Braucht unsere Gesellschaft Prostituierte?

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Braucht unsere Gesellschaft Prostituierte?

Beitrag von ehemaliger_User »

Am 18.06.2008 wurde QuerGefragt:
Von Beruf Hure: Braucht unsere Gesellschaft Prostitution?
Sendung vom Mittwoch, 18.6.2008 | 20.15 Uhr | SWR Fernsehen


Ist Prostitution ein ganz normales Gewerbe oder Hure noch immer ein sittenwidriger Beruf? Hat das noch von Rot-Grün verabschiedete Prostitutionsgesetz die betroffenen Frauen besser gestellt? Wird die anstehende Reform die illegale Zwangsprostitution und die Ausbeutung Minderjähriger wirksam bekämpfen?

Sex gegen Geld – das sei heutzutage eine ganz normale Dienstleistung, Hure ein gesellschaftlich wichtiger Beruf, der vor allem für viele Männer eine Ventilfunktion habe und letztlich Gewalt, vor allem gegen Frauen, vorbeuge – sagen die einen. Gut so, dass das Tabu in einer aufgeklärten Gesellschaft genauso vom Tisch sei wie eine unnötige und überholte Moraldiskussion, finden Grüne, Gewerkschaftler und eine Mehrheit von Sozialpolitikern der Großen Koalition. Wichtig sei es jetzt, Huren nicht zu verurteilen, sondern zu schützen und erfolgreich gegen illegale Zwangsprostitution vorzugehen.

Nach wie vor erlaubten wir uns eine bigotte Doppelmoral, sagen dagegen die Kritiker des Prostitutionsgesetzes. Von wegen Dienstleistung: immer häufiger und immer brutaler würden immer jüngere Frauen, vor allem illegal eingeschleuste aus Asien oder Osteuropa, hierzulande behandelt. Die freiwillig und selbstbestimmt ihrem Beruf nachgehende Hure sei ein reiner Männer-Mythos.

Ist käuflicher Sex ein Männerproblem?
Wie verhält sich unsere moderne Gesellschaft mittlerweile zu ihren Huren, offen und liberal oder noch immer verklemmt und ausbeuterisch?

Es diskutieren:

Lissy Gröner, Mitglied Sozialdemokratische Partei Europas und im Ausschuss für die Rechte der Frau und Chancengleichheit
"Ich glaube, wichtig ist heute zu sagen, dass wir heute politisch ganz klar unterscheiden von dem, was Frau Klee macht, die frei und selbst bestimmt eine erwachsene Sexualität lebt und das macht in ihren Konditionen. Das ist der eine Weg. Der andere Weg ist, wenn Gewalt ins Spiel kommt, wenn Minderjährige hinzugezogen werden. Und hier haben wir Alarm geschlagen, gerade wir Frauen im Europäischen Parlament haben die Kampagne „Rote Karte der Zwangsprostitution“ gestellt. Und die Zahlen sind schon beängstigend. Wir haben ungefähr, müsste ich jetzt auch schätzen, mehrere Hunderttausend Frauen, die jedes Jahr in die Europäische Union zum Zweck der sexuellen Ausbeutung geschleust werden. Und das ist eine moderne Form der Sklaverei! Das muss aufhören und da müssen wir geschlossen dagegen sein!"

Inge Hauschild-Schön, Vorsitzende der Marburger Bürgerinitiative gegen Bordelle "Wenn Sie aber von diesem Berufsstand zum Beispiel wissen, dass sie ein 40fach erhöhtes Risiko haben, ermordet zu werden, oder dass eben ein ganz großer Prozentsatz – die Zahlen schwanken in den Studien zwischen 40% und 90% – von Frauen und Mädchen dabei sind, die als Kinder zum Beispiel sexuelle Ausbeutung schon erfahren haben und dann in der Prostitution landen – da scheint also wirklich eine Korrelation zu bestehen, dass häufiger Frauen in der Prostitution landen, die als Kinder schon Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Und wenn Sie sich vor Augen halten, was heute an Gewalt und fürchterlichen Diensten von Prostituierten verlangt werden, (…) dann denke ich sind die Vorbehalte [Anm.: gegen Prostitution] berechtigt."

Rolf Eden, ehem. Nachtclub-Besitzer und regelmäßiger Bordellbesucher "Es ist eine ganz wichtige gesellschaftliche Funktion, die diese Damen haben, weil wenn wir das nicht hätten, dann hätten wir viel mehr Morde. (…) Die Frauen könnten alleine gar nicht mehr auf die Straße gehen, wenn wir keine Nutten, keine Prostituierte hätten. Dann wäre es so gefährlich auf der Straße für viele Frauen. Und für die armen Männer, die nicht verheiratet sind: Was sollen sie denn machen?"

Prof. Kurt Starke, Sexualwissenschaftler "Sie haben einen Akzent in Ihrer Rede gehabt mit der Gewalt. Und das ist so ein Standard, dass man sagt: Gäbe es die Prostitution nicht, dann würden viel mehr Frauen vergewaltigt. Das ist grober Unsinn! Es würde nämlich bedeuten, dass in Gesellschaften, in denen es keine Prostitution gibt, erheblich mehr Vergewaltigungen sind. Das ist gar nicht der Fall!"

"Es ist so: Vergewaltigung, das hängt mit Gewalt zusammen. Die Sexualität nur die Form. Und ein Bordellbesuch ist was ganz anderes. Da geht es um Sexualität, um Gespräch, um vieles andere. Deshalb ist Ihre These falsch!"

"Gewalt gegen Frauen! (…) Ich denke, das ist das eine große Thema, was uns alle sehr bewegt und was nicht nur an der Prostitution, aber auch da festzumachen ist. Und dann gibt es auch die heiteren Themen. Es gibt in der Prostitution auch ganz Heiteres. Und die Frage: Darf die Prostituierte ihren Beruf lieben? Also ich liebe meinen Beruf und ich werde deshalb nicht schief angesehen. (…) Wenn ein harmloser Freier – und ich denke, die meisten sind harmlos – zu einer guten Prostituierten geht und eine glückliche halbe Stunde hat, da werden beide schief angesehen. Wenn dieser selbe Mann vielleicht noch mit gesegneten Waffen Kinder anschießt, dann ist die Frage nicht so böse, wie wenn der Mann ins Bordell geht. Und da sieht man, dass das Thema Prostitution wirklich ein Thema unserer Gesellschaft ist, nämlich das wirklich große Thema der Heuchelei und eines ganz verklemmten Umgangs mit Sexualität."

Stephanie Klee, Prostituierte und Vorstandsmitglied im Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen (BSD) "Ich vertrete die Position von Professor Starke. Ich denke, Menschen, die Gewalt für ihre Sexualität oder für ihr Machtspiel brauchen, müssen in den Augen des Gegenübers die Angst sehen und sie müssen bestimmte Momente haben, wo sie sich mächtiger sind und wo sie auch diese Über- und Unterordnung ausleben können. Und diese Momente gibt es in der Prostitution erstmal nicht. Da trifft ein Mann völlig fremd auf eine Frau, die die Bestimmerin ist, die die Regeln in der Hand hat, und es wird zunächst sehr kühl und sachlich über ein Geschäft verhandelt. Und das ist eine völlig andere Ebene. Aber umgekehrt sage ich natürlich auch: Auch in der Prostitution gibt es Gewalt, wir sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. (…) Aber es wird überbewertet. Und ich ärgere mich wirklich maßlos, dass immer auf diesem Aspekt fokussiert wird."

Fernsehdiskussion
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Beitrag von ehemaliger_User »

Mein Eindruck: Thema verfehlt.

Die Funktion der Prostitution wurde kaum angeschnitten, es wurden speziell von Frau Haushild-Schön unbelegbare Zahlen als Tatsachen dargestellt. Und Frau Klees Erfahrungen einfach als untypisch für Prostituierte dargestellt.
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Zwerg
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Beitrag von Zwerg »

Hi ehemaliger_User!

Zuerst einmal vielen herzlichen Dank für den Link!

Habe mir die Diskussion nunmehr angesehen und gebe Dir recht - leider hatten wieder einmal die Gegner der Sexarbeit die Möglichkeit unbewiesene Zahlen nahezu unwidersprochen in den Raum zu stellen. Auf der anderen Seite gab es doch 2 mal Szenenapplaus bei Klarstellungen, die auch mein Herz ein wenig erfreuten.

Es ist für mich als positiv zu bewerten, dass Sexarbeit ein Thema ist - auch das man Stefanie Klee vor die Kamera bittet ist so zu sehen. Ich denke durch die Sendung wird kein Gegner zum Befürworter werden und auch nicht umgekehrt - aber Manche werden vielleicht zum Denken angeregt - und so gesehen bin ich mit derartigen Diskussionen durchaus einverstanden.

Nochmals Danke :-)

Christian

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Marc of Frankfurt
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Mein feedback

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Da haben wir ja per Film jetzt die frauenpolitisch leitende EU-Abgeordnete kennengelernt,
an die sich unsere Protest-Petition richtet.


www.sexworker.at/protest



Danke für das Posting. Kann man den Film fürs Archiv für Downloads sichern?

Irgendwo im Interview sagt L.G. (ca. 16:20) im Disput über Bordellbesuche mit R.E. als Freier:
  • Und wenn sie [die Sexarbeiterin] dann nicht schauspielert, bekommt sie einen übergehauen?
    In 4 von 5 Fällen handelt es sich/sind die Frauen von Zwangsprostitution betroffen!
Was für eine einseitige übersteigerte Position. Ein Weltbild basierend auf der Gleichsetzung "Männer = Gewalttäter" bzw. "migrierte Frauen in der Sexarbeit = Zwangsprostitutionsopfer"?

Wenig später:
  • L.G.: Kucken sie auch mal in die Augen der Frauen?
    R.E.: Nein, es ist ein Geschäft.
Hier wird irgendwie versucht das männliche, ausbeuterische, frauenverachtende herauszustellen. Nur am Sex interessiert zu sein, das scheinen Frauenpolitiker, Sex- und Prostitutionsgegner nicht verstehen oder dulden zu können. In einer sexualitätsfreindlichen Gesellschaft ist Sex vollständig funktionalisiert für reproduktives, staatstragendes Familienleben, die Selektion der Leistungsträger, oder es wird versucht für Konsumwerbezwecke zu kapitalisieren. Sexualität um ihrer Selbst willen zu feiern, eine kultivierte Sex- oder Bordellkultur aus der Fülle heraus, um des freien Menschseins willen, konnte sich nie entwickeln, weil sie als Bedrohung erlebt und im Ansatz bekämpft wird.

R.E. hätte auch elegant sagen können: Nein, ich schaue ihre Schönheit, aber nicht in ihre Augen (Tor der Seele), denn ich will mich ja nicht in meine Sexdienstleisterin verlieben.





Die medial rumgereichte Bordellgegnerin aus Marburg sagt irgendwann später
  • I.H-S.: 30 Sekunden Takt im Laufhaus
Das mag zwar der Zeittakt der vorbeistrichenden Männer/Kunden sein. Aber die Dienstleistungen und erstrecht die Sexakte sind i.A. seltener und in einem recht entspannten Arbeitszeitrythmus. An vielen solchen kleinen Falsch-Aussagen ließe sich die Vorverurteilung der Sexarbeit ablesen. Das muß einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Jetzt steht aber fest, eine Entgegnung auf solche stigmatisierenden Aussagen und eine ausgewogen formulierte Darstellung sind in solchen gedrängten Sendeformaten in so einem polarisierten Thema nicht befriedigend möglich.





Ist sie gegen Zwangsprostitution wie sie vorgibt, oder ist sie eine Abolutionistin/Prohibitionistin gegen Prostitution, wie es ihre Vereinsaktivität und solche Aussagen erkennen lassen?

So wie sie nicht gegen das subjektive Erleben von uns selbstbestimmten Sexarbeitern anreden kann, sowenig kann ich das an dieser Stelle gegen ihre Erkenntnisse aus dem Marburger Menschenhandelsprozess, da ich die Aktenlage nicht kenne.

Der Menschenhandelsprozess, den ich viele Wochen lang im Frankfurter Oberlandesgericht unter leitendem Richter Dr. Grossmann beobachtet hatte und an dieser Stelle aus der Erinnerung referiere, spricht dem gegenüber eine ganz andere Sprache.
Sinngemäß heißt es in seiner Urteilsbegründung: Alle beteiligten ausländischen Parteien (ca. 7 Männer und 15 Frauen) wollten eine Existenz im Westen aufbauen. Die Frauen haben es geschafft, haben in Freiern teilweise Ehepartner gefunden oder werden durch Zeugenschutz- und Integrationsprogramme hier langfristig betreut. Die Männer sind nicht zuletzt aufgrund der int. rechtlichen Rahmenbedingungen zu Kriminellen (gemacht) worden. Gewaltvorwürfe hatten sich als Partnerschaftszwistigkeiten herausgestellt. Letztlich waren es Umsatzprozente am gemeinsam/von den Frauen erwirtschafteten Geldern und Lebensaltersgrenzenunterschreitungen (unter 21 Jahren, alle waren über 18 Jahren), was die Menschenhandeltstatbestände und daraus resultierende Haftstrafen für die Männer begründete. Dieser formale juristische Menschenhandel und der mediale Menschenhandel (sog. Zwangsprostitution) aus Propagandafilmen wie dem Spot zur EM in der Schweiz stehen in deutlichem Widerspruch zueinander den es zu dekonstruieren gilt.
  • Kriminalist Manfred Paulus wird zur Situation in Russland und Moldavien zitiert. Dort seien ganze Landstriche von jungen Frauen entvölkert.
Darf man das dem Menschenhandel in die Prostitution einseitig anlasten, oder ist es nicht vielmehr ein Globalisierungsproblem im Wohlstandsgefälle innerhalb der kapitalistischen Weltordnung. Wieviele der Mädchen sitzen eigendlich auf unseren Unis oder machen sonstige zeitweise unbezahlte Praktika?

Die Dortmunder Mitternachtsmission wird von I.H-S. zitiert anläßlich eines Kirchentages zitiert. Da frage ich mich manchmal, ob diese unstreitbar notwendigen Hilfseinrichtungen für die Frauen aufgrund von mehrdeutiger, unterlassener oder falscher Öffentlichkeitsarbeit für den Standpunkt von Sexarbeit den Sexarbeiterinnen letztlich einen Bärendienst erweisen.

Grundsätzlich kann man der Institution der Kirche vorwerfen: erst erklärt sie Sexarbeiter, Freier, Schwule, Ehebrecher etc. zu Sündern, um die von ihr selbst mitverursachten Seelen- und Folgeschaden dann führsorglich von ihren eigenen Anhängern und Mitarbeitern aufopfernd behandeln zu lassen.





Die EU Politikerin L.G. wirft irgendwann ein Tatbestandsmerkmal zum Menschenhandel ein:
  • Was ist mit den vielen Ausländerinnen, wo kein sprachlicher Kontakt zustande kommen kann?
Da sollte man mal entgegenhalten und untersuchen, wie es auf den Erntefeldern (Zwangsbauer), der clandestinen priv. häuslichen Altenpflege (Zwangspfleger), den importierten Industrieschlachtern (Zwangsmetzger) oder auf dem Bau zugeht...

Als wenn man im Lotterbett nur in landessprachlicher Konversation Grenzen setzen könnte (Am Bau hingegen kann von Sprachmißverständnissen das Leben abhängen...).
  • Mit der zuständigen EU-Kommissarin habe sie das in Antwerpen im Rotlichtviertel selbst gesehen. 20 Nationalitäten und kaum sprachliche Kontakte wären möglich.
Ob bei oder gar durch solche Exkursionen der Kommision die Parlamentarier auf prostitutions-prohibitionistische EU-Linie gebracht werden?

So würde dann jedenfalls langsam erklärlich, wie so ein unsägliches Papier wie das von Maria Carlshamre, MdEP entstehen konnte.

www.sexworker.at/protest





Wir können uns nur bedanken bei Stephanie, die unermüdliche Bereitschaft zeigt sich solchen Foren zu stellen. Hoffentlich bringt es ihr Kontakte für ihr Sexworker-Berufs-Coaching.

Letztlich und in Zukunft aber sind solche Debatten im netten Plauderton nicht zu schaffen. Sie müssen vorbereitet sein. Dazu bedarf es genauer Kenntnis der zu kritisierenden und zu widerlegenden Aussagen, damit man sie öffentlich anprangern, diskutieren und widerlegen kann.
  • "Sie haben da und da folgendes geschrieben/gesagt. Wie können sie die Verbreitung dieser Halbwahrheiten mit ihrem Gewissen vertreten"
Ist viel Arbeit, aber nur so kommt die Debatte vorwärts.





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Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 23.06.2008, 04:32, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitrag von Zwerg »

Marc of Frankfurt hat geschrieben:Kann man den Film fürs Archiv sichern für Downloads?
Leider übersteigen die dortigen Sicherheitsvorkehrungen meine Fähigkeiten der Archivierung :-(

Aber ich packe heute Abend noch einmal die Trickkiste aus

Auf alle Fälle schließe ich mich dem Dank an Stefanie Klee vollinhaltlich an! Die Frau hat unseren Respekt verdient

Christian