Die sog. lex Heinze und die Debatten im Reichstag ab 1898

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ehemaliger_User
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Lex Heinze - 25.06.1900

Beitrag von ehemaliger_User »

Im Namen der Sittlichkeit
Das Kuppelei-Gesetz "Lex Heinze" tritt in Kraft

1891: In Berlin ist ein Ehepaar aus dem Rotlichtmilieu wegen Mordes angeklagt. Der Töpfer Gotthilf Heinze und seine Frau Anna, eine Prostituierte, sollen über mehrere Tage ein Mädchen festgehalten, sexuell missbraucht und schließlich getötet haben. Während des Prozesses stellt sich heraus, dass Heinze nicht regelmäßig in seinem Beruf arbeitet, sondern von den Einkünften seiner Frau lebt. Ein Tabu wird öffentlich: Das Geschäft der Prostitution blüht. Entsetzt ist vor allem der Kaiser. Er bringt eine Gesetzesinitiative auf den Weg und fordert, dass Zuhälter strafrechtlich belangt werden sollen.

Der Gesetzentwurf, der bald nur noch "Lex Heinze" heißt, umfasst drei Paragraphen: Durch den so genannten "Kunst- und Schaufensterparagraphen" soll die Verbreitung von Bildern oder Schriften, die "das Schamgefühl gröblich verletzen", unterbunden werden. Gemeint sind alle Arten von Bildern und Schriften - auch Kunstwerke, die nicht in unzüchtiger Absicht entstanden sind, aber so interpertiert werden können. Bilder von Rubens etwa oder die Venus von Botticelli. Der "Arbeiterparagraph" droht jenen mit Strafe, die Frauen "zur Duldung oder Verübung unzüchtiger Handlung" beschäftigen, also Kupplern oder Zuhältern. Der "Theaterparagraph" sieht für denjenigen Gefängnis vor, der Werke aufführt, die das Scham- und Sittlichkeitsgefühl verletzen. Kunst soll erheben und nicht in den "Rinnstein" niedersteigen, wie der Kaiser es ausdrückt.

Das "Lex Heinze" löst eine Protestwelle aus. Nachdem das Gesetz im Februar 1900 verabschiedet wird, gründen Künstler und Intellektuelle den "Goethebund zur Wahrung der künstlerischen und wissenschaftlichen Freiheit". Zweck ist es, "Angriffen auf die freie Entwicklung des geistigen Lebens, insbesondere von Wissenschaft, Kunst und Literatur gemeinsam entgegenzutreten". Ehrenvorsitzender ist der Historiker Theodor Mommsen. Mit Unterstützung der Sozialdemokraten gelingt es dem Goethebund, das "Lex Heinze" zu ändern. Der Deutsche Reichstag nimmt im Mai 1900 eine Kompromissfassung an, die am 25. Juni des selben Jahres in Kraft tritt. Der "Theaterparagraph" wird ersatzlos gestrichen. Der "Kunst- und Schaufensterparagraph" wird auf einen Absatz beschränkt, der den Verkauf schamloser Schriften und Bilder an Personen unter 16 Jahren mit Strafen belegt.

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Marc of Frankfurt
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Beitrag von Marc of Frankfurt »

Während die Zensurmaßnahmen relativiert/zurückgenommen wurden,

blieben jedoch erhalten:

- der Zuhälterparagraph,
(der arbeitsteilige Professionalisierung in der Sexarbeit ebenso wie Partnerschaften für Sexworker erschwert bis verunmöglicht d.h. Kriminalisierung Prostitution)

- das Werbeverbot Prostitution
(§ 120 Abs.1 Nr.2 OWiG)
http://sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=35414#35414 (SW-only)



www.sexworker.at/prostg
Prostitutionsgesetzgebung und -rechtsprechung in Deutschland





.

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Kasharius
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Die sog. lex Heinze und die Debatten im Reichstag ab 1898

Beitrag von Kasharius »

Manchmal ist es ja Interessant sich mal die historischen Debatten beispielsweise In der Kaiserzeit im 19. Jhr. anzuschauen. Nach einem aufsehnerregenden Prozess gegen das Berliner "Zuhälterehepaar" Heinze debattierte der Reichstag ab dem Jahr 1898 Verschärfungen des Strafgesetzbuches; es existierte seit der Reichsgründung 1871. Erstmals sollte u.a. die sog. Kuppelei unter Strafe gestellt . werden. Besonders engagiert wurde um eine Neufassung des damaligen § 180a RStGB gerungen; auch wer SW Wohnraum zur Verfügung stellte sollte generell, zumindest aber auf Initiative der Polizei bestraft werden können. Gegen diese weitgehende Strafermächtigung der Polizei wandten sich vor allem die Sozialdemokraten während Nationalliberale diese Regelung guthiessen.

Regent war in dieser Zeit Kaiser Wilhelm der II. Amtierender Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingfürst; er wurde im Oktober 1900 von Bernhard von Bülow abgelöst.


Infos zur lex Heinze hier

http://de.wikipedia.org/wiki/Lex_Heinze


Den Gang des Gesetzgebungsverfahren und den Verlauf der Beratungen findet man hier (wer fraktur lesen kann...)

http://www.reichstagsprotokolle.de/Gesa ... 773_000823


Wünsche viel Vergnügen beim historischen Studium

Kasharius grüßt ergebenst

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Re: Die sog. lex Heinze und die Debatten im Reichstag ab 189

Beitrag von Aoife »

Wenn wir schon bei Geschichte sind :002 ebenfalls interessant:

          Bild
Kasharius hat geschrieben:Regent war in dieser Zeit Kaiser Wilhelm der II.
das Regententum "Kaiser" Wilhelm des zweiten war ebenso wie die gesamte "Gesetz"gebung durch unter ihm arbeitende Regierungen illegal - so wie übrigens auch die Gesetzgebung sämtlicher Monarchen vor ihm seit der Christianisierung ...

Denn die Ermächtigung dieser Monarchen, einschließlich Kaiser Wilhelm's, beruht ausschließlich darauf, dass sie entsprechende Stellungen in Familien hatten, die von der Kirche zu Herrscherfamilien erklärt worden waren. Und die Kirche leitet das Recht dies zu tun aus der "Konstantinischen Schenkung" ab - einem Dokument, das eine Fälschung darstellt und somit nicht geeignet ist irgendeine Legitimität zu begründen.

Das Interessante daran ist, dass das keine neue Erkenntnis ist (und auch zu Kaiser's Zeiten nicht war) - spätestens seit 1440 ist die Fälschung der Konstantinischen Schenkung, mit der angeblich der römische Kaiser Konstantin u.a. das Recht Monarchen zu ernennen auf die Kirche übertragen hat, bekannt, aufgedeckt von Lorenzo Valla - es scheint, als wollten die Menschen beherrscht werden und als sei ihnen jede noch so dürftige Ausrede willkommen um diesen Status nicht aufgeben zu müssen.

Liebe Grüße, Aoife
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Tilopa
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RE: Die sog. lex Heinze und die Debatten im Reichstag ab 189

Beitrag von Tilopa »

Interessant ist auch, dass es selbstverständlich auch damals schon massive Lobbyarbeit von bürgerlichen Frauenorganisationen gab, z.B. 1894 in Form einer Petition an den Kaiser, in der ein Totalverbot der Prostitution gefordert wurde. Gewisse Parallelen zur Gegenwart sind nicht zu verleugnen.

Clara Zetkin kommentierte dazu 1895 im "Vorwärts":
(habe auf die Schnelle nur eine englische Übersetzung aufgetrieben, Hervorhebungen von mir)

"Last summer 22 women's rights organisations joined in an alliance which, in a petition to the kaiser, 'most humbly' implored the legal prohibition of prostitution and severe punishment of prostitutes, pimps, etc. by means of a cabinet order by the kaiser and allied princes. The lackey-like tone favoured in the petition was worthily complemented by its socio-political ignorance, redolent of a beggar's plea, and by the presumptuousness with which the organisations 'dared' to beg because their representatives would be accepted as 'authorities on women's affairs.'"


Quelle: Draper & Lipow (1976): "Marxist Women versus Bourgeois Feminism", Kap. 3: Clara Zetkin "On a Bourgeois Feminist Petition". Socialist Register 1976, pp.179-226., http://www.marxists.org/archive/draper/ ... etkin.html

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

@Tilopa

ein weiteres schönes Beispiel ist diese Petition aus dem Jahre 1906. Auch hier sprechen sich bürgerliche Frauenvereine für eine Verschärfung des § 180 StGB (nicht wie vorhin irrtümlich von mir geschrieben: § 180aStGB) betrefdfend die sog. Wohnungskuppewlei aus. Amtierender Reichskanzler war zu dieser Zeit Bernhard von Bülow...

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blat ... 00770.html

Kasharius sagt gute Nacht

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Tilopa
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Beitrag von Tilopa »

          Bild
Kasharius hat geschrieben: ein weiteres schönes Beispiel ist diese Petition aus dem Jahre 1906. Auch hier sprechen sich bürgerliche Frauenvereine für eine Verschärfung des § 180 StGB (nicht wie vorhin irrtümlich von mir geschrieben: § 180aStGB) betrefdfend die sog. Wohnungskuppewlei aus. Amtierender Reichskanzler war zu dieser Zeit Bernhard von Bülow...

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blat ... 00770.html
Und die Argumentation kommt doch sehr bekannt vor:

"Das Bordellwesen sei in Deutschland ungesetzlich; die in den Bordellen internierten Mädchen befänden sich in einer furchtbaren Zwangslage, welche ihnen jede Möglichkeit zur Rückkehr in ein ehrliches Leben abschneide. Der Kampf gegen den internationalen Mädchenhandel müsse erfolglos bleiben, solange man nicht gegen seine einzige Ursache, das Bordellwesen, energisch vorgehe. Die Bordelle stellten eine verhängnisvolle Anreizung zur Unsittlichkeit dar, usw."
http://www.reichstagsprotokolle.de/Blat ... 00769.html

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

aber jenau...

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fraences
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Beitrag von fraences »

Danke Kasharius.

für das rein stellen.

Bei einem Vortrag von Frau Dr.Hünneke letztes Jahr habe ich zum ersten Mal davon gehört.

Wollte das immer noch mal nachlesen und habs vergessen.

Ich finde es interessant zu erfahren, aus welcher Zeit der Zuhälterparagraf damals entstand und unter welche Sichtweise.

Genauso, wie der Paragraf der Förderung der Prostitution.
Dessen Hintergedanke war: Je schmuddelige ein Puff ist, würde die Prostituierten davon abhalten darin zu bleiben.

Das man dadurch von staatlicher Einflußnahme nur für schlechte Arbeitsbedingungen schaffte, schien man voll zu ignorieren.

Ich denke Justiz geht dem Leben immer hinterher.Und ist nicht flexibel genug, sich rechtzeitig auf Veränderungen, die Zeitgemäß sind einzustellen.

Liebe Grüße, Fraences
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

@fraences

sehr gerne. Demnächst mehr aus Kaisers Zeiten...


Kasharius grüßt

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Marc of Frankfurt
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Rechtskunde historisch aufbereiten

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Hier gibt es einen Versuch die Deutsche Gesetzgebung/Rechtsprechung der Prostitution historisch aufzulisten.

Geschichtstafel der Prostitutionsgesetze Deutschland seit 1800
http://bit.ly/sexworkgeschichte
http://www.sexworker.at/phpBB2/viewtopi ... 1901#81901

(im unteren Teil des Postings)
Evt. kann mal einer drüberschauen und ergänzen/korrigieren. Danke.
Geschichtsunterricht oder Rechtskunde für Sexworker.





Allerdings kann man Recht und Gesetze der Prostitution nicht verstehen, wenn man die Soziologie der Prostitution außen vor läßt.

Deshalb nochmal der Verweis auf eine Arbeit, die ich bei der Vorbereitung zur 34. Fachtagung wiederentdeckt habe. Einige haben sicher noch die Kopien:

Soziologie der Prostitution
Prof. Dr. phil. Leopld von Wiese (aus Köln)

in: Max Macuse (Hg.) "Handwörterbuch der Sexualwissenschaft - Enzyklopdie der natur- u. kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen"
Bonn 1929 und reprint Berlin 2001
Seiten 601-603.

Zusammengefaßt: Es gibt einen "wiederkehrenden rhythmischen Ablauf in der Stellung von Gesellschaft und Staat zur Prostitution". Toleranz wechselt sich ab mit Repression... Er erkennt und beschreibt detailiert die Mechanismen in einem "circulus virtiosus" einem Teufelskreis.

Wenn man das gelesen hat, kann man einfach nur noch gelassen schmunzeln oder aber schier verzweifeln, je nach eigener Charakterstrutur und Lebenslage (Betroffenheit).





Wie man Gesetze und ihre Wandlungen verfolgen kann, wenn man kein Profi, kein Jurist ist, ist nicht leicht und eine große Herausforderung für die demokratische Bürgergesellschaft und für Aufklärungsprojekte wie wir es sind mit dem Sexworker Forum oder dem Netzwerk der aktiven Sexworker.

Aber hier gibt es ein hervorragendes Beispiel moderner Internet-Datenbanktechnologie. Die Versionsgeschichte von Gesetzen via GitHub (siehe Wikipedia, eine Versionsverwaltung) und Datenvisualisierung.

Bsp.: Parteienfinanzierung:
http://visualisiert.net/parteiengesetz/

(Für die Prostitutionsgesetze käme nach der obigen Soziologischen Theorie der Prostitution dann wohl ein Kreisdiagramm heraus;-)
Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 15.06.2013, 10:16, insgesamt 1-mal geändert.

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Tilopa
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Re: Rechtskunde historisch aufbereiten

Beitrag von Tilopa »

Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:(...)
Zusammengefaßt: Es gibt einen "wiederkehrenden rhythmischen Ablauf in der Stellung von Gesellschaft und Staat zur Prostitution". Toleranz wechselt sich ab mit Repression...
(...)
Wenn man das gelesen hat, kann man einfach nur noch gelassen schmunzeln oder aber schier verzweifeln, je nach eigener Charakterstrutur und Lebenslage (Betroffenheit).
(...)
(Für die Prostitutionsgesetze käme nach der obigen Soziologischen Theorie der Prostitution dann wohl ein Kreisdiagramm heraus;-)
Uii, das klingt mir aber ein bisschen sehr defätistisch.
Zugegeben, ohne mich mit der Theorie eingehend beschäftigt zu haben, möchte ich sie doch in diesem Zusammenhang sehen:

Die Theorie ist sicherlich nicht ganz falsch - insofern, dass sie die historische Entwicklung der Stellung der Prostitution im westlichen Kulturkreis der Moderne einigermaßen treffend beschreibt, denn dort lässt sich das postulierte Wechselspiel zwischen Toleranz und Repression vermutlich wirklich beobachten.
Aber dabei gleich von einem ewigen Kreislauf zu sprechen und damit von jeder dauerhaften emanzipatorischen Perspektive für die Sexarbeit abzurücken halte ich für deutlich übertrieben.

Dafür ist die aktuelle historische Epoche noch viel zu jung und das ewige Fortbestehen ihrer gesellschaftlichen Ordnung auch wirklich unwahrscheinlich. Normalerweise wiederholt sich Geschichte eben nicht (und wenn, dann höchstens als Farce: Statt einer gegen Sexarbeiter gerichteten Repression kommt in interessierten Kreisen gerade die Bestrafung der Freier in Mode).
Und die Haltung der Gesellschaft zur Prostitution existiert ja auch nicht im luftleeren Raum, sondern ist vor allem Ausdruck ihrer Haltung zur Monogamie. Diese verliert aber durch die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne selbst gerade riesige Teile ihrer Legitimationsgrundlage, z.B. durch bahnbrechende Fortschritte bei Verhütungsmitteln, steigende Frauenerwerbstätigkeit, Mobilität der Berufstätigen, Professionalisierung der Kinderbetreuung, umfassende Sozialversicherungssysteme, Behandelbarkeit von Geschlechtskrankheiten, generelle Säkularisierung der Gesellschaft, durchgreifende Entfremdungstendenzen und Kommerzialisierung aller menschlichen Beziehungen usw.
Solchen Veränderungen hinkt das gesellschaftliche Bewusstsein natürlich stets hinterher und drückt sich (nicht zuletzt aufgrund von Angst und Verunsicherung vor diesen Veränderungen) durchaus widersprüchlich aus. Aber gerade deswegen gehe ich stark davon aus, dass die Legalisierungsbefürworter allen vergangenen und künftigen Rückschlägen zum Trotz mittelfristig auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und die vollständige Integration der Sexarbeit in das offizielle Wirtschaftsleben dauerhaft nicht aufzuhalten ist.

rainman
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Beitrag von rainman »

Eines vorweg, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Wäre ich davon überzeugt, dass sich die Lebensumstände von Sexarbeiterinnen nicht weiter verbessern ließen, dann wäre ich vermutlich nicht hier.

Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht, denn das Rad der Zeit kann niemand zurückdrehen. Man sagt: die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen. Es gibt aber Zyklen, die in ähnlicher Form wiederkehren, sofern die Voraussetzungen für bestimmte historische Ereignisse gegeben sind. Es ist wichtig, diese zu kennen, denn daraus lassen sich Schlüsse für die Gegenwart und in beschränkter Weise auch für die Zukunft ziehen.

Wer sich die Geschichte der Prostitution einmal angeschaut hat, dem dürfte aufgefallen sein, dass Repressalien gegen SexarbeiterInnen häufig etwas mit religiösen Erneuerungsbewegungen zu tun haben. Das war im ausgehenden Altertum so mit dem Erstarken des Christentums und auch im Spätmittelalter mit dem Phänomen der Reformation.
Und auch die lex Heinze, über die wir hier diskutieren, verdankt ihre Entstehung letztendlich dem Bestreben des preussisch-deutschen Kaisertums, christlich-puritanistischen Moralvorstellungen zur Geltung zu verhelfen ("Thron und Altar"). Wusstet Ihr schon, dass die gegenwärtig oft diskutierte Freierbestrafung nach skandinavisch-amerikanischem Vorbild offenbar schon einen Vorläufer hatte, und zwar im spätmittelalterlichen Wien? Ich zitiere einmal: "Wurde ein Ehemann in einem Wiener Freudenhaus auf frischer Tat ertappt, so hatte er eine Strafgebühr, den "Gfehl", zu entrichten. Dieses Geld kam dem Stadtrichter zugute, der davon ganz gut zu leben schien..." (Girtler, R., Der Strich, Wien 5/2004, S. 294).

Was bedeutet das nun für unsere Gegenwart? Wir leben in der Zeit des "sterbenden Christentums" (Peter Scholl-Latour). Sollte einmal der Islam als Nachfolgereligion unser Zusammenleben dominieren, dann werden unsere SexarbeiterInnen nach den Regeln der Geschichte sich erneut auf Repressalien einstellen müssen. Es tut mir leid, dass ich den an sich lobenswerten Optimismus von Tilopa in diesem Punkt nicht teilen kann.
Indes: Bangemachen gilt nicht. Bis es so weit ist, wird wahrscheinlich noch einiges an Wasser den Rhein bzw. die Donau herunterfließen.

Übrigens: Leopold von Wiese, der Vater des bekannten Germanisten Benno von Wiese, ist der Begründer der sogenannten Kölner Soziologenschule. Sein Amtsnachfolger René König hat das oben zitierte Werk seines Wiener Kollegen Roland Girtler außerordentlich geschätzt.

Liebe Grüße, rainman

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Kasharius
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RE: Die sog. lex Heinze und die Debatten im Reichstag ab 189

Beitrag von Kasharius »

@rainman
@all

es freut mich, daß dieser Thread eine so kundige und fundierte DEbatte ausgelöst hat. :001

Ich würde die Diskussion gern um ein weiteres Element erweitern.

Bekanntermaßen hat das Prostitutionsgesetz ja die Sexarbeit vom Verdikt der Sittenwidrigkeit befreit. Der zivilrechtliche Vertrag zwischen einem/einer SW und dem Kunden verstieß vo dem Gesetz grundsätzlich gegen § 138 BGB (Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen die guten Sitten) mit der Folge, daß kein Anrecht auf das Entgelt bestand. Dies hat das Prostitutionsgesetz verändert; das vereinbarte Entgelt kann nach erbrachter sexueller Leistung auch klageweise durchgesetzt werden. Die Sittenwidrigkeit wurde gemeinhin durch die sog. Anstandsformel definiert: Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht denkenden... Es handelt sich dabei um eine Formulierung aus einer Entscheidung des Reichsgericht zum Wettbewerbsrecht. Diese Formel wurde aber nie dogmattisch oder empirisch hinterfragt bzw. entwickelt (ich habe versucht das in meiner Diss. zum ProstG nachzuzeichnen). In der Arbeit ist auch auszugsweise die Debatte im Reichstag vom 20. Juni 1896, einem Sonnabend(!) über § 134 (später dann als § 138 normiert ) wiedergegeben. Es ging dort auch um Deutungsversuche, was gute Sitten meinen; um Prostitution ging es dabei nie.....

Hier nun der stenographische Bericht der Debatte:


http://www.reichstagsprotokolle.de/Blat ... 00415.html

Viel Vergnügen

Kasharius grüßt

rainman
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Beitrag von rainman »

Hallo Kasharius,

Deinem voran stehenden Beitrag entnehme ich, dass Du einmal über unser ProstG eine Dissertation geschrieben hast. Obwohl ich nicht der juristischen Zunft angehöre, interessiert mich das sehr und ich würde gerne in den Besitz eines Exemplars dieser Arbeit gelangen, sofern das möglich ist. Ein solcher Wunsch lässt sich aber wohl nur unter Preisgabe einiger persönlicher Daten realisieren. Daher schlage ich vor, dass wir uns darüber zunächst einmal via PN unterhalten.

Die Foren-Öffentlichkeit bitte ich um Nachsicht.

Liebe Grüße, rainman

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RE: Die sog. lex Heinze und die Debatten im Reichstag ab 189

Beitrag von Kasharius »

Hier jetzt mal der Auszug zur Historie des § 138 BGB aus der Diss zum ProstG (ohne Fussnoten):

3.7.3.1.3.1. Die Redaktion des § 138 Abs. 1 BGB

Die Beratungen der diversen BGB-Kommissionen - und das BGB ist nur eines, wenn gleich die bedeutenste, der Kodifikationen, in der dieser Begriff seinen legislativen Ursprung fand - verwandten nicht viel Zeit auf die guten Sitten. Große inhaltliche Differenzen waren nicht zu verzeichnen. Es herrschte Einigkeit darüber, daß die Rechtsgemeinschaft, sollte sie in ihrem sittlichen Anschauungen empfindlich gestört werden, entsprechenden Abreden die Gültigkeit zu versagen hatte. Intensive Erörterungen über die Ausformung des Begriffs lassen sich den Beratungen nicht entnehmen.







Der Wortlaut der Ursprungsfassung wie sie die Redaktoren der 1. Kommission entwickelt hatten lautete:

§ 27 „Eine Willenserklärung, durch welche eine Leistung versprochen wird, die unmöglich ist oder mit den guten Sitten oder den Vorschriften des Gesetzes in Widerspruch steht, ist nichtig.“

Sie ging zurück auf Formulierungen im sächsischen BGB und dem Dresdner Entwurf von 1867. In der Begründung führt Herbert Gebhard – Redakteur des Allgemeinen Teils – aus:

“Als Inhalt eines Rechtsgeschäfts hat man zu verstehen einen Willensinhalt, also eine Vorstellung des zu schaffenden. Geschaffen werden Rechte und Pflichten und läßt sich ein jeder rechtsgeschäftlicher Inhalt schließlich auf die Aufstellung von Befehlen gegen den Einen zu Gunsten des Anderen zurückführen. Die rechtsgeschäftliche Schaffung von Verpflichtungen, sei es zu einem Thun, sei es zu einem Unterlassen trägt in sich eine Grenze und wenn diese Grenze überschritten wird, hat die Verpflichtung keine bindende Kraft. [...]“

Nachfolgend listet Gebhard Rechtsnormen - vom preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 über den Code Civil und dem Schweizer Obligationenrecht bis hin zum Dresdner Entwurf und dem österreichischen ABGB auf in denen dieses von ihm beschriebene Prinzip verankert ist.

„Deshalb ist eine jede Verpflichtung zu einem Thun oder Lassen welches mit einem Sittengebote im Widerspruch stehen würde zu verneinen. Soweit gehen alle Bestrebungen und soweit muß auch der Entwurf gehen. [...] Die Rechtsordnung bereitet dem Sittengebote nicht eine positive Unterstützung, sondern hält nur die freie Bahn zum sittlichen Handeln offen“.

Gebhard betont in diesem Zusammenhang, daß es nicht um den sittlichen Charakter der Person, sondern allein um die durch sie begründete Verpflichtung gehe. Demnach prüfe der Richter nicht die Handlung der Person, sondern die Handlung an sich - losgelöst von der Person.

Den objektiven Ansatz zur Bewertung der guten Sitten stellen auch die Motive der 1. Kommission heraus. Danach seien Rechtsgeschäfte dann nichtig, wenn sie „unmittelbar, in objektiver Hinsicht und unter Ausscheidung der subjektiven Seite“ gegen die





guten Sitten verstoßen. Doch auch diesen Ausführungen läßt sich nicht konkret entnehmen, an Hand welcher Maßstäbe zu der Sittenverstoß zu ermitteln sei.

Die später vom Reichsgericht wie selbstverständlich übernommene Anstandsformel fand im Rahmen der Redaktion der Vorschriften des BGB nur eine kurze Erwähnung, jedoch, ohne kontrovers diskutiert worden zu sein. Sie findet sich im Übrigen auch nicht in den Motiven der Kommission zu § 138 BGB, sondern sie wird bei § 826 BGB angesprochen.

„[...] ein Mißbrauch ist es aber, wenn eine Handlungsweise den in den guten Sitten sich ausprägenden Auffassungen und dem Anstandsgefühle aller billig und gerecht Denkenden [Hervorhebung d.d.Verf.] widerspricht.“

Da ein historischer Rekurs nicht zu erkennen ist, ist zu untersuchen,. wie die Anstandsformel ihren Weg in Judikatur fand und welche Maßstäbe für ihre Auslegung der historische Gesetzgeber angewandt wissen wollte.

Gerade den Stellenwert der guten Sitten im künftigen § 138 BGB schätzten die Redaktoren hoch ein. Trotz kleinerer Zweifel maßen sie die der Vorschrift zugedachten Rolle einer großen Bedeutung bei und schoben zugleich der Richterschaft die Verantwortung für eine sachgerechte Auslegung zu. In den Motiven der 1. BGB-Kommission heißt es dazu:

„Die Vorschrift stellt sich als ein bedeutsamer gesetzgeberischer Schritt dar, der vielleicht nicht ohne Bedenken ist. Dem richterlichen Ermessen wird ein Spielraum gewährt, wie ein solcher großen Rechtsgebieten bisher unbekannt ist. Fehlgriffe sind nicht ausgeschlossen. Bei der Gewissenhaftigkeit des deutschen Richterstandes darf indessen unbedenklich darauf vertraut werden, daß die Vorschrift nur in dem Sinne angewendet werden wird, in dem sie gegeben ist.“

Mehr als die Anstandsformel wollten die Kommissionsmitglieder den Richtern für ihre gewissenhafte Aufgabe nicht an die Hand gegeben. Es findet sich während des gesamten Beratungsprozesses kein kritischer Diskurs zu der Frage, wie der Begriff der guten Sitten auszulegen sei respektive wie die guten Sitten zu ermitteln seien. Der Meinungsstreit - so man einen solchen in den unterschiedlichen Positionen überhaupt zu erkennen vermag - entzündete sich an der Frage, ob die guten Sitten an Hand des Moralempfindens des Volkes oder an den tatsächlich geübten Sitten innerhalb bestimmter Volks- bzw. Geschäftskreise zu beurteilen sein. Letzteres deutete das Reichsgericht in seiner „Brisbane“-Entscheidung vom April 1901 an. Einig waren sich die Rechtsgelehrten aber darin, daß es nicht um ein sittliches Ideal gehen sollte.






Wesentlich engagierter wurde die Frage erörtert, inwieweit neben den guten Sitten auch die öffentliche Ordnung als Korrektiv der grundsätzlich geltenden Vertragsfreiheit treten sollte. Abweichend vom ursprünglichen Vorschlag Gebhards trug die Vorläufer-Vorschrift des § 138 nach dem Entwurf der 1. Kommission den nachfolgenden Wortlaut:

§ 106 „Ein Rechtsgeschäft, dessen Inhalt gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung, verstößt, ist nichtig.“

Kontrovers wurde auch darüber diskutiert, ob nicht Vereinbarungen, die im Widerspruch zum gewerblichen Ordnungsrecht stehen, auch mit der Anordnung der Nichtigkeit begegnet werden müsse. Diese Position wird im Redebeitrag des Sozialdemokratischen Abgeordneten Stadthagen deutlich, den dieser am 20.06.1896 anläßlich der zweiten Beratung des Entwurfes der zweiten BGB Kommission im Reichstag hielt. Er setzte sich namens seiner Fraktion vehement für die Aufnahme des Begriffes öffentliche Ordnung ein. Die Sozialdemokraten - sie verfügten in dieser Legislaturperiode über 42 Mandate - fürchteten, daß die guten Sitten keinen ausreichenden Schutz gegen Verträge bieten würde, die sich beispielsweise gegen die Koalitions- oder Wahlfreiheit bzw. das Kündigungsrecht (gleiche Fristen für Arbeiter und Arbeitgeber) richteten. Ihrer Ansicht nach zielten die guten Sitten lediglich auf Anschauungen bestimmter Rechtskreise - wie etwa derjenigen Richter, die über entsprechende Fälle zu befinden hätten. Die Auslegung des Begriffes führe so zwangsläufig zur Klassenjustiz. Aus den Worten Stadthagens spricht - sicherlich nicht unbegründet für einen Sozialdemokraten in jener Zeit - das blanke Mißtrauen gegenüber der deutschen Richterschaft:

„Denn das ist auch dem Laien klar geworden, dass der scheinbar klarste, stärkste Paragraph weich wie Butter schmilzt, wenn er in die Hand eines Richters kommt, auf welchem die Sonne der justizministerlichen Gnade scheinen soll“ .

Demgegenüber sollte seiner Ansicht nach ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung dann vorliegen, wenn gegen die in Gesetzen zum Ausdruck kommenden Prinzipien gehandelt wird. Abstrakter formuliert hieß das, neben moralischen gebe es auch rechtliche Interessen des Staates, die es zu beachten gilt. Es ermangelte auch hier einer tiefer gehenden Betrachtung, wie sich beide Begriffspaare nun genau von einander unterschieden. Für den Abgeordneten Gröber reichten die guten Sitten, bei denen es sich seiner Meinung nach um die von der Allgemeinheit oder bestimmten Rechtskreisen für gut befundenen Gebräuche handelt, aus, um auch im Interesse der Sozialdemokraten wirken zu können.

Schon zuvor war während der Beratungen ein Diskurs um die Beibehaltung des Begriffspaares entbrannt. Die Vorkommission des Reichsjustizamtes, eine Reaktion der Reichsregierung auf die zum Teil verheerende Kritik des Entwurfes der 1. Kommission, entschloß sich dann auf seiner 17. Sitzung am 07.02.1891 den Begriff zu streichen.



Es war der Vorwurf der Konturenlosigkeit, der schließlich zur ´Verbannung´ der öffentlichen Ordnung aus dem BGB führte. Auch die XII.Kommission des Reichstages behielt den Streichungsvorschlag auf einer Sitzung am 22.02.1896 bei. Nach Auffassung Gebhards würde bei einer Beibehaltung des Begriffs die gesamte Rechtsordnung in das Belieben des Richters gestellt. Das bei der Auslegung der guten Sitten gesetzte Vertrauen in die Richterschaft wurde nun deutlich relativiert. Im übrigen liefen diese Argumentationsmuster gegenläufig zu jenen der Sozialdemokratie. Sie gingen von einem Mißtrauen gegenüber den Richtern, gerade wegen ihrer Unabhängigkeit, aus, woraus die Forderung nach der Beibehaltung und gegen die Streichung resultierte. Bekanntlich wurde diese Forderung jedoch nicht erfüllt.


3.7.3.1.3.2. Die Rechtsprechung des Reichsgerichtes unter Berücksichtigung der „Anstands-Formel“

3.7.3.1.3.2.1. Das Reichsgericht

Nachdem 1869 zunächst das Reichsoberhandelsgericht gegründet worden war, erlebte am 01.10.1879 - also fast zweieinhalb Jahre nach Verabschiedung der Reichsjustizgesetze (GVG, ZPO, KO, StPO) - das Reichsgericht in Leipzig seine Geburtsstunde. Zu diesem Zeitpunkt dauerten die Beratungen der Redaktoren der 1. BGB-Kommission bereits fünf Jahre an. Ursprünglich sollte das Gericht nach Vorlage Bismarcks vom 01.02.1877 seinen Sitz in Berlin nehmen. Doch der in dieser Zeit noch immer stark ausgeprägte Föderalismus führte dazu, daß Preußen am 28.02.1877 seine erste Abstimmungsniederlage im Bundesrat erlebte. Mit 30 zu 28 Stimmen entschieden sich die Mitglieder gegen Berlin und für Leipzig. Der Reichstag folgte diesem Votum am 24.03.1877 mit 213 zu 142 Stimmen. Erster Präsident des Gerichtes wurde auf Vorschlag von König Wilhelm I von Preußen und Ministerpräsident Bismarck der ehemalige Vorsitzende der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 Eduard von Simson (1810-1899) . Die Zuständigkeit des Gerichtes entsprach grundsätzlich der des heutigen BGH. In der Rechtsprechung des Reichsgericht erlangten die zivilrechtlichen Generalklauseln besondere Bedeutung, da so auf die Reglementierung des Wettbewerbes, und hier insbesondere auf die Verhinderung von Kartellen, hingewirkt werden konnte.



Die Judikatur des Reichsgerichtes erlangt seine Bedeutung nicht zuletzt auch durch den Umstand, daß das Gericht drei Staatssysteme - das Deutsche Reich, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus überstand, freilich nicht, ohne sich in seinen Entscheidungen zuweilen dem herrschenden Staatsverständnis hinsichtlich bestimmter Rechtsfragen anzupassen.


3.7.3.1.3.2.2. Die Entscheidungen

Die erste Erwähnung der Anstands-Formel findet sich in einem Urteil des VI. Zivilsenates vom 11.04.1901. Das BGB war zu diesem Zeitpunkt seit etwas mehr als einem Jahr in Kraft. In RGZ 48, 114 ging es um das sittenwidrige Verhalten konkurrierender Dampfschiffahrs-unternehmen. Im Zentrum der Entscheidung stand jedoch nicht § 138 BGB, sondern § 826 BGB. Nach dieser Vorschrift haftet jemand für den Schaden, dem er einem anderen vorsätzlich, aufgrund einer Handlung, die gegen die guten Sitten verstößt, zufügt. Die Norm wurde in dieser Zeit mangels anderer gesetzlicher Regeln herangezogen, wenn es um die Sanktionierung wettbewerbswidrigen Verhaltens im Wirtschaftsleben ging.

In diesem Fall sollte sie deshalb zur Anwendung gelangen, da sich das beklagte Unternehmen weigerte, einer Firma, die an einem Konkurrenzunternehmen beteiligt war, verbilligte Fuhrtarife zu gewähren. Das Gericht hatte nun darüber zu befinden, ob dieses Geschäftsgebahren gegen die „guten Sitten“ verstieß. Als Bewertungsmaßstab berief sich der Senat auf das „herrschende Volksempfinden“ . Im Anschluß an diese Aussage folgt dann als Zitat der Verweis auf die Anstandsformel, ohne jedoch auf irgendeine Fundstelle, die auf ihre Herkunft schließen läßt, hinzuweisen . Sie wird dann noch insofern durch das Reichsgericht konkretisiert, als es sich dabei auch um Anschauungen einzelner Volkskreise - hier der ordentlichen Kaufleute - handeln könne.


Erneut um wettbewerbswidriges Verhalten, diesmal im politischen Kampf, ging es in einem Urteil des VI. Zivilsenates vom 11.12.1902. Um das Erscheinen einer politisch mißliebigen Konkurrenzzeitung im Postvertrieb zu verhindern, meldeten die Beklagten eine eigene Zeitung mit dem gleichen Namen für den Postvertrieb an. Da nach den einschlägigen Bestimmungen nicht zwei Zeitungen unter dem gleichen Namen an einem Ort vertrieben werden dürfen, hatte die Klägerin das Nachsehen. Ihr späterer Antrag wurde zurückgewiesen. Die Beklagten hatten jedoch zu keinem Zeitpunkt die Absicht, tastsächlich dauerhaft eine Zeitung herauszugeben. Es ging ihnen – auch nach den Feststellungen des Senates – nur darum, eine konkurrierende politische Partei in ihren Aktivitäten


zu sabottieren. Die Revision vertrat daher die Auffassung, eine gegen die guten Sitten verstoßende Schädigung des Klägers sei nicht gegeben. Im politischen Kampf sei ein anderer Maßstab anzulegen; es entspräche dem „Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden“ daß in der politischen Auseinandersetzung andere Regeln gelten würden. Der Senat ließ dies dahinstehen. Aufgrund ihres vorsätzlichen Verhaltens hätten die Beklagten in jedem Fall gegen die guten Sitten verstoßen.


Der II. Zivilsenat hatte am 16.10.1903 über die Frage zu befinden, ob sich der Käufer schadensersatzpflichtig macht, wenn er den Kalkulationsirrtum des Verkäufers bemerkt, diesen aber gleichwohl an seinen Irrtum festhält und auf dem niedrigeren Kaufpreis besteht. Zum Sittenwidrigkeitsmaßstab führte der Senat aus, „[...] vielmehr wird man mit der Forderung sich begnügen müssen, daß im Geschäftsleben gute Sitten herrschen und als Maßstab dafür, was gute Sitte ist, die Auffassung zu gelten hat, welche im sittlichen Volksbewußtsein begründet ist, und dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden entspricht.“. Auch hier weist das Gericht erneut darauf hin, daß ein durchschnittlicher Maßstab anzulegen sei.


Auch in einem Urteil vom 01.06.1904 stellte das Reichsgericht - diesmal der I. Zivilsenat -fest, daß bei der Beurteilung sittenwidrigen Verhaltens ein durchschnittlicher Maßstab anzulegen sei. Die Parteien stritten um einen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB.


Ein Hinweis auf einen möglichen legislativen Ursprung der Anstands-Formel findet sich in einem Urteil des VII. Senates vom 03.01.1911. In RGZ 75, 132 ging es um § 56 Abs. 2 des Reichs-Erbschaftssteuergesetzes. Nach dieser Vorschrift blieben Schenkungen die von Privatpersonen getätigt wurden steuerfrei, sofern sie einer Anstands- oder Sittenpflicht entsprangen. Dabei wurde in der Regel auf die Anschauungen des „täglichen Lebens“ innerhalb der entsprechenden Rechtskreise abgestellt. Um in den Genuß dieses Steuerprivilegs zu gelangen, beriefen sich naturgemäß viele Unternehmer auf diese Norm. In dem Fall, den der VII. Zivilsenat zu entscheiden hatte, klagte der Vorsitzende einer Aktiengesellschaft gegen den Fiskus. Er hatte dem Staat persönliche Vermögenswerte zur Unterstützung des Wohnungsbaues zugewendet und war dennoch steuerlich veranlagt worden.


Erneut rekurriert ein Urteil des VII. Zivilsenates vom 15.10.1912 auf die Anstandsformel. Hier hatte ein Konzertleiter der Kaiserlichen Staatsoper Berlin sich in einem Vergleich mit seinem Arbeitgeber verpflichtet, im Falle des Vertragsbruches (Annahme eines anderen Engagements während der vertraglichen Laufzeit) in einem Zeitraum von fünf Jahren weder in Berlin, noch im Umkreis von 30km der Stadt zu wirken. Das Gericht hatte über eine mögliche Sittenwidrigkeit dieser Vereinbarung zu entscheiden. Unter Bezugnahme auf die sogenannte Anstandsformel stellte es auf das sittliche Empfinden des Volkes ab.


Auch in der Weimarer Republik hielt das Reichsgericht an seinen Bewertungsmaßstäben zu § 138 BGB fest, wie aus einem Urteil vom 09.02.1923 zu erkennen ist: In RGZ 120, 142 hatte sich ein gemeinnütziges Siedlungsunternehmen vertraglich verpflichtet, auf ihr gesetzlich garantiertes Vorkaufsrecht zu verzichten. Zur möglichen Sittenwidrigkeit dieser Vereinbarung stellte das Gericht fest: Es entspräche feststehenden Grundsätzen, daß Nichtigkeit wegen § 138 BGB dann vorliegt, wenn das zu beurteilende Rechtsgeschäft gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, verkörpert in der herrschenden Volksmoral, verstößt oder der Gesamtcharakter des Rechtsgeschäftes den Eintritt der entsprechenden Rechtsfolge bewirke. Unter Hinweis auf RGZ 104, 327 betont der Senat, daß es nicht mehr auf die Volksempfindungen der Nachkriegszeit ankomme. Insofern läßt das Gericht hier einen Wandel der herrschenden Sittenanschauungen gelten.


Der Einfluß des Nationalsozialismus auf die Begriffsbildung läßt sich an einem Urteil des Großen Zivilsenates vom 13.03.1936 ablesen. Gut drei Jahre, nachdem die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler an die Regierung gelangten, legte der V. Zivilsenat dem Gericht die Frage vor, wann von einem auffälligem Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung gesprochen werden könne. Der Senat betonte in der Beantwortung der Vorlagefrage, daß nunmehr bei der Beurteilung sittenwidriger Vereinbarungen auf die nationalsozialistische Werteordnung abzustellen sei. Dies gelte im übrigen auch für Rechtsgeschäfte, die vor dem 30.01.1933 getätigt wurden. In Konsequenz dieser Auffassung nahm der Große Senat auch eine Gleichsetzung der Begriffe „Anstandsgefühl“ und „gesundes Volksempfinden“ vor. Das Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung müsse sanktioniert werden, um verwerflichen Eigennutz zu bekämpfen .

Als Wertmaßstab zur Beurteilung der Anstandsformel zieht das Gericht durchgehend die Durchschnittsanschauungen der Bevölkerung respektive der entsprechenden Verkehrskreise heran. Darüber jedoch, wie diese konkret zu ermitteln seien, findet sich in den Urteilen des Reichsgerichts kein Hinweis. Das scheint in dieser Zeit auch entbehrlich, da ein gesellschaftlicher Konsens in bestimmten Fragen vorausgesetzt wird. Der heute vielfach in diesem Zusammenhang zitierte Meinungs- und Wertepluralismus wirkte sich noch nicht auf das Urteilsvermögen der Richterschaft aus. Ihre und die Anschauungen des durchschnittlichen Restes der Bevölkerung galten ihnen als deckungsgleich. Womit nicht unterstellt werden soll, das daß Reichsgericht tatsächlich seine Meinung, wann ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, an die Stelle der Bevölkerung gesetzt hat. Gleichwohl ist zu konstatieren, daß die soziale Herkunft der Richter in dieser Zeit deutlich einheitlicher als heute war und sie einer Klasse entstammten, die zugleich auch die öffentliche Meinung prägte.

Die Rechtsgelehrten in dieser Zeit jedenfalls übernahmen die Bewertungsmaßstäbe des Reichsgerichtes ohne weitere Auseinandersetzung hiermit.


3.7.3.1.3.3. Die Positionen der Vertreter des historischen Schrifttums

Dem Diskurs um die „öffentliche Ordnung“ ist zu entnehmen, daß dieser Begriff im Gegensatz zu den guten Sitten steht, mit letzterem jedoch primär außerrechtliche Wertvorstellungen gemeint sind. Dies folgt auch aus der Ansicht Dernburgs in seinem Pandektenlehrbuch aus dem Jahre 1875:

„Was jedoch im Einzelnen als dem Gemeinwohl widerstreitend, als schädlich und unsittlich gilt, bestimmt sich verschieden nach den wechselnden ethischen Anschauungen und den jeweiligen ökonomischen Bedürfnissen der Völker und Zeiten.“

Es sei auch erwähnt, daß Dernburg zugleich die gesellschaftliche Wandelbarkeit des Begriffes unterstellt. Auch Gottlieb Planck , einer der Redaktoren in der 1. BGB-Kommission und dort mit dem Familienrecht befaßt, geht in seiner Kommentierung zu § 138 BGB von einem außerrechtlichen Sozialkonsens aus und führte in der Konsequenz den Begriff des Volksempfindens als Wertmaßstab ein.

„Nicht ein Verstoß gegen die Sittlichkeit, sondern gegen die guten Sitten wird erfordert. Dadurch wird darauf hingewiesen, daß das jeweilige Volksempfinden, nicht diese oder jene theoretische Ansicht über die Anforderungen der Sittlichkeit entscheidend ist. Nicht erforderlich ist, daß in Beziehung auf das betreffende Rechtsgeschäft eine bestimmte Sitte besteht, nach welcher Rechtsgeschäfte dieser Art als den guten Sitten nicht entsprechend betrachtet werden. Es genügt wenn das betreffende Rechtsgeschäft nach dem Gesamtbewußtsein des Volkes über dasjenige, was die Sittlichkeit erfordert, dieser Anforderung nicht entspricht [...]. Es ist daher möglich, daß ein Rechtsgeschäft, obwohl es der in dem sozialen Kreise der Beteiligten
herrschenden Sitte entspricht, doch unter den § 138 fällt, weil das Gesamtbewußtsein des Volkes jene Sitte nicht als eine gute Sitte, sondern als eine Unsitte betrachtet.“



Die Suche nach dem begrifflichen Ursprung der hier interessierenden Vorschriften, aber vor allem auch Plancks Rekurs auf das Volksbewußtsein, führen zur Volksgeist-Rezeption . Es ist jedoch nicht die sogenannte Anstandsformel, deren Wurzeln freigelegt werden, vielmehr mündet der Diskurs in die Frage, bei wem sich die Nationalsozialisten, als sie das gesunde Volksempfinden als sinnstiftendes Gemeinwohlkriterium für ihre Gesellschaft reklamierten, bedienten. Ein Name wird in diesem Zusammenhang vorrangig angeführt - Friedrich Carl von Savigny (1779-1861). In seiner im Rahmen des Kodifikationstreites entstandenen Schrift „Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ aus dem Jahr 1814 befaßt er sich u.a. mit dem Spannungsverhältnis zwischen (positiver) Rechtssetzung und (aus dem Volk stammender) Rechtsschöpfung. Auf welcher Grundlage entwickelt sich das Recht? Hier entwickelt Savigny dann auch seine Idee vom Recht als organischem Prinzip:

"Die Summe dieser Ansicht also ist, daß alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d.h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte [...]" .

Wenngleich dies nicht primär intendiert war, diente Savignys Schrift auch dazu, den Bestrebungen um ein gesamtdeutsches Zivilgesetzbuch - zumindest vorerst - eine Absage zu erteilen. Insbesondere Thibaut trat, geprägt durch das Ende der napoleonischen Herrschaft nach den Befreiungskriegen und der dadurch wachsenden national-liberalen Geisteshaltungen für eine Beendigung der Rechtszersplitterung ein. Savigny sah dieses Problem zwar auch, näherte sich ihm aber mit größerer Distanz. Seiner Ansicht nach galt es zunächst, im vorgenannten Sinne die Essenz des „Volksgeistes“ und seiner Prägekraft für die dann zu schaffenden Gesetze zu extrahieren. Volk bedeutete für Savigny jedoch nicht die Summe der Bewohner eines Staatengebildes respektive einer Region. Als Sympathisant der Romantik deutet er den Begriff stärker abstrakt-methaphysisch „[...] der Volksbegriff ist ´kulturell´„ .

Jedenfalls deutet sein Sprachgebrauch aber auch auf das soziale Umfeld, indem sich Savigny in jener Zeit bewegte. Auch spiegelt sein ganzer (rechts-)wissenschaftlicher Ansatz, der Rekurs auf die Vergangenheit und das Römische Recht, die Verbundenheit zu idealisiertem Volkstum und die Ablehnung jeder in die zukunftgerichteten gesetzgeberischen Hast auf genau die Themen hin, welche die Romantik zu dieser Zeit prägten.




Inwieweit sich aus diesen Überlegungen Rückschlüsse auf die Ursprünge der Anstands-Formel ziehen lassen, ist deshalb zweifelhaft, da dessen Schöpfer doch eher an einen gegenständlichen und unromantischen Gesellschaftsbegriff gedacht haben dürften. Der Inanspruchnahme der Gedanken Savignys als Ursprung für den Gradmesser der guten Sitten ist daher mit Zurückhaltung zu begegnen.


3.7.3.1.3.4. Zwischenergebnis

Faßt man die Diskussion über den Inhalt der guten Sitten während der Entstehungsgeschichte des BGB zusammen, so ergibt sich ein Primat der gelebten und weniger der gesollten Verhaltensnormen, über die im Volke ein Konsens herrscht. Diese Ansichten des Volkes werden jedoch als wandelbar verstanden und dürfen daher nicht zu einer sittlichen Bewertung des rechtlich Handelnden, sondern nur zur Wertung der Handlung selbst bei der Beurteilung entsprechender Rechtsgeschäfte herangezogen werden. Eine objektive Werteordnung wurde in jener Zeit gerade mangels verfassungsrechtlicher Verankerung nicht als Indikator gesehen.




Kasharius wünscht viel Vergnügen und weiterhin eine angeregte Diskussion :006

rainman
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Beitrag von rainman »

Es ist für einen Nicht-Juristen schon eine zuweilen anstrengende Angelegenheit, sich einer juristischen Fachpublikation hinzugeben. Manchmal gewinnt man den Eindruck, die Leute kämen von einem anderen Stern (Verzeihung, lieber Kasharius, ist nicht böse gemeint). Dass ein(e) Jurist(in) aber offenbar auch über eine gehörige Portion Humor verfügen kann, beweist mir das Zitat: "Denn das ist auch dem Laien klar geworden, dass der scheinbar klarste, stärkste Paragraph weich wie Butter schmilzt, wenn er in die Hand eines Richters kommt, auf welchem die Sonne der justizministerlichen Gnade scheinen soll" (s.o.).

Über den Grund, weshalb die Sittenwidrigkeit in der Prostitution ursprünglich offenbar gar nicht im Blickpunkt der Gesetzesbastler gestanden hat, lassen sich wohl nur Vermutungen anstellen. Meiner Meinung nach könnte es so gewesen sein, dass die Sexarbeit in der wilhelminischen Ära einen derart miserablen Ruf genossen hat, dass es sich ein Reichstagsabgeordneter einfach nicht leisten konnte, dieses Faktum als überlegenswert in die Diskussion mit einzubringen. Spätere Juristen und Politiker sind da wohl als Trittbrettfahrer auf eine Bahn aufgesprungen, die ursprünglich nur den Kaufleuten zugedacht war. Wer sich damals den SexarbeiterInnen öffentlich einigermaßen wohlwollend zuwenden wollte, der hatte doch nur die Chance, dieses unter dem Aspekt der Rettung zu tun. Man muss bedenken, welches existentielle Risiko der Komponist Giuseppe Verdi mit der Komposition seiner Oper "La Traviata" eingegangen ist, und ihm das sicher nur gelungen ist, weil er sich hinter seinem und seines Librettisten Ruhm verstecken konnte.

Ich muss ehrlich gestehen, dass mich die offensichtliche Unzulänglichkeit unseres derzeitigen Prostitutionsgesetzes gar nicht so sehr stört. Da sind ja noch Nachbesserungen möglich. Ich sehe den wichtigsten Vorteil in der Entkriminalisierung, die dieses Gesetz ja nun mal unzweifelhaft bewirkt hat, egal wie der Text nun lautet und dass es auch den Boden für eine Enttabuisierung und Entstigmatisierung bereitet hat. Und dass genau dies einigen Leuten nicht passt, ist ja bezeichnend.

Liebe Grüße , rainman