste eigentlich bei der Definition von Schwäche essgestörter Menschen aufschreien, Kopf schütteln ….jedenfalls niemals zustimmen…. !!!
Tatsache ist doch, diese Menschen erlegen sich die Disziplin auf, sich jedem Genuss zu enthalten…und dabei sind sie sich selbst ein radikaler und rücksichtsloser Richter, wie Menschen es nur äußerst selten sind. Sie erbringen Höchstleistung unter katastrophalsten körperlichen Bedingungen…über Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte.
Welcher Irrglaube liegt hier eigentlich vor…
, wenn Menschen, die sich bei jeder Einschränkung ihres Zustandes umgehend für leistungsunfähig erklären, doch tatsächlich davon ausgehen wollen, dass untergewichtige Menschen, die in ihrer Erscheinung und in ihrem Auftreten zerbrechlich wirken mögen, als schwache und hilflose Menschen zu verstehen? (Ignoranz? Gleichgültigkeit? Unfähigkeit zur Auseinandersetzung mit der Lebenswelt von Menschen, die ein gestörtes Essverhalten haben?)

Ich spreche mich vor allem gegen Zwangsbehandlungen aus!
Psychisch kranke Menschen sind sehr wohl autonome Persönlichkeiten und wie alle übrigen Menschen ein Recht auf Selbstbestimmung und Wahrung ihrer Würde haben!!!
Leider ist es derzeit in Deutschland üblich, Essstörungen mit Zwangsmethoden in Verhaltenstherapien zu behandeln, in denen das Nichtessen oder eine Gewichtsabnahme bzw. gleich bleibendes Gewicht mit Sanktionen wie der Freiheitsentziehung bis hin zur Zwangsernährung durch eine Sonde oder/und das Fesseln an Betten, sowie das Untersagen jeglicher Bewegung. begegnet wird.
Ich spreche zudem deutlich gegen die Stigmatisierung als Kranke mit verzerrter Wahrnehmung und der Suggestion zur Unfähigkeit Entscheidungen treffen, sowie Situationen einschätzen zu können!!!!

Ich spreche mich außerdem deutlich gegen die Behauptung, aus,
Gefühle zu empfinden und zu leben sei ein Zeichen von Schwäche!!!
Ich behaupte, jede Form von Verdrängung unangenehmer Gefühle, wie auch Ängsten ist ein Zeichen von Schwäche! Sich Gefühlen zu stellen, die beängstigend und unvorhersehbare Konsequenzen bergen, ist für mich ein Zeichen von Stärke!
Menschen mit Essstörung sind sensibel und haben eine weitaus intensivere Wahrnehmung wie ihre Mitenschen. Sie nehmen beispielsweise Spannungen wahr, wo andere erst sehr viel später unangenehme Gefühle bemerken. Deshalb sind sie keinesfalls schwach und auch nicht zu empfindlich, sondern allein nur empfindsamer. Leider müssen sie ihr Leben lang erleben, dass sie deshalb nicht ernst genommen oder mit der Verurteilung und Ausgrenzung an den Rand und in die Isolation getrieben werden.


Ein, meiner Meinung nach, fachlich gut durchdachter und aufklärungsreicher Therapieansatz gibt Prof. Dr. med. Reinhard Plassmann:

http://www.ptz.de/fileadmin/media/pdf_1 ... erapie.pdf

Danke fürs lesen... :read2 :read2 :disgust :eusa_hand :eusa_snooty
Glaubst du nicht,
dass es im Menschen eine Tiefe gibt,
die so weit reicht,
dass sie selbst dem, der sie beherbergt,
verborgen bleibt?
(Augustinus)

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Beitrag von Ronja »

oh entschuldigt, die kopfschüttelnden smiles sollten nicht am schluss sein
Glaubst du nicht,
dass es im Menschen eine Tiefe gibt,
die so weit reicht,
dass sie selbst dem, der sie beherbergt,
verborgen bleibt?
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Re: RE: Magersucht

Beitrag von Zwerg »

          Bild
Ronja hat geschrieben:Wenn bei sexworker.at schon Raum dafür gegeben wird, dann, finde ich, sollten auch Informationen dazu richtig und fundiert angegangen werden.
Das steht außer Frage! Ich für meinen Teil möchte anmerken: Dein Beitrag zeigt eine Sichtweise auf, die ich bisher (sträflicher Weise) vollkommen außer acht gelassen habe. Ich finde es vollkommen richtig, dass Du Deine Meinung zum Ausdruck bringst

liebe Grüße

christian

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Beitrag von Aoife »

Danke Ronja,

für diese schöne Darstellung.
Allein den Satz:
"Traumata sind nicht eine von mehren möglichen Ursachen, sie sind immer der Grund für eine psychische Erkrankung. "
möchte ich dahingehend kommentieren, dass er nur dann richtig ist, wenn man Neurosen
nicht als psychische Erkrankungen auffasst. Was ja ein durchaus nachvollziehbarer Ansatz ist.

"Dass Erkenntnisse der Ursachenforschung, die es bereits seit Jahren gibt,
nicht in die therapeutische Arbeit der meisten Kassentherapien integriert werden,
scheint ein Phänomen des gesellschaftlichen Menschenbildes zu sein, dem das
gesamte soziale System zu Grunde liegt. ":

Nun ja, das hängt unmittelbar damit zusammen, dass die Kassenmedizin nicht nur
dem individuellen Patienten, sondern in noch höherem Maß der Gesellschft verpflichtet ist.

Was bei körperlichen Erkrankungen nicht weiter auffällt, weil hier der Patientenwunsch
nach Gesundung mit dem gesellschaftlichen Ziel der Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit übereinstimmt.

Die Psycho-Traumatisierung hingegen dient ja zum Großteil gerade dazu, die Menschen
der Gesellschaft zu unterwerfen - so dass der Patientenwunsch nach Enttraumatisierung
den gesellschaftlichen Ansprüchen direkt widerspricht.

Somit verlangt es dem der Gesellschaft verpflichteten (weil kassenbezahlten)
Therapeuten schon sehr viel Rückrat ab, im Patientensinne zu handeln.
Und das ist leider meistens nicht gegeben.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
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Misspellings are *very special effects* of me keyboard

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Ronja
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Beitrag von Ronja »

Danke Christian und Aoife für eure Offenheit.

Mir liegt auch wirklich nichts daran, Vorwürfe zu machen...egal an welche Stelle...nur an einer objektive Aufklärung...im Sinne der Menschen, die deshalb Hilfe benötigen.
Vielmehr müsste eine grundlegend veränderte Haltung zur Behandlung bereit gestellt werden und somit auch verbesserte Umstände für die Therapeuten.
Liebe Grüße
Glaubst du nicht,
dass es im Menschen eine Tiefe gibt,
die so weit reicht,
dass sie selbst dem, der sie beherbergt,
verborgen bleibt?
(Augustinus)

halilintar
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RE: Magersucht

Beitrag von halilintar »

zu diesem thema einen standard-artikel, der von einer freundin von mir handelt:




Das Schweigen brechen

Auf den ersten Blick gibt es keinerlei Indizien, gar nichts Auffälliges, was darauf hinweisen würde, auch wenn man es schon weiß. Nichts an dieser jungen Frau wirkt instabil oder krankhaft. Sie sitzt da, auf dem Kaffeehaustisch steht ein Café Latte vor ihr, sie trägt ein lila T-Shirt und eine kurze Cargo-Hose in Olivgrün. Sie ist mit dem Fahrrad gekommen. Die dichten rötlichen Haare sind kurz geschnitten, und die Mandelaugen passen gut zum hellen Teint ihrer Haut. Sie ist vielleicht 25 Jahre alt, und wer nichts von ihr weiß, würde sie als ganz normale junge Frau bezeichnen.
Sie selbst weiß, dass sie das nicht ist. In einer Mail vor dem Treffen hatte sich Bettina F. so beschrieben.: "Ach ja, ich bin normalgewichtig. Erwarten Sie bitte kein abgemagertes Mädchen. Bulimiker sind, entgegen der weitverbreiteten Meinung, meist normalgewichtig, manchmal untergewichtig, manchmal auch übergewichtig, aber hauptsächlich normalgewichtig. Einer der Gründe, warum sich die Krankheit so heimlich abspielt bzw. überhaupt heimlich abspielen kann. Aber darüber können wir dann ja reden ..."

Mut machen

Bettina F. hat Bulimie, Ess-Brech-Sucht. Deswegen sitzt sie hier im Kaffeehaus und wird in den nächsten Stunden ihre Geschichte erzählen, auch um, wie sie sagt, anderen Kranken zu helfen und Mut zu machen, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Essstörungen sind nämlich häufiger, als man denkt: Rund 200.000 Österreicherinnen erkranken im Laufe ihres Lebens daran - anders gerechnet hat eine von 15 Österreicherinnen eine Essstörung. Die Krankheit ist vor allem unter Frauen verbreitet - nur etwa jeder zehnte Patient ist männlich. Und unter den Essstörungen wiederum ist die Bulimie am häufigsten verbreitet. In Österreich leiden nach offiziellen Angaben rund 6500 Menschen darunter. Der Großteil der Betroffenen ist zwischen 20 und 30 Jahre alt - rund 900 Neuerkrankungen kommen pro Jahr dazu.
Bettina F. leidet seit zwei Jahren an Bulimie. 2006 hat sie zum ersten Mal erbrochen, und seither bestimmt diese Krankheit ihr gesamtes Leben. Am Anfang des Gesprächs erzählt Bettina über ihr Essverhalten, über gesundes Essverhalten, das sie, wie sie sagt, nie gelernt hat. Die Familie F. lebt am Land, die Rollenverteilung ist klassisch: Der Vater arbeitet, die Mutter ist Hausfrau. Bettina ist die Älteste von drei Schwestern. Zu Hause kam (und kommt bis heute) immer viel auf den Tisch, und alles ist deftig. Die Speisekammer ist bis oben gefüllt, vor dem Fernseher wird genascht, auch die Schwestern waren dicke Kinder. Sie selbst war immer eine Frustesserin.

Bettina leidet unter dem Dicksein, seit sie denken kann, sie fühlte sich immer als Außenseiterin. „Ich war die Dickste in der Klasse", erzählt sie. „Ich hatte immer Minderwertigkeitskomplexe." Für ihre Eltern war das nie ein Problem, für sie selbst ein gewaltiges. Kurz vor der Matura, bereits nach Jahren mit Diät- und Abmagerungsversuchen, nimmt Bettina dann tatsächlich ab. Sie fühlt sich dünner und hübscher. Viel selbstbewusster. Aus dieser Zeit gibt es einen Tagebucheintrag. Bettina F. schreibt mit 18 Jahren in ihr Tagebuch: „Ich denke die ganze Zeit daran erbrechen gehen zu müssen!" Sie tut es nicht. Noch nicht.
Für das Umfeld, aus dem Bettina kommt, hat sie ihren eigenen Kopf. Dort, von wo Bettina herkommt, ist es nicht alltäglich, dass jemand maturiert, das machen nur die „Großkopferten". Bettina ist immer einsam gewesen, schon als Kind in der Familie, im Gegensatz zu den Schwestern hat sie sich in die sozialen Gefüge am Land nie integriert. Im Gegenteil: Sie wollte immer raus, und das so schnell wie möglich. Nach der Matura organisiert sie sich einen Au-pair-Job in den USA. Das Positive: Endlich war sie raus aus der Enge ihres Dorfs. Das Negative: In den USA nimmt Bettina mit einem Schlag 20 Kilo zu und kommt nach ihrer Rückkehr in einen endlosen Jo-Jo-Effekt und damit in die Dynamik, die sie über die Jahre mitten in eine schwere Essstörung führt.

"Fluchtversuche"

Heute beschreibt die 24-jährige Studentin das, was sie damals zu Beginn ihres Studiums begonnen hat, ziemlich nüchtern als "Fluchtversuche", damals hatte sie dieses Muster noch nicht durchschaut. Sie studiert Volkswirtschaft und Ethnologie und organisiert sich immer wieder Reisen ins Ausland. Am liebsten dorthin, wo es billig ist. In Vietnam hat sie über längere Zeit einen Freund. Doch die Beziehung ist unglücklich. Bettina: „Ich habe mich nicht angenommen, nicht geliebt gefühlt und sehr viel auf meinen Körper bezogen." In Vietnam hat vor mittlerweile zwei Jahren auch das Kotzen begonnen. „Wenn ich noch mehr abnehme, würden sich die Menschen Sorgen machen und sich mehr um mich kümmern!", denkt Bettina F. und beginnt einzelne Mahlzeiten zu erbrechen. Damals dachte sie: „Hey, das funktioniert, ich kann essen und die Kalorien wieder loswerden!" Da hat sie falsch gedacht.

Zwei Tage nach dem Treffen mit Bettina schickt sie eine viereinhalb A4-Seiten lange Mail, dicht beschrieben, in der sie noch einmal alle wichtigen Punkte klarmachen will. Unter anderem schreibt sie: "Die meisten Betroffenen, die ich kenne, rutschen, von einer Diät ausgehend, in die Bulimie rein. Es beginnt mit dem Erbrechen einzelner, normaler Mahlzeiten (...) und am Anfang fühlt es sich tatsächlich wie eine Lösung für das Verzicht-Problem an. Man denkt sich: Ich mach das nur ausnahmsweise, sobald ich mein Zielgewicht erreicht habe, hör ich wieder damit auf."

Bettina hört damit nicht auf. Im Gegenteil. Sie bekommt immer öfter Heißhungerattacken. Als sie wieder zurück in Österreich ist, geht es ihr für kurze Zeit besser. Aber nur, weil Lebensmittel hier viel teurer sind als in Vietnam, die Fressanfälle also schwieriger zu finanzieren sind. "Es ist totales Suchtverhalten", sagt Bettina, "alles wird irgendwann egal - auch die finanziellen und körperlichen Folgewirkungen." Für Bettina beginnt zu diesem Zeitpunkt auch der Alltag mit der Bulimie, der Alltag mit einer heimlichen Krankheit. Schon bald hat sie mehrere Fressattacken pro Tag und gibt dafür oft 60 Euro und mehr aus. Weder ihre WG-Mitbewohner noch ihre engsten Freunde oder die Familie wissen Bescheid. Sie kauft möglichst viel und möglichst billig. Vor allem süße Sachen, die wiederum leicht zu erbrechen sind: breiige Kuchen, Joghurts, Schokolade und Puddings, die Ausnahmen sind Pizza, Nudeln oder Chips.

Alle schauen

Im Supermarkt, den sie immer wieder wechselt, verdrückt sie oft schon an der Kassa ihren ersten Kuchen, in der U-Bahn oder auf dem Fahrrad stopft sie eine Tafel Schokolade nach der anderen in sich hinein. Und überallhin begleitet sie ein Gefühl der Paranoia: Was denken die Leute? Alle schauen mich schief an! "Ich erbreche, egal wo", sagt sie im Kaffeehaus so laut, dass man spürt, wie sehr sie in der Zwischenzeit daran gearbeitet hat, damit es ihr egal wird, ob andere Leute das Gespräch mithören und wissen, worum es geht. Sie übergibt sich zu Hause oder auch an der Uni, wenn sie Angst hat, von den WG-Kollegen erwischt zu werden, und auf sämtlichen öffentlichen Toiletten der Stadt. Ihr Leben ist oft ein Spießrutenlauf, zwischen dem WG-Kühlschrank (sie selbst kann keinerlei Speisevorräte haben) und einem mitgebrachten Kuchen einer Mitbewohnerin, wegen dem sie tagelang im Kreis läuft. Während InstitutskollegInnen an der Uni feiern, kotzt sie einen Stock darunter, weil das Buffet sie maßlos überfordert.

Feiertage, Essenseinladungen und Familienfeste sind für BulimikerInnen ein Horror, denn stets muss die Fassade der Normalität aufrechterhalten werden. BulimikerInnen führen eine Art Doppelleben. Sie sind MeisterInnen der Verstellung und sehr kreativ im Vertuschen ihrer Essstörung. Meist geht einem Fressanfall ein unangenehmes Gefühl voraus, eine Spannung, mit der die Betroffenen nicht umgehen können. Und das kann vieles sein: Wenn man kritisiert wird, sich ungeliebt, einsam oder überfordert fühlt, seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird oder einfach Angst hat. Oft reicht dann "ein Apfel mit 70 Kalorien", sagt Bettina oder nur der Vorsatz, einmal eine "normale Mahlzeit" zu sich zu nehmen, um eine Attacke auszulösen, die zum totalen Kontrollverlust führt. BulimikerInnen hassen und schämen sich dann dafür, fühlen sich als Versager und kommen durch diese Selbstabwertung immer tiefer in den fatalen Kreislauf der Krankheit.

Zu Hause in der Steiermark, erzählt Bettina F., ist es immer am schlimmsten, da verdrückt sie Mengen, die "kein normaler Mensch je essen könnte". Für Bettina aber "ist Fressen immer das Schöne und Erbrechen eine Qual". Es gibt auch BulimikerInnen, die das umgekehrt erleben. "Und das Erbrechen selbst", erzählt sie weiter, "funktioniert nicht immer gleich gut." Manchmal geht es schnell und schmerzlos, manchmal muss sie sich abquälen. In schlimmen Phasen ist ihr Hals vom vielen Erbrechen angeschwollen und taub, und sie muss sich "richtig ekelhafte Sachen" vorstellen, um überhaupt noch einen Würgereflex zustande zu bringen. Auch hat sie Bissspuren an den Händen vom Erbrechenwollen. Das Beste, sagt sie, ist, wenn nachher richtige Unterzucker-Symptome auftauchen, wie Schwindel, Zittern und Herzrasen - dann weiß sie, dass alles raus ist. Das Schlimmste ist, wenn sie mit vollgefressenem Magen schlafen gehen muss: "In solchen Momenten wünsche ich mir oft, einfach nur zu sterben."
Tage, an denen sie nicht erbricht, sind nicht weniger essgestört, weiß sie inzwischen. "Während ich hier sitze und über meine Krankheit erzähle, denke ich zum Beispiel ununterbrochen über die Kalorien des Café Latte nach und ob es ein Fehler war, ihn zu bestellen." 90 Prozent ihrer Gedanken, sagt sie, kreisen krankhaft ums Essen: Sie plant, wägt ab, verwirft. Hat Angst, dick zu sein, und Panik, dick zu werden. "Man kann mit der Bulimie, wenn man Glück hat, das Gewicht halten", weiß Bettina. Sie selbst hat nur noch am Beginn ihrer Erkrankung drei Kilo abgenommen. Denn BulimikerInnen kommen schnell in den sogenannten Hungerstoffwechsel. Das heißt, der Körper beginnt alles zu speichern, weil er sich darauf einstellt, dass ihm die Nahrung wieder rasch entzogen wird. Die Palette massiver körperlicher Folgeschäden ist lang: Kaliummangel, Haarausfall, Osteoporose, Verätzungen der Speiseröhre, Gastritis, Amenorrhoe, Ödeme, Zahn- und Zahnfleischschäden, geschwächte Immunabwehr und vieles mehr.

Aufarbeitungsprozess

Das alles waren aber keine Gründe für Bettina, etwas gegen ihre Bulimie zu unternehmen. Obwohl ihr Zustand immer schlimmer wurde. Sie beginnt, zusätzlich zwanghaft Kalorien aufzuschreiben und zwanghaft Sport zu betreiben. Im Winter rast sie bis zur Erschöpfung ihr Stiegenhaus rauf und runter, bis sie nicht mehr kann. Die Frequenz der Fressanfälle steigt weiter. Erst der Punkt, an dem sie beginnt, wieder zuzunehmen, ist für sie ein Alarmzeichen, an dem sie beschließt, sich Hilfe zu suchen. Sie geht zur Studentenberatungsstelle und spricht dort zum ersten Mal mit einer Therapeutin. Sehr schnell wird Bettina zu diesem Zeitpunkt klar, dass die Krankheit ein Ausdruck ganz anderer Probleme ist. Die Therapeutin überweist sie weiter zur FEM (Frauen-Eltern-Mädchen-Gesundheitszentrum) an die Semmelweis-Klinik. Dort beginnt ihre Auseinandersetzung mit der Krankheit und damit ein langwieriger, schmerzhafter und bis heute andauernder Aufarbeitungsprozess.
Doch die Fassade nach außen muss weiter halten: Freunde und Eltern wissen nach wie vor nichts. Auch während der wochenlangen Therapie in einer Tagesklinik kommt sie abends in die WG, als hätte sie ganz normale Tage an der Universität verbracht. Und an den Wochenenden fährt sich nach wie vor nach Hause zu den Eltern. Doch mit den fortschreitenden Therapiestunden bricht vieles auf - und Bettinas Zustand verschlechtert sich weiter. Ihre Selbstzweifel und ihr Selbsthass werden stärker. "Als sichtbares Zeichen, dass es mir schlechtgeht, habe ich auch mit dem Ritzen begonnen", sagt Bettina.
Erstes Ziel einer Therapie beim Auftreten von Bulimie ist es, zu lernen, dass die Krankheit nicht nur schlecht ist, sondern dass sie auch geholfen hat (und hilft), seelische Notzustände auszuhalten, um so zu überleben. In einer Therapie geht es zunächst nicht so sehr um eine Veränderung des Essverhaltens, sondern um tiefer liegende Probleme. Und die haben ihre Wurzeln vielfach in der Kindheit. In der Vorgeschichte vieler BulimikerInnen gibt es öfter Missbrauch, psychische/physische Misshandlung, Manipulation, Liebesentzug oder Instrumentalisierung. BulimikerInnen haben meist einen sehr schwachen Selbstwert, aber ein starkes Leistungsdenken. All das lernt Bettina F. in ihrer Therapie und entschließt sich nach mehr als eineinhalb Jahren massiven Leidensdrucks für einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus.

Klinik

Anfang des Jahres 2008 packt Bettina F. ihre Koffer und zieht in eine Klinik. Die Rechnung für den Selbstbehalt lässt sie vorsorglich von der Adresse ihrer Eltern an ihre Wiener Adresse umleiten. Einer einzigen WG-Freundin gibt sie Bescheid und sagt zum ersten Mal in ihrem Leben den Satz: "Ich habe Bulimie!" Heute weiß sie gar nicht mehr, wovor sie solche Panik hatte: Es gab nach ihrem Outing keine einzige negative Reaktion aus ihrem Umfeld.
Bettina F. sitzt und redet und rührt im Café Latte. Sie trinkt nur wenige Schlucke davon. "Ich fühle mich heute viel dicker als auf einem Foto vor zwei Jahren, obwohl ich heute weniger Kilos habe." Bettina F. braucht, wie andere Essgestörte auch, eine sogenannte Körperwahrnehmungsstörung, um ihre Bulimie aufrechtzuerhalten. De facto ist die junge Frau schlank und normalgewichtig. Bei einer Körpergröße von 1,65 Meter schwankt ihr Gewicht, je nach Zustand, zwischen 57 und 63 Kilo. Leute, die ihr sagen, dass sie nicht dick ist, hält sie für Lügner.
Warum? Das bleibt immer noch die Frage in der Geschichte der Bettina F. Und mitten im Kaffeehaus, mitten im Gespräch sagt sie: "In meiner Kindheit gab es Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen." Und sie schaut dabei dem Gegenüber direkt in die Augen. Seit ihren Therapien im Krankenhaus, bestehend aus Gruppentherapie, Mal- und Musiktherapie, Spannungsregulation und Körperarbeit, gibt es eine Diagnose, schwarz auf weiß, und die lautet: "komplexe posttraumatische Belastungsstörung". "Der Vater hat uns geschlagen. Mein Cousin hat mich sexuell belästigt", sagt sie. Dass sie als "Misshandlungs- und Missbrauchsopfer" gehandelt wird, kann sie selbst bis heute nicht recht glauben. Aber die Diagnose bedeutet für sie auch, sich selbst einzugestehen, dass das alles wirklich passiert ist. Bettina spricht sehr explizit und äußerst eloquent über ihre Krankheit, auch hier hat sie einen Perfektionsanspruch an sich selbst. In kürzester Zeit hat sie sich selbst in einen Therapie-Speak perfekt eingearbeitet und gebraucht Fachbegriffe wie "emotional instabile Persönlichkeit" und "Borderliner", als würde sie das alles bereits jahrelang studieren.


Auf therapeutischer Ebene hat Bettina tatsächlich vieles verstanden, sagt sie selbst. Sie wüsste alles, was jetzt zu tun wäre. "Aber ich fühle mich vollkommen überfordert, es umzusetzen!" Seit einem Monat ist sie wieder "heraußen", wie sie das nennt. Im Stakkato-Ton erzählt Bettina F. die vergangenen Monate, so als wollte sie nie mehr aufstehen vom Kaffeehaustisch und rausgehen, zurück in ihr Leben. Sie spricht klar und atemlos zugleich, sehr eindringlich, fast manisch: Am Ende ihres Klinikaufenthaltes hätte sie wieder Rückschritte gemacht, so als wollte sie nicht raus aus dem geschützten Bereich ... Insgeheim hätte sie schon ihre Magersucht geplant, wollte sich runterhungern auf Sondengewicht, um es wieder "wert zu sein", aufgenommen zu werden ... Die Rückkehr in die Realität des Alltags mit nur einmal Gruppentherapie pro Woche ist hart ... eigentlich ist sie jetzt labiler als zuvor. Und: Neue Symptome sind dazugekommen: Bettina F. leidet zusätzlich unter einem Wiegezwang, nimmt stark überdosiert Abführmittel.

Authentisch und richtig

Sie fährt wieder zu den Eltern und spielt dort heile Welt. Doch nach der Therapie funktioniert das nicht mehr so recht. Sie will mit der Mutter reden - über die Familie, über ihre Kindheit. Und plötzlich bricht alles aus ihr heraus. Bettina erzählt vom Krankenhausaufenthalt, doch bis heute sagt sie nicht die ganze Wahrheit. Für die Mutter war sie dort wegen Depressionen. Bettina F.: "Essstörungen gibt es in ihrer Welt gar nicht."
Bettina erzählt und analysiert weiter, sie hat offenbar vieles begriffen. Ihre überdurchschnittliche Intelligenz ist spürbar: "Ich schwanke ständig zwischen Grandiosität und Minderwertigkeit", gibt sie zu, und je länger sie redet, desto klarer wird, wie unglücklich und verzweifelt diese junge Frau ist. Irgendwann, als sie über mehrere Stunden ihre Geschichte vor sich ausgebreitet hat, ist der Café Latte dann doch ausgetrunken und Bettina steigt auf ihr Fahrrad und fährt wieder nach Hause.
Auf dem Weg dorthin, zurück in die Wiener WG, stoppt sie noch an einem Supermarkt, um für einen Fressanfall einzukaufen. "Irgendwie hat mich das sehr unter Spannung gesetzt, so kompakt meine ganze Geschichte zu erzählen", sagt sie später. Bettina hat sich selbst sehr unter Druck gesetzt, alles "möglichst authentisch und richtig" zu erzählen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie hat selbst einen Brief an ihre Bulimie geschrieben und der beginnt mit "Liebe (verhasste) Bulimie!" (siehe Link am Ende des Artikels). Ob es ein Abschiedsbrief ist, weiß auch Bettina F. noch nicht.

Bulimie ist eine heimliche Krankheit, das Nicht-darüber-reden-Können ist Teil der Symptomatik. Die Betroffenen leiden oft jahrelang, ohne dass irgendjemand mitbekommt, was los ist. Ein erster wichtiger Schritt in Richtung Gesundung ist es, das Schweigen zu brechen. In der langen E-Mail, in der Bettina F. noch einmal sichergehen will, dass sie alles richtig erklärt hat, schreibt sie ganz zum Schluss: "Was meine persönliche Geschichte betrifft: Auch nach vier Monaten Therapie im Krankenhaus bin ich noch lange nicht gesund. Ich weiß, dass noch ein sehr langer Prozess vor mir liegt. Die Therapie einer Essstörung nimmt meist mehrere Jahre in Anspruch. Man braucht viel Geduld mit sich selbst und viel Mut und Kraft, an sich selbst zu arbeiten. (...) Oft verzweifle ich, oft bin ich unglaublich lebensmüde, und oft habe ich Angst, dass ich es niemals schaffen werde. Aber ich versuche im Hinterkopf zu behalten, dass ich es irgendwann schaffen kann."

"Je früher man Hilfe sucht, umso größer die Heilungschancen", hat Bettina F. selbst immer wieder gesagt. Ihre Chancen stehen also gut. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD, Print, 2./3.8.2008)

halilintar
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RE: Magersucht

Beitrag von halilintar »

und hier noch ihr "brief an die bulimie":


Liebe (verhasste) Bulimie!
Dass ich meinen Brief an dich mit „Liebe“ beginne, erfordert lediglich die
Form, denn lieb bist du ganz gewiss nicht. Ich hasse dich, denn du
machst mich kaputt und raubst mir mein Leben. Ich wünschte, ich hätte
dich niemals kennen gelernt. Doch ich habe immer nach jemandem wie
dir gesucht. Jemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Jemanden, der
immer für mich da war, wenn ich ihn brauchte. Ich fühlte mich einsam
und ungeliebt, hässlich und wertlos. Mein Leben lag brach. Du
versprachst mir deine Hilfe und ich nahm sie bereitwillig an - ohne mir
der Folgen bewusst zu sein. Doch dein Versprechen hast du nie gehalten,
nicht damals und auch nicht jetzt. Du hast dich mir heimtückisch
genähert und meine seelische Not benutzt, um mir dein Gift zu injizieren.
Mit der Zeit hast du mich immer mehr vereinnahmt, bis du schließlich die
uneingeschränkte Kontrolle über mich errungen hattest. Du lähmst mich
in all meinem Tun und Lassen. Du entziehst meiner Welt die Farben und
tunkst sie in tiefes Grau. Du hast mein gesamtes Denken und Handeln
unter deine Herrschaft gebracht und ich bin deinem Walten machtlos
ausgeliefert. Ich bin zu deiner stimm- und rechtlosen Sklavin geworden
und fühle mich wie ein getriebenes Tier – fremdbestimmt. Ich möchte
dich abschütteln, dir davonlaufen, dich vergessen, dich anschreien, dich
ertränken, dich vernichten – doch du lässt mich nicht los und ich stehe dir
macht- und kraftlos gegenüber. Du machst mich zugleich wütend und
traurig, einsam und hilflos, verzweifelt und leer.
Du beherrschst meine Sinne. Sie sind blind vor der Schönheit der Welt
geworden und nehmen nur noch eines wahr: Essen.
Ganz egal wo ich bin, egal wohin ich gehe, ich höre überall deine Stimme,
die mir immerzu dasselbe ins Ohr flüstert.
Du versprichst, dass große Mengen an Nahrung den unerträglichen
Schmerz zu lindern, und die tiefe Leere in mir auszufuellen vermoegen. Du
willst mich glauben machen, dass normale Portionen sinnlos sind, denn
sie führen unweigerlich zur Gewichtszunahme. Du kennst mich genau und
weißt, wie sehr ich mich davor fürchte. Es ist dein Druckmittel, mit dem
du mich Tag für Tag gefügig machst. Du redest so lange auf mich ein, bis
ich dir glaube und mich deiner Stimme beuge.
Für eine kurze Weile ist der Schmerz in mir tatsächlich ein wenig betäubt
und ich kann alles um mich herum vergessen. Aber du bist gemein und
hinterhältig, denn dein Versprechen hältst du nie. Am Ende lachst du mich
hämisch aus, denn die Betäubung lässt nach und ein neuer Schmerz
durchdringt meinen Körper. Mir tut alles weh. Mein Bauch droht zu
platzen und ich fühle mich elend. Aber du würdest dich nicht meine
Freundin nennen, wenn du mich mit dieser Misere alleine lassen würdest.
Du flüsterst mir zu, dass ich doch all die Kalorien einfach wieder
loswerden kann, indem ich sie wieder hochwürge und in der Kanalisation
verschwinden lasse. Und du versprichst mir, dass mit den bösen Kalorien
dann auch der ganze Schmerz endlich verschwindet. Diesmal aber
wirklich! Und wieder glaube ich dir, denn du bist eine sehr gute
überredungskünstlerin!
Aber deine Bösartigkeit kennt keine Grenzen. Denn wieder belügst du
mich. Natürlich verschwindet der Schmerz nicht. Ich fühle mich schwach
und hasse mich, denn ich habe wieder gegen dich verloren, ich habe
wieder versagt.
Jedes mal schwöre ich mir, dass es das letzte Mal war, dass ich nicht mehr
auf dich hereinfallen werde.
Doch du lauerst mir überall auf, um mich erneut zu verführen. Immer
wieder gelingt es dir, mich mit deinen falschen Versprechungen zu
ködern und ich sehe mich dir hoffnungslos ausgeliefert.
Trotz all dem Leid, das du mir bringst, bist du mir auch eine gute
Freundin, die meinen seelischen Schmerz für kurze Zeit zu lindern
vermag. Du hilfst mir, ihn zu ertragen. Du lässt mich nie im Stich und
stehst mir überall zur Seite. Wahrscheinlich hast du mir schon unzählige
Male das Leben gerettet, denn ohne dich wäre ich an meinem Schmerz
schon längst zugrunde gegangen. Du hast mich davon überzeugt, dass
ich dich brauche, dass ich ohne dich nicht mehr leben kann. Ich weiß
nicht, wie ich mich von dir lösen kann, du klammerst dich an mich und
ich mich an dich.
Meine Vernunft ist das einzige, was sich dir ein wenig zu widersetzen
vermag. Sie ist deine größte Feindin, denn sie versucht dir Einhalt zu
gebieten. Doch du hast ihr fast all ihre Kraft geraubt und mir den Kontakt
zu ihr verboten. Aber du merkst selbst, so einfach lässt sie sich nicht
vertreiben. Immer wieder sagt sie mir, dass du keine gute Freundin bist
und meine Not nur vergrößerst. Sie fleht mich an nicht auf dich zu hören
und versucht deine Versprechungen als Lügen zu enttarnen.
Jeden Tag tragt ihr immer und immer wieder einen Kampf in meinem
Inneren aus. Es ist ein wilder Kampf, der mich erschöpft. Dieser Kampf,
der in mir tobt, ist blutiger geworden, denn meine Vernunft hat an Stärke
gewonnen. Als sie am Boden lag, kraftlos und unfähig sich gegen dich zu
wehren, bat sie mich Hilfe zu suchen. Sie sagte, dass sie alles versucht
und all ihre Ressourcen verbraucht hat, um mich zu retten, aber sie war
zu schwach um dich zu vertreiben. Und ich habe ihren Hilferuf gehört.
Ich weiß, dass dich das stört und du fürchtest die Kontrolle ueber mich zu
verlieren. Aber ich fühle mich so ohnmächtig mit dem Schmerz, den du
mir aufbürdest.
Auch mein Körper stöhnt unter den Torturen, die du ihm täglich
zumutest. Noch scheint er stark genug, aber wann wird auch seine Kraft
erschöpft sein? Du entziehst ihm Nahrung, die er zum Leben braucht, du
misshandelst und folterst ihn. Und er – er lässt alles geduldig über sich
ergehen. Manchmal rebelliert er und straft mich mit Schmerzen. Es ist als
würde er mir zurufen wollen: warum tust du mir das an, warum hast du
keine Achtung mehr vor mir?
Ich hasse dich auch, weil du so furchtbar unsichtbar bist! Du zerstörst
mich von Innen, still und unbemerkt. Du willst von niemandem gesehen
werden und zwingst mich zu einem Doppelleben, das mir zuwider ist. Du
fürchtest wohl, dass du nicht mehr so frei mit mir walten kannst, wenn
jemand von dir weiß, nicht wahr?
Und es ist dir tatsächlich gelungen, mir so viel Scham und Angst
einzureden, dass ich dich verstecke. Du willst ein Geheimnis sein, das nur
wir beide teilen.
Du zwingst mich zu lügen, mich zu verstellen, und vor anderen gluücklich
und entspannt zu wirken, wenn alles in mir rebelliert und nach Hilfe
schreit. Du hast mich davon überzeugt, dass ich selbst an allem Schuld
trage, immerhin habe ich doch freiwillig den Kontakt zu dir
aufgenommen.
Doch ich will, dass du jetzt wieder verschwindest, mich in Ruhe lässt!
Ich habe große Angst, dass ich nie gänzlich den Kontakt zu dir abbrechen
können werde. Denn eines der beiden Dinge, nach denen du mich süchtig
gemacht hast, wird mich ein Leben lang begleiten: das Essen.
Es ist ein Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt.
Du hast alles kaputt gemacht! Du hast mir Liebe und Anerkennung
versprochen, wenn ich an Gewicht verliere. Du hast gelogen. Was nützt
mir meine Figur, wenn ich mich deinetwegen in der Isolation und einem
Sumpf aus Selbsthass und Selbstmitleid verkriechen muss?!? Ich will nicht
mehr bloß überleben – ich will leben!!!
Warum gehst du nicht einfach weg? Was willst du denn von mir? Warum
willst du mich vereinnahmen, als würde ich nur dir gehören und du nur
mir?!? Ich will diese traute Zweisamkeit doch gar nicht!!!
Aber du hast mir meine Sprache geraubt, hast mich verstummen lassen.
Dein Ruf ist so schlecht, dass keiner es zugeben mag, dich zu kennen. Ich
weiß, dass dir das gefällt, denn es verschafft dir alle Freiheiten dieser
Welt. Du kannst dir heimlich viele Freunde suchen, die nichts voneinander
wissen. Hinterlistig bietest du deine Hilfe an, die Lösung für viele
Probleme - dein wahres Gesicht zeigst du erst, wenn du deine Opfer
schon gefügig gemacht hast!
Und dafür hasse ich dich! Ich hasse dich für das, was du aus mir gemacht
hast!
Aber wie ich bereits erwähnte, habe ich den Hilferuf meiner Vernunft
gehört. Und ich habe mich nun entschlossen, mir tatsächlich Hilfe zu
suchen. Ich werde gegen dich kämpfen, das sollst du wissen.
Ich weiß, du wirst es mir nicht einfach machen und immer wieder
versuchen mich zu überlisten. Aber ich werde kämpfen, da kannst du
sicher sein. Hätte ich gewusst, wie schwer es ist deine Hand wieder
loszulassen, ich hätte sie nie berührt!
Deine xxx

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Re: Neurobiolgie und politische Debatte

Beitrag von Aoife »

          Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:Moral hat ihre Wurzel in körperlichen Emotionen und Erfahrungen.

D.h. die moralische Empörung z.B. gegen Fremdgehen, Mißbrauch oder Prostitution oder Kommunismus ... ist neuro-biologisch und -chemisch äquivalent dem z.B. in faules Brot oder einen verrottenden Apfel zu beißen.

Wenn einmal ein Gefühl der Abstoßung z.B. durch teuer bezahlte politische Kampagnen erzeugt werden konnte, bleibt es lange stabil und ist schwer zu ändern.
Danke, Marc, für diese interessante Info!

Und wenn moralische Abscheu auf einem bedingten Reflex beruht, der die biologische Schutzreaktion mit
Vorstellungsinhalten koppelt, so stellt sich natürlich die Frage, ob sich hier nicht ein neuer psychodynamischer
Erklärungsansatz für Bulimie finden läßt?

Zumindest in manchen Fällen wäre dann der beobachtbare Mechanismus Überessen -> Erbrechen nicht auf
der Ebene des Umgangs mit Nahrungsbedürfnissen zu sehen, sondern könnte via reframing ("Erbrechen ist doch toll")
der Ausdruck einer unbewußten Gegenwehr gegen moralische Indoktrination sein.

Was meint ihr?

Liebe Grüße, Aoife
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Marc of Frankfurt
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"Krankheit als Sprache der Seele"

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Ja, vermütlich würde Dr. Rüdiger Dahlke das auch so sehen:

Erbrechen, kotzen - etwas zum kotzen finden


viewtopic.php?p=57759#57759 (SW-only)

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Re: "Krankheit als Sprache der Seele"

Beitrag von Aoife »

          Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:Erbrechen, kotzen - etwas zum kotzen finden
Genau, und da wollte ich noch einen Schritt weiter gehen:

Mit Absicht erbrechen = Erbrechen irgendwie gut finden = Gegenwehr gegen etwas "zum Kotzen(=schlecht) finden" nur weil andere das so wollen.

Es wird also der Versuch fremdbestimmt Ekel und moralische Ablehnung miteinander zu verknüpfen dadurch unterlaufen,
dass der biologische Ekel positiv umgedeutet wird. Oder könnte zumindest fallweise so sein ... :017

Liebe Grüße, Aoife
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