Undine de Riviere: Mein Huren-Manifest, Inside Sex-Business

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deernhh
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Undine de Riviere: Mein Huren-Manifest, Inside Sex-Business

Beitrag von deernhh »

UNDINE DE RIVIERE: MEIN HUREN-MANIFEST, INSIDE SEX-BUSINESS
11. Oktober 2018 * von Stephan Schwammel *
Mein_Huren-Manifest_189543.jpg
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Eine Streitschrift zum Thema Prostitution von einer Frau, die sich im Sexarbeiter_Innen Geschaeft auskennt. Im Besonderen liegt sie im Streit mit Femnistinnen, die meinen, dass Sexarbeit eine Versklavung der Frauen bedeutet. Durch die eigenen Erfahrungen und durch den Kontakt mit Kolleginnen kommt sie zu sehr differenzierten Aussagen ueber Sexarbeit. Die unterschiedlichsten Auslebungen der Sexualitaet werden beleuchtet. Die Autorin vermeidet aber die Wertungen ueber diese Formen. Ein Buch, das hilft, Prostitution ohne Scheuklappen zu sehen und differenziert zu betrachten.

Undine de Riviere, Jahrgang 1973, wuchs in Suedwestdeutschland auf. Sie finanzierte ihr Studium mit Striptease und Prostitution und entschied sich nach abgeschlossenem Physik-Diplom fuer eine hauptberufliche Ausuebung der Sexarbeit. Als "Bizarr-Lady" leitete sie fuenfzehn Jahre lang eines der bekanntesten BDSM-Studios Hamburgs. Insgesamt arbeitet sie seit ueber zwanzig Jahren als Sexdienstleisterin. De Reviere ist Gruendungsmitglied des bundesweiten Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD), einer Interessenvertretung ehemaliger und aktiver Sexarbeiterinnen. Sie setzt sich auf lokaler und Bundesebene fuer eine Entkrimininalisierung der Rechte von Sexarbeiter_innen ein.

Ueber Prostituierte glaubt jeder Bescheid zu wissen: Huren verkaufen ihre Seele. Die meisten werden zum "Anschaffen" gezwungen. Mafioese Strukturen bestimmen das Geschaeft. Mit solchen und anderen Klischees raeumt die Sexarbeiterin Undine de Riviere auf. Sie gibt einen unerwartet differenzierten Einblick in die Welt zwischen BDSM-Studio, Laufhaus und Gangbang-Party und laesst Kolleginnen, Freier, Betreiber und Experten zu Wort kommen - offen und ehrlich. Ein Insiderbericht, wie es hinter den Kulissen eines Wirtschaftszweigs zugeht, ueber den meist nur Halbwissen und Pauschalurteile verbreitet werden - ein starker Appell fuer die Entkrimininalisierung einer umstrittenen Berufsgruppe. "Die meisten Kolleginnen, die ich kennengelernt habe, sind selbstbewusste Frauen, die sehr genau wissen, was sie wollen."
Undine de Riviere

Undine de Riviere: Mein Huren-Manifest Inside Sex-Business,
Heyne Verlag, Paperback, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-453-60472-8, € 14,99

http://www.eschborner-stadtmagazin.de/2 ... -business/

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Ursa Minor
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Re: Undine de Riviere: Mein Huren-Manifest, Inside Sex-Business

Beitrag von Ursa Minor »

Danke @ Deernhh für das Posting!

Hier noch ein Interview mit Undine de Riviere.


"Viele Sexarbeiterinnen arbeiten selbstbestimmt"
07. Juli 2018 Reinhard Jellen

Undine de Rivière über Sexarbeit in Deutschland
Die Dienstleister des horizontalen Gewerbes könnten als eine Art sexueller Pflegekräfte anerkannt werden, tatsächlich werden sie aber durch eine Reihe von staatlicher Schutzmaßnahmen entmündigt und gegängelt - so argumentiert Undine de Rivière in ihrem Buch "Mein Hurenmanifest". Telepolis sprach mit der Autorin. Teil 1 des Interviews.
Frau de Rivière, Sie argumentieren in Ihrem Buch gegen die Stigmatisierung der Prostitution, dass die normale Erwerbstätigkeit so frei gar nicht wäre und überwiegend Elemente einer Notlösung zur Sicherung der Existenz in sich berge. Ist also die freie Lohnarbeit eine Form der Prostitution? Wie würden sie den Unterschied von freier Lohnarbeit und Prostitution beschreiben?
Undine de Rivière: Ich persönlich finde in der Sexarbeit mehr Freiheit und kenne viele Sexarbeiterinnen, die gerade diese Freiheit, die Selbständigkeit und die Flexibilität in ihrem Beruf sehr schätzen. Andererseits kenne ich auch Menschen, die mit diesem Job nicht besonders glücklich sind, weil sie sich nicht selbst verwirklichen können. Wie andere Leute in anderen Berufen auch, die eben ihren Job machen - die Geld verdienen, um zu überleben.
Ich glaube, das ist leider, so wie unsere Gesellschaft strukturiert ist, derzeit der Normalzustand. Ich finde vor allem wichtig, dass man in der Sexarbeit keine anderen Maßstäbe ansetzt, als bei anderen Berufen. Dass ein Unterschied gemacht wird; zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung.
Oft werden nur die sogenannten glücklichen Huren von denjenigen abgegrenzt, die ausgebeutet oder gezwungen werden. Das große Mittelfeld von Sexarbeiterinnen, deren Arbeitszufriedenheit mit den konkreten Umständen zusammenhängt - also wie viel Geld verdient wird, ob man angenehme oder unangenehme Kunden hat, wie die kollegiale Zusammenarbeit ist, wie die Vermieter drauf sind - fällt völlig unter den Tisch. Ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, in der niemand gezwungen ist, für Geld Dinge zu tun, die ihm gegen den Strich gehen. Das gilt für die Sexarbeit genauso wie für andere Berufe.
Kennen Sie zufälligerweise das Lied "We Are All Prostitutes" von der Pop Group?
Undine de Rivière: Nein, das kenne ich nicht.
Würden Sie dieser allgemeinen These zustimmen?

Undine de Rivière: Das hängt davon ab, was unter Prostitution verstanden wird: Ursprünglich bedeutet der Begriff "die Preisgegebene". Es geht also um jemanden, der zur Schau gestellt und vermietet wird. Bei der Leiharbeit könnte man schon sagen, dass das irgendwie hinkommt. Dagegen arbeiten viele Sexarbeiterinnen selbstbestimmt, sie werden nicht von jemandem vermietet und zur Schau gestellt. Sie sind selbst handelnde Subjekte. Insofern weiß ich nicht, ob uns der inflationäre Begriff der Prostitution hier so viel weiter bringt. Ich finde, wir sollten ihn durch "Sexarbeit" ersetzen.
Sie sind studierte Physikerin. Was sind die Vorteile und Nachteile von Ihrem Beruf verglichen mit den herkömmlichen Formen von Lohnarbeit?
Undine de Rivière: Ich schätze die Selbstständigkeit. Ich habe in meinem Leben noch nie angestellt gearbeitet und möchte das auch nicht. Allerdings könnte ich mir schon vorstellen, künstlerisch oder wissenschaftlich tätig zu sein. So bin ich froh, eine Tätigkeit auszuüben, bei der ich selbst entscheide, was ich mache, und bei der es mich freut, meine Gäste glücklich machen zu können.
Das ist etwas anderes, als mit einem 9 to 5-Job in einer Mühle gefangen zu sein, ein Drittel der Lebenszeit abzusitzen und darin keinen anderen Sinn zu sehen, als das Überleben abzusichern. Das finde ich ganz traurig. Ich fände es schöner, wenn die Leute sich in dem, was sie tun, selbst verwirklichen können. Das mag auch in der Lohnarbeit möglich sein - aber ich bin dafür nicht geeignet, genauso wenig, wie jeder für Sexarbeit geeignet ist.

Hat Sexarbeit für Sie etwas Künstlerisches?
Undine de Rivière: Es hat auf alle Fälle Elemente davon. Manchmal mache ich so etwas wie Improvisationstheater für einen Zuschauer, der gleichzeitig auch Mitspieler ist. Im kreativ-sexuellen Bereich geht es oft um Rollenspiele und Fetische, das hat viel mit Inszenierung zu tun. Und im Endeffekt sind alle Sexarbeiterinnen Künstlerinnen der Selbstinszenierung. Sexarbeit hat oft künstlerische und therapeutische Elemente, deshalb halte ich es nur für angemessen, dass Sexarbeit endlich als Freiberuf anerkannt wird, wie Künstler, Therapeut oder Journalist.
Was hat Sexarbeit mit Kapitalismus zu tun?
Undine de Rivière: Na ja, wir befinden uns innerhalb eines kapitalistischen Systems und es wird eine Dienstleistung gegen Geld getauscht.
Kann es nicht sein, dass die Menschen im Kapitalismus ein eigenes kommerzielles Feld der Sexualität brauchen, weil sie das im Alltag nicht mehr finden?
Undine de Rivière: Wie meinen Sie das?

"Eine Sache der Bequemlichkeit"
Die Menschen haben keine Zeit mehr, normale Beziehungen aufzubauen - oder die normalen Beziehungen sind so sehr mit Arbeit überlastet, dass sie sich sexuelle Inseln schaffen müssen …
Undine de Rivière: Klar. Es gibt Menschen, die die Sexarbeit privaten sexuellen Beziehungen vorziehen, weil sie unkompliziert ist und allen Beteiligten von vorn herein klar ist, wie der Deal läuft. Es gibt sogar Menschen, die einen Rotlicht-Fetisch haben, die den Umstand, dass das Ganze gegen Geld stattfindet, erotisierend finden, die also bevorzugt Sexarbeiterinnen aufsuchen.
Genauso gibt es Sexarbeiterinnen, die den Job gerne machen, weil er etwas gesellschaftlich Abseitiges, Verruchtes, Subversives hat, wobei ich niemanden kenne, der dieses Stigma nicht trotzdem lieber los wäre. Aber für beide Seiten gibt es so etwas wie den Reiz des Verbotenen.
Außerdem ist es auch eine Sache der Bequemlichkeit: Wenn jemand gerade Lust auf Sex hat, aber keinen Partner oder keine Partnerin vor Ort, kann man relativ unkompliziert seine Sexualität ausleben. Das geht zwar auch auf anderen Wegen, aber selten so einfach wie in der Sexarbeit.
Sie schreiben, dass der ungebremste Kapitalismus für Ihre Branche ein Problem darstellt. Inwiefern?
Undine de Rivière: Bei Sexdienstleisterinnen handelt es sich um eine Gruppe international hochmobiler Selbstständiger: Wir haben das Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern, unterschiedliche kulturelle Einflüsse. Schon bei lokal arbeitenden Angestellten ist es schwer genug, einen Mindestlohn einzuführen - und bei uns ist es umso schwieriger, so etwas wie einen vernünftigen Marktpreis durchzusetzen. Manche Kolleginnen beschweren sich, dass es einen Preisverfall gibt, weil der Markt zu groß wird. Allerdings habe ich auch nicht das Gefühl, dass der Lebensstandard derzeit für die Bevölkerungsmehrheit steigt.

"Patriarchale Angst vor der ungezügelten weiblichen Sexualität"
Aus welchen Komponenten setzt sich das unvorteilhafte Bild der Sexarbeit zusammen?
Undine de Rivière: Früher wurde mit der Gesellschaftsschädigung durch Sexarbeiter argumentiert, weil die Ehe, die gesellschaftsstabilisierend wirkt, unterminiert wird. Das ist aus Sicht von Staat und Kirche, die die Sexualität der Menschen kontrollieren und sanktionieren, auch nachvollziehbar. Sexarbeiterinnen entziehen sich dieser Kontrolle und stiften angeblich auch ihre Kunden dazu an.
Heute ist diese Argumentation nicht mehr so einfach, weil Sexualität grundsätzlich nicht mehr so stark reguliert wird. Die Leute müssen nicht mehr heiraten, um miteinander Sex haben zu dürfen. Aber die Angst vor der ungezügelten Sexualität von Sexarbeitenden ist immer noch vorhanden.
Ich habe mir schon von radikalfeministischer Seite sagen lassen: Wieso soll sich mein Partner noch mit der Beziehung auseinandersetzen, wenn er einfach in den Puff gehen kann, wenn man nervt? Da steckt aber ein ganz schreckliches Beziehungsbild dahinter, denn wenn die Kontrolle über den Zugang zu einem weiblichen Körper das Einzige ist, was ich dem Partner zu bieten habe, dann hat das nichts mit einer Begegnung auf Augenhöhe zu tun.
Andererseits gibt es von patriarchaler Seite die Angst vor der ungezügelten weiblichen Sexualität. Das Kuppeleiprivileg von Staat und Kirche existiert außerdem in verminderter Form immer noch. Die Angst vor Kontrollverlust wird auf uns projiziert und auf unseren Rücken ausgetragen.
Es könnte aber auch sein, dass es einfach nicht sein kann, dass jemand zugibt, dass es Spaß macht, gegen Geld mit jemandem zu schlafen?
Undine de Rivière: Klar - aber die Frage ist doch, warum es nicht Spaß machen darf. Offensichtlich macht das Angst und ist nicht akzeptabel. Ich kann da auch nur spekulieren.

"Die Sexarbeiterin hat die Macht"
Wie würden Sie generell das Verhältnis zwischen Prostituierten und den Freiern beschreiben?
Undine de Rivière: Das ist ganz unterschiedlich. Die Leute, die zu uns kommen, sind der gesellschaftliche Durchschnitt. Den Freier unterscheidet also nichts von anderen Männern (oder Frauen), außer dass er eine sexuelle Dienstleistung in Anspruch nimmt. Es gibt Beziehungen zwischen Sexdienstleistenden und ihren Kunden, die allen Beteiligten gut tun - und es gibt dysfunktionale Beziehungen.
Es gibt Machtgefälle in die eine oder die andere Richtung: Es gibt Sexworker, die am Rande des Existenzminimums leben und sich von ihren Kunden ausbeuten lassen - und es gibt umgekehrt Freier, die sich von den Sexarbeiterinnen ausnehmen lassen wie Weihnachtsgänse.
In den Sparten der Sexarbeit, in denen es nicht um Stammkundschaft geht, kommt auch Betrug vor. Das lässt sich gar nicht über einen Kamm scheren. Im Endeffekt ist es so, dass in unserer Branche nach wie vor Vorkasse stattfindet - und wenn das Geld einmal bezahlt ist, hat die Sexarbeiterin die Macht: Denn sie kann jetzt nur Dienst nach Vorschrift oder nicht einmal Dienst nach Vorschrift machen. Die gelungenen Beziehungen sind die, bei denen am Ende beide Seiten zufrieden sind. Bei mir und vielen meiner Kolleginnen ist das der Normalfall.
Sie würden sagen, dass Sexarbeiterinnen Spaß bei ihrer Arbeit haben?
Undine de Rivière: Viele, aber sicherlich nicht alle. Es wäre natürlich völlig illusorisch, dass sich jede Sexarbeiterin bei jeder ihrer Dienstleistung selbst verwirklichen kann, aber ich habe das auf jeden Fall und ich kenne viele Kolleginnen, denen es ebenso geht.

https://www.heise.de/tp/features/Viele- ... 43589.html



"Wir brauchen keine Rettung, wir brauchen Respekt"
08. Juli 2018 Reinhard Jellen

Anders als die ekstatische Käuflichkeit etwa von Politikern und Journalisten wird die Sexarbeit immer noch in die Schmuddelecke abgedrängt. Undine de Rivière plädiert in ihrem Buch "Mein Hurenmanifest" für einen lockeren und rechtlich abgesicherten Umgang. Teil 2 des Interviews.

Frau de Rivière, bei wie vielen Sexarbeiterinnen gehen Sie von Menschenhandel und Zwangsverhältnissen aus?
Undine de Rivière: Ich habe das in meinem Buch anhand eines Zahlenbeispiels durchgerechnet: Jedes Jahr meldet das BKA mehrere hundert Verdachtsfälle von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Zuhälterei, also der sogenannten Rotlichtkriminalität. Gerichtlich bestätigt werden davon jährlich unter hundert. Das BKA kann ja so viele Verdachtsmomente melden, wie es will - relevant sind tatsächliche Verurteilungen. Dann wird immer mit einer riesigen Dunkelziffer argumentiert, für die es aber keine Studien gibt und für die auch keine Studien geplant sind.
Ich habe mir überlegt, ob sich diese mit der Dunkelziffer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung vergleichen lässt - also schwere Verbrechen, die ähnlich schambehaftet sind und oft nicht angezeigt werden. Dazu gibt es Forschung, da haben wir eine Aufklärungsquote von fünf Prozent. Also auf eine Verurteilung kommen zwanzig Fälle, die tatsächlich passiert sind. Wenn wir das auf die Sexarbeit übertragen, kommen wir bei hundert Fällen, die gerichtlich bestätigt worden sind, auf 2000 tatsächliche Fälle pro Jahr.
Wir wissen nicht genau, wie viel Sexarbeit es in Deutschland gibt. Schätzungen gehen von 47.000 bis 400.000 Sexdienstleistenden aus. Gehen wir der Einfachheit halber einmal von der Zahl in der Mitte, von 200.000 aus. Bei 2.000 Fällen von sexueller Ausbeutung jeglicher Couleur sind also ein Prozent der Sexarbeiterinnen betroffen. Das finde ich nicht unplausibel, und das ist weit von der propagierten Zahl von 90 Prozent Zwangsprostitution entfernt.
Lebt man diesbezüglich in Deutschland eventuell auf der Insel der Glückseligen? In England gab es in Kleinstädten wie Rotherham pakistanische Gangs, die Minderjährige zwangsprostituiert haben …
Undine de Rivière: Es sagt ja keiner, dass diese Fälle gar nicht vorkommen - nur eben längst nicht so oft, wie behauptet wird. Natürlich ist hier jeder Fall einer zu viel, aber die Presse nimmt sich dieser Problematik sehr gern an, weil von sexualisierter Gewalt gerne gelesen wird. Das hat nichts damit zu tun, wie oft diese Fälle tatsächlich vorkommen oder ob diese Form von Berichterstattung überhaupt nottut.

"Eine Verpflichtung ist völlig unsinnig"
Was halten Sie von der Kondompflicht?
Undine de Rivière: Ich halte grundsätzlich viel davon, dass Kondome in der Sexarbeit verwendet werden. Genauso wie bei anderen Menschen, die den Status an sexuell übertragbaren Infektionen bei ihrem Gegenüber nicht kennen. Ich halte aber einen Zwang oder eine Verpflichtung für völlig unsinnig.
Wenn man sich zum Beispiel die bayerische Hygieneverordnung und wie sie umgesetzt wird ansieht, leuchtet die Polizei bei ihren Razzien gerne mal mit der Taschenlampe auf die Genitalien, um festzustellen, ob der Kondompflichtverordnung auch Genüge getan wurde. Das ist absolut inakzeptabel, weil es die Privatsphäre der Beteiligten verletzt. So etwas lässt sich nicht unter menschenwürdigen Bedingungen nachprüfen.
Viel wichtiger ist die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, die aber über Freiwilligkeit und Aufklärung funktioniert. Wir haben in Deutschland sowohl mit die niedrigste HIV-Rate als auch die niedrigste Rate bei anderen sexuellen Infektionen in Europa. Die freiwillige und anonyme Aufklärungsarbeit der HIV-Beratungsstellen und Gesundheitsämter hat wahnsinnig gut gegriffen, das funktioniert wunderbar. Es gibt nur nicht genug Gelder, um dies flächendeckend umzusetzen. Dafür ist aber jetzt Geld da, um diese Zwangsmaßnahmen durchzusetzen - das ist völlig absurd.

"Grundrecht außer Kraft"
Wie hat man sich diese Razzien vorzustellen, passieren die oft und sind die dann brutal?
Undine de Rivière: Das kommt auf das Bundesland an und darauf, wer an den verantwortlichen Stellen sitzt. In der Hälfte der Bundesländer hat die Polizei ein anlassunabhängiges Kontrollrecht an allen Orten, an denen Sexarbeit stattfindet. Nach dem neuen Prostituiertenschutzgesetz hat die zuständige Behörde (die oft die Polizei selbst ist) außerdem auch Zugang zu Privatwohnungen, in denen der Sexarbeit nachgegangen wird. Damit wird unser Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung außer Kraft gesetzt. Das wäre mit einer Einbindung von Sexarbeit in das ganz normale Gewerberecht nie möglich gewesen.
Die Razzien werden teilweise mit Waffen und Hunden durchgeführt, man fällt in voller Montur zu jeder Tages- und Nachtzeit ein. Teilweise auch schlicht und einfach deswegen, um zu üben: Wir haben in einigen Fällen mitbekommen, dass bei der Gelegenheit Polizeischüler ausgebildet werde, weil das Rotlichtmilieu so schön harmlos ist im Vergleich zur organisierten Kriminalität.
Teilweise sind die Razzien auch Schikane: Beispielsweise in München nutzt die Polizei regelmäßig - also ein- bis zweimal die Woche - ihr anlassunabhängiges Kontrollrecht, um Bordelle aufzusuchen, dort einzufallen, teilweise die Tür aufzubrechen, wenn nicht geöffnet wird, und dort den Betrieb aufzumischen. Dort wird den Betreibern erklärt, dass, wenn sie die Mieterinnen proaktiv bei der Sitte vorbeischicken, um dort die Personalien aufnehmen zu lassen, die Razzien nur mehr zweimal im Monat durchgeführt würden.
Dadurch ist die Registrierung von Sexarbeitenden in München seit Jahrzehnten weitgehend durchgesetzt. Sollte sich herausstellen, dass der Betreiber Mieterinnen akzeptiert, die nicht bei der Sitte registriert sind, wird dann wieder öfter eine Razzia durchgeführt. Diese Registrierung führt übrigens nicht dazu, dass es weniger Fälle von Menschenhandel oder Ausbeutung gibt. Aber das anlassunabhängige Kontrollrecht führt dazu, dass wir wie Verbrecher behandelt werden.

"Verschiedene Vorteile"
Was ist Ihre Meinung zu Flatrate- und Gang-Bang-Parties? Ist das nicht eher eine derbe bis fiese Angelegenheit?
Undine de Rivière: Ich persönlich finde das eine ganz angenehme Art zu arbeiten, ich mache das auch gelegentlich. Und ich kenne Kolleginnen, die ausschließlich so arbeiten wollen, denn es hat verschiedene Vorteile: Zum einen muss man mit dem Kunden nicht selbst verhandeln, man bekommt ein festes Tageshonorar, unabhängig davon, wie viel gerade los ist. Es gibt also ein geringeres unternehmerisches Risiko. Zum anderen ist der Zusammenhalt und die Kollegialität unter den dort tätigen Sexarbeitenden allgemein höher, weil die Konkurrenz wegfällt.
Man muss sich auch nicht vorstellen, dass man mit zig Männern Stunde um Stunde durchvögelt, sondern es werden zum Beispiel Shows geboten: Dort stehen dann zwanzig Männer um eine Stripperin herum, eine Assistentin holt fröhlich fünfzehn davon einen runter, worauf die für die nächste Stunde außer Gefecht gesetzt sind. Außerdem läuft auch sehr viel nicht über direkten Geschlechtsverkehr, sondern über Zuschauen, es sind dort sehr viele Voyeure unterwegs. Flatrate-Clubs leben von männlicher Selbstüberschätzung: Man dürfte zwar zehnmal, kann aber nur zweimal. Es ist also ganz angenehm, so zu arbeiten und viel viel zahmer, als man es sich vorstellt.
Bedauerlicherweise ist in diesem Bereich viel Schaden durch geschmacklose Werbung entstanden: Wenn halbnackte Sexarbeiterinnen in den Fußgängerzonen "All You Can Fuck"-Flyer verteilen, muss man sich nicht wundern, wenn die Leute das dort nicht so lustig finden, weil es dort fehl am Platz ist. Teilweise wird auch eine Sprache verwendet, die einfach menschenverachtend ist.
Vieles an Werbung in der Sexarbeit finde ich persönlich übrigens völlig daneben, andererseits aber auch verständlich: Werbung appelliert immer an Gefühle, nicht an den Intellekt. Und wenn es um sexuelle Dienstleistungen geht, erwischt man die Kundschaft eher mittels dirty talk als über eine nüchterne Schilderung des Serviceangebots.
Die Arbeitsweise bei Gang-Bang-Parties hat also Vor- und Nachteile - und für manche Kolleginnen bietet sie eben mehr Vorteile. Wichtig ist der Erhalt der Vielfalt verschiedener Arbeits- und Abrechnungsformen, so dass sich jede Sexarbeiterin selber aussuchen kann, wie sie gerne arbeiten möchte.

https://www.heise.de/tp/features/Wir-br ... 43585.html

Siehe auch:
viewtopic.php?f=30&t=14096

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lust4fun
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Re: Undine de Riviere: Mein Huren-Manifest, Inside Sex-Business

Beitrag von lust4fun »

Podcast mit Undine de Rivière
Zeit Online, 10.10.23
29 Min
Von Elise Landschek

„Undine de Rivière ist hauptberuflich Domina. Im Podcast erzählt sie, dass es ihren Kunden oft um Nähe geht – und welche Vorurteile über ihren Job sie am meisten nerven.“

https://www.zeit.de/arbeit/2023-10/undi ... it-podcast