Doppelmoral: Die Presse und das horizontale Gewerbe

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nina777
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Doppelmoral: Die Presse und das horizontale Gewerbe

Beitrag von nina777 »

Doppelmoral: Die Presse und das horizontale Gewerbe

"16-jähriger vergewaltigt Hure Alexa" - "So zocken die Luden die Kiez-Huren ab" - "Unsere neue Nachbarin ist eine Hure" - So mitfühlend berichten "Bild", "Hamburger Morgenpost" und andere Boulevardblätter über das "schmutzige Geschäft Prostitution". Immer moralisch, mitfühlend, voller Empörung. Doch im Anzeigenteil ändert sich die Tonlage. Hier inseriert "Jana, gerade 18, unerfahren und eng" oder die "geile, rassige Sarah", "preiswerte" Polinnen und echte "Spritzluder". Hier moralischer Zeigefinger, dort knallharte Sexwerbung. Denn diese Anzeigen sind ein lukratives Geschäft. Der deutsche Werberat sieht keinen Handlungsbedarf, die Polizei übt oft Nachsicht. Zapp über die Doppelmoral, die Boulevardblätter im Umgang mit dem horizontalen Gewerbe an den Tag legen.

Anmoderation:
Guten Abend oder, je nachdem: guten Morgen bei Zapp im Ersten. Das gekaufte Paradies - wie sich Reisemagazine ihre Artikel bezahlen lassen. Und: überhöhte Preise - wie die NPD die Presse bei Immobiliendeals benutzt. Das sind gleich unsere Themen. Doch zunächst : Die verkaufte Moral. Dass man mit Sex Geld machen kann, ist wohl kein Geheimnis. Auch nicht in den Medien. Und deshalb brüsten sich Boulevardzeitungen gerne mit nackten Tatsachen: Sie verdammen die Prostitution, kämpfen für Recht und Ehre von Huren. Im Kleingedruckten geht’s dann allerdings im gleichen Blatt knallhart zur Sache. Kathrin Becker über die Doppelmoral, die Boulevardblätter im Umgang mit dem horizontalen Gewerbe an den Tag legen.

Beitragstext:
Deutschlands Boulevardzeitungen: Sie erreichen jeden Tag viele Millionen Leser. Denen erklären sie die Welt, kennen Gut und Böse. Und sie kümmern sich um die Opfer des Rotlichtmilieus. Wie hier in Hamburg: In diesem Haus soll eine Modellwohnung sein, Freier ein- und ausgehen. Nachbarn beschweren sich. BILD nimmt sich des Falls an, schlägt Alarm: "Unsere neue Nachbarin ist eine Hure". Der Boulevard im Puff-Schock. Und auch hier Empörung: "so kassieren Luden die Kiez-Huren ab". Mitfühlend berichten die Zeitungen über das "schmutzige Geschäft Prostitution". Immer moralisch, immer verständnisvoll.

Millionengeschäfte mit Sexanzeigen

Ein paar Seiten weiter: Plötzlich ändert sich die Tonlage. Knallharte Sexwerbung, auch für Modellwohnungen wie die in Hamburg: "naturgeile Mundexpertin", "verdorbenes Girl" , "blonder Teeny"" - sie alle dürfen hier ihre Dienste anbieten. Für die Verlage ein lohnendes Geschäft. Die Anzeigen sind teuer, liegen etwa zwölf Prozent über dem normalen Annoncenpreis. Ein Inserat wie dieses kostet mindestens 80 Euro am Tag. Dieser Markt ist ein Millionengeschäft. Prof. Christian Schicha, Kommunikationswissenschaftler: "Diese Inserate sind natürlich von zentraler Bedeutung für derartige Zeitungen, einfach aus diesem Grunde, weil sie durch ihre regelmäßigen Anzeigen dazu beitragen, dass entsprechend Geld reinkommt. Zeitungen haben ja insgesamt das große Problem, dass die Anzeigenerlöse zurückgehen, die Auflagen-Erlöse zurückgehen, und kaum ein Bereich ist so sicher wie diese Sexanzeigen."

Werbung als Auswertequelle

Gerne hätte Zapp mit den Verantwortlichen über die lukrativen Sexanzeigen gesprochen. Doch keine der angefragten Boulevardzeitungen war dazu bereit. Nur Absagen. Vielleicht aus diesem Grund: Sexwerbung ist eigentlich verboten - es drohen Geldstrafen. Doch die Polizei duldet den Markt, nutzt ihn sogar für ihre eigene Ermittlungen. Detlef Ubben, Polizei Hamburg: "Nach wie vor ist es verboten, sprich ne Ordnungswidrigkeit, allerdings haben wir das Opportunitätsprinzip, das heißt also wir können, wir müssen nicht dagegen einschreiten, im Gegensatz zu Strafverfahren zum Beispiel. Und hier macht es einfach Sinn, die Werbung zuzulassen so wie sie besteht, weil das eine wesentliche Auswertequelle ist für uns, wo Prostitution stattfindet. Wo wir potentielle Opfer von Menschenhandel antreffen können." Für die Polizei in Hamburg sind die Anzeigen Gold wert: bekommen die Beamten doch ohne Aufwand wichtige Adressen im Milieu. Detlef Ubben: "Wir fahren hin, klingeln ganz offensiv als Polizei, suchen das Gespräch mit den Frauen, versuchen sie davon zu überzeugen, dass wir also auf der guten Seite stehen, und für den Fall, dass sie Hilfe brauchen, dass wir die Richtigen sind, bei denen sie Hilfe bekommen."

Frauen zum Objekt degradiert

Die Polizei feiert diese Strategie als Erfolg. Behauptet, auf diesem Weg oft Frauen aus der Zwangsprostitution zu befreien. Ulrike Gatzke, Koordinationsstelle gegen Menschenhandel: "Das ist aber unserer Erfahrung nach eher die Ausnahme, weil diese Appartements, die in den Zeitungen Anzeigen schalten, natürlich schon auch recht öffentlich sind, und von daher ja auch befürchten müssen, dass sie eher aufliegen oder dass das eher öffentlich würde." Dem Leser öffnet sich die ganze Bandbreite der Sexwerbung - in aller Deutlichkeit. Er wird konfrontiert mit Praktiken und Details. "Jana, gerade 18, unerfahren und eng". Prof. Christian Schicha: "Ich bin sehr erstaunt, dass es keine Institution gibt, die sich stört, wir haben ja ne ganze Reihe von Medienselbstkontrollinstanzen, also unter anderem auch den Werberat, der auch in seinen Richtlinien entsprechend darauf hingewiesen hat, dass Frauen beispielsweise nicht zum Objekt degradiert werden sollen." Der Deutsche Werberat, Selbstkontrollinstanz der Werbung. Er könnte in solchen Fällen Rügen aussprechen, findet die Anzeigen aber gar nicht problematisch. Volker Nickel, Sprecher Deutscher Werberat: "Der deutsche Werberat ist ja keine Zensurbehörde, sondern wir geben den Menschen in der Republik die Möglichkeit, sich über Wirtschaftswerbung zu beschweren, und davon wird dann natürlich auch Gebrauch gemacht. Wenn aber jemand seine Dienste anbietet, in einer Sprache, aus denen man als Leser der Anzeige Rückschlüsse ziehen kann, dann muss man abwägen: Ist dies tatsächlich eine Form, die nicht in die Öffentlichkeit gehört?"

Kein Handlungsbedarf hinsichtlich Jugendschutz

Bisher gab es noch nie ein Rüge des Werberats zu den Sexanzeigen. Trotz der heftigen Formulierungen. Zapp Reporterin: "Wie sehen sie das denn in punkto Jugendschutz. Ist der nicht betroffen, wenn Kinder so Formulierungen lesen wie ‚dreilochbegehbar’?" Volker Nickel: "Naja, es wäre schon schön, wenn mehr Kinder Zeitung läsen und auch die Anzeigen läsen, aber Kinder haben für solche Anzeigenteile kaum Interesse und außerdem: Insgesamt darf man, glaube ich, den moralischen Zeigefinger nicht zu hoch stellen wenn es um Jugendliche geht, stellen sie sich mal für fünf Minuten auf einen Schulhof, und hören sie wie Kinder und Jugendliche reden." Kein Handlungsbedarf in Sachen Boulevardzeitungen. Weder beim Werberat, noch bei der Polizei. Detlef Ubben: "Die Frage ist, ob der Jugendliche, und es geht um Jugendschutz, um Kinder- und Jugendschutz, ob der Jugendliche oder das Kind tatsächlich was mit diesen Formulierungen anfangen kann, Prostitution ist ne Dienstleistung, da muss auch für geworben werden, und wenn bestimmte Dienstleistungen angeboten werden, dann soll der Freier ja auch wissen was ihn da erwarten kann. Es soll nicht so offensichtlich sein."

"Papst oder Porno-Anzeigen"

Schweigen auf allen Seiten, niemand fühlt sich zuständig, niemand greift ein. Und das scheinheilige Geschäft geht weiter: vorne bedauert die Zeitung das Schicksal der Prostituierten, innen verdient sie damit Geld. Besonders "Bild" stilisiert sich gern zum Heilsbringer, brachte vor wenigen Jahren die so genannte ‚Volksbibel’ auf den Markt. Privataudienzen beim Papst wurden ganzseitig gefeiert. Chefredakteur Kai Diekmann war sich für große Wort nicht zu schade: Zitat: "Mit über 12 Millionen Lesern täglich ist uns auch die Verbreitung der christlichen Glaubensbotschaft ein ernstes Anliegen". Prof. Christian Schicha: "Es ist natürlich keineswegs glaubwürdig, wenn einerseits mit erhobenem Zeigefinger versucht wird, christliche Werte zu postulieren und auf der anderen Seite eben entsprechend mit solchen Anzeigen zu werben. Das passt alles vorne und hinten nicht zusammen und die Bildzeitung sollte sich vielleicht einfach entscheiden, ob sie lieber Papst sein möchte oder lieber Pornoanzeigen produziert." Ergreifend zeichnet "Bild" das Schicksal einer Zwangsprostituierten, berichtet von ihren "skrupellosen Mädchenhändlern".
Kartell des Schweigens

"Bild" veröffentlicht in dem Artikel auch die Sexanzeigen, mit denen für sie und andere Frauen geworben wird. Von den eigenen Anzeigengeschäften - kein Wort. Stattdessen immer nur Klischees über Prostituierte in den Artikeln. Ulrike Gatzke : "Mich ärgert das immer. Also jedes Mal wenn ich das sehe, weil es für uns die Arbeit einfach schwierig macht und weil wir dann zum Teil von Journalistinnen oder Journalisten wirklich hören, das kann ich so nicht bringen, weil das glaubt mir niemand. Oder das werden mir die Zuschauer, Zuhörer, wie auch immer, nicht glauben, und deshalb mache ich das nicht." Sexanzeigen und das Geschäft mit der Lust. Es ist ein Kartell des Schweigens - die Inserate werden toleriert, niemand mischt sich ein, und die Verlage machen weiter das große Geschäft, machen weiter mit ihrer Doppelmoral.

http://www3.ndr.de/ndrtv_pages_std/0,31 ... 88,00.html


NDR Fehrnsehen Link:

Doppelmoral: Die Presse und das horizontale Gewerbe

http://www3.ndr.de/ndrtv_pages_video/0, ... nt,00.html
I wouldn't say I have super-powers so much as I live in a world where no one seems to be able to do normal things.