Geschichte des Todes

Buchtips für Sexworker oder von Sexworkern
Benutzeravatar
nicole6
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 2333
Registriert: 11.09.2009, 13:01
Wohnort: München
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

Geschichte des Todes

Beitrag von nicole6 »

Geschichte des Todes. Von Philippe Aries, dtv, 1972, 836 Seiten.

Keine Sorge! Ich werde hier nicht den Inhalt des Buches vorstellen,
da das Thema "Tod" wohl weniger im Interesse des Forums steht,
wenn auch interkulturell gesehen, Sex & Tod seit Menschengedenken
ein Binom darstellen!

Das Buch ist mit über 800 Seiten fast so dick wie eine Bibel.
Eine Aussage im Buch erscheint mir für das Forum sehr interessant.
Bis zum 17. Jahrhundert hatten die Friedhöfe eine völlig andere
Funktion wie heute. Die Diskrepanz kann nicht größer sein!

Wir alle kennen den Brauch des Jahrmarktes, des Volksfestes, wo sich
die Bevölkerung an einem Platz trift, wo Waren verkauft werden,
wo Musik spielt, wo getanzt wird, man isst und trinkt, ist fröhlich,
macht Geschäfte, Jugendliche treffen sich, suchen Affären mit
dem anderen Geschlecht.
Der Platz an dem dies bis zum 17. Jh. in fast ganz Europa
stattfand, war der..... Friedhof!

Der Friedhof hatte aber auch eine andere Funktion, von welcher
der Name abstammt: er war ein juristisch unverletzlicher
Asylraum! Die Mauer um den Friedhof waren die Grenzen des
Asyls. Wer etwas ungesetzliches tat, und sich in den Friedhof
flüchtete, konnte dort nicht belangt werden! Man kann es heute
damit vergleichen, dass jemand in der Botschaft seines Nationalität
Zuflucht sucht. Das Wort "Umfriedung" hat die gleiche Wurzel!

Durch die Funktion als sozialer Treffpunkt der bäuerlichen und
städtischen Gemeinschaft war der Friedhof auch der Ort, wo
professionelle und gelegentliche Sexarbeiterinnen ihre Kunden
suchten und fanden. Und das Geschäft wurde auch gleich dort
abgewickelt!

Wie beliebt der Friedhof in der Funktion als "Vergnügungspark"
gewesen war, zeigt sich in einem Dekret vom Konzil von Rouen,
das 1231 verkündet wurde, und in dem Musik, Tanz und Sex
auf dem Friedhof bei der Strafe von Exkommunikation verboten
wurde!

Dass niemand dieses Dekret beachtete, sieht man daran, dass
es 1405 wiederholt wurde. Im einzelnen betraf das Verbot die
Aktivitäten auf den riedhof von:
"Tanz, Spiele aller Art, Pantomime, Masken tragen, Gauklerspiele
und Prostitution"!

Doch auch das Dekret von 1405 nützte nichts! Bis zum Ende des
17.Jh. und Anfang des 18.Jh. fand man in Friedhöfen eine Art
Ladenstraße mit Buchhändlern, Krämern, Näherinnen. Da es in
den Friedhöfen natürlicherweise auch Knochenhäuser gab, erhielten
diese oft den Namen der Bude die davor stand. So gibt es heute
noch das "Beinhaus der Weißnäherinnen", oder das "Beinhaus
der Schreiber".

Exkommunizierte Verstorbene durften nicht auf dem Friedhof
der Gemeinde beerdigt werden, sondern mussten auf dem Feld
irgendwo verscharrt werden. Eine Ausnahme genehmigte die
Kirche, wenn die Familie des Exkommunizierten reich war, und die
Kirche mit viel Geld bestechen konnte. Dann wurde ein Kompromiss
gefunden der darin bestand, dass für ein Jahr der Sarg auf dem
Friedhof deponiert werden konnte, und nach dem Ablauf der 12
Monate in die Erde versenkt wurde. Der "Parkplatz" des Sarges
war meist eine Astgabel eines hohen Friedhofsbaumes.

Aus heutiger Sicht erscheint das recht surreal! Paysex im Friedhof
unter dem Schatten eines Baumes, oben, zwischen den Ästen,
schweben Särge mit verwesten Leichen, ein paar Meter weiter,
im (g)leichen Friedhof, munteres (T)reiben mit Musik, Tanz, Wein,
und umtriebigen Geschäften!

Diesen geschichtlichen Rückblick wollte ich den Besuchern
dieses Forums nicht vorenthalten!

Nicole