Gedenkplatte für SW im Nationalsozialismus

Beiträge betreffend SW im Hinblick auf Gesellschaft bzw. politische Reaktionen
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lust4fun
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Gedenkplatte für SW im Nationalsozialismus

Beitrag von lust4fun »

Eine Gedenkplatte für die Sexarbeiterinnen in der Hamburger Herbertstraße in der Zeit des Nationalsozialismus - umstritten wegen der Ähnlichkeit zu den Stolpersteinen und Stolperschwellen von Gunter Demnig.
Eine etwas merkwürdige und unangenehme Diskussion um diese Aktion einer örtlichen Initiative. Charmante Idee mit einigen Haken…

@dernhh, hast du da einen Einblick und eine Meinung?

https://taz.de/Gedenken-vor-der-Bordellgasse/!6026761/

https://kulturerbesanktpauli.net

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deernhh
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Re: Gedenkplatte für SW im Nationalsozialismus

Beitrag von deernhh »

@lust4fun

Egal, ob Stolpersteine oder wie hier Gedenkstein an der Herbertstraße in Hamburg, was ich persönlich für richtig halte:

Es geht darum, sich zu erinnern, wie speziell mit Sexarbeitenden, die einfach nur ihr Brot oder Geld durch Sexarbeit zum Lebensunterhalt erwerben, immer wieder umgegangen wird, je nach Art und Weise in der damaligen oder heutigen Zeit.

Damals wurden sie kaserniert, in Konzentrationslager in Neuengamme und Ravensbrück gesteckt, zwangssterilisiert, getötet, kamen gebrochen aus dem Krieg und sind gestorben.

Immer wieder werden wir Sexarbeitende grundlos kriminalisiert, ausgegrenzt, stigmatisiert, sehr oft zum Beispiel auch im normalen Alltag, damals wie heute (Krankenversicherungen, Bankkonten, Kindergarten, Schule, private Wohnungen, ärztliche Untersuchungen, Behörden, Ämtern uvm.).

Uns wird immer wieder mit Berufsverbot bzw. Sexkaufverbot gedroht, was ich für falsch halte.

Man spricht uns ab, dass wir Sexarbeitende nicht in der Lage seien, selbständig zu denken, zu leben, zu arbeiten, zu fühlen uvm. ...

Die Debatte über den Umgang mit Sexarbeitenden sollte nach wie vor lebendig bleiben und nachdenklich machen, da wir Sexarbeitende auch nur normale Menschen sind mit allen Freuden, Sorgen und Nöten wie bei allen anderen Menschen auch.

Legt uns nicht andauernd "Steine" in den Weg, denn auch wir möchten gerne einen halbwegs vollen Kühlschrank haben, und zwar ganz legal mit Hurenausweis und/oder Bockschein.

Liebe Grüße von deernhh

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Veraguas
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Re: Gedenkplatte für SW im Nationalsozialismus

Beitrag von Veraguas »

VERLEGUNG EINES „MESSING-BORDSTEINS" VOR DER HERBERTSTRAßE AM 9.8.2024
OFFENER BRIEF
Hamburg, 9.8.2024
Sehr geehrte Frau Staron, Sehr geehrter Herr Neubauer, Sehr geehrter Herr Wilm,
am Freitag, den 9. August 2024, wird auf Ihre Initiative hin ein „Messing-Bordstein" zum Gedenken an im Nationalsozialismus verfolgte Sexarbeiter*innen vor der Herbertstraße verlegt.
Grundsätzlich begrüßen wir es, an die Situation von Sexarbeiter*innen in jener Zeit zu erinnern. Allerdings gibt es Einwände und Kritik aus unterschiedlichen Perspektiven an Ihrem Projekt.
Uns erscheint der Gestaltungsprozess vom Beschluss bis zur Verlegung übereilt sowie oberflächlich und plakativ, was wir sehr bedauern. Mehrmals hatten wir uns dazu in den vergangenen Wochen an Sie gewendet.
Wir fragen uns: Wozu die Eile? Viele Stimmen sind bisher nicht angehört, geschweige denn berücksichtigt worden. Wir hätten uns dringend gewünscht, dass die geplante Umsetzung überdacht wird.
Wir finden: Ein Gedenken an die als „asozial" verfolgten Sexarbeiter*innen muss auf dem aktuellen Forschungsstand beruhen und zugleich die Perspektive heutiger Sexarbeiter*innen aktiv einbinden. Sie dagegen wollen erst erinnern und anschließend forschen. Was aber, wenn das Forschen eine andere Form des Erinnerns nach sich ziehen muss? Eine andere Inschrift? Auch muss bereits beim Erinnern die Ambivalenz der „Herbertstraße“ im Wandel der Zeiten mitgedacht und die Existenz von Sexarbeiter*innen aller Geschlechtsidentitäten sichtbar werden.
Sie haben den „Messing-Bordstein“ in „Anlehnung an die Stolpersteine“ konzipiert, was zu Irritationen bei der Hamburger Stolperstein-Initiative führte, die ebenfalls nicht einbezogen wurde. Nicht zuletzt ist der geplante, aus Steuergeldern bezahlte „Messing-Bordstein“ deutlich teurer als die durch Patenschaften und Spenden finanzierten Stolpersteine bzw. Stolperschwellen.
Auf unsere Schreiben an Sie erhielten wir vor allem die Antwort, dass niemand von Ihnen wirklich zuständig für das Vorhaben sein möchte. Verantwortlichkeiten wurden hin und her geschoben, ein echter Austausch kam bisher nicht zustande. Wir wurden vertröstet, manche Einwände sogar ganz ignoriert. Ganz offensichtlich ziehen Sie die geplante Umsetzung durch, ohne auf die vielfältige Kritik einzugehen.
Aus der Perspektive von Sexarbeiter*innen ist ein solcher Umgang leider bestens bekannt: Während bedauerlicherweise ein konstruktiver und beteiligender Umgang mit Sexarbeiter*innen ausbleibt, verspricht das Thema garantierte mediale Aufmerksamkeit und Schlagzeilen, denen manche nicht widerstehen können.
Auch in der Erinnerungskultur sind Alleingänge nichts Neues, bei denen sich die Initiator*innen ermächtigen, an andere zu erinnern, ohne deren Nachkommen einzubeziehen oder Kontinuitäten der Ausgrenzung und Stigmatisierung bis heute zu berücksichtigen.
Die Verlegung des „Messing-Bordsteins" erfolgte daher ausdrücklich nicht mit unserer Zustimmung. Mit diesem Offenen Brief dokumentieren wir Kritik, Einwände und Änderungswünsche.
Weder Expertise noch konstruktive Kritik haben dazu geführt, dass Sie als Verantwortliche Ihre Pläne überdenken. Im Alleingang, vollkommen übereilt und ohne Sensibilität für problematische Formen des Erinnerns wie für Sexarbeitsfeindlichkeit überstürzen Sie ein
Vorhaben, das Fingerspitzengefühl und Reflektion voraussetzt.
Weitere Personen, Initiativen und Verbänden teilen unsere Bedenken und bringen dies durch ihre Unterschrift zum
Ausdruck.
Ruby Rebelde, Sexarbeiter*in
Frauke Steinhäuser, Historikerin
Ronja Hesse und Martin Spruijt für Vorstand und Geschäftsführung des St. Pauli-Archivs e.V. ----------------------------------------------
Erstunterzeichnend
Organisationen
BufaS - Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiter*innen e.V.
Doña Carmen e.V. Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten
BiLan - Bildungsinitiative Lernen aus dem NSU - Hamburg (Logo)
Fachberatungsstelle P.I.N.K. (LOgo)
Geschichtswerkstätten Hamburg e.V.
Einzelpersonen
Dr.in Helga Amesberger, Sozialwissenschafterin und Autorin von Büchern über die Verfolgung von Frauen als
"Asoziale", Wien
Fabienne Freymadl, BDSM Studio LUX, Berlin
Agnes Winter, Studio IMS, Hannover
Tamara Solidor, Sexarbeiterin
Christian Schmacht, Autor und Sexworker
Dr. Anna Hájková, Holocaust-Historikerin, Universität Warwick (GB)
PD Dr. Yvonne Robel, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Anton Wegener, Hamburg
Cornelia Kost, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Trans* und Intergeschlechtlichkeit Nadja Zillken, Berlin
Ferdinand Krista, Sexarbeiter
Mia Rose, Sexarbeiterin, Leipzig
Kumi More, Schwarze Sexarbeiter*in, Hamburg
Bendix Mignon, Sexarbeiter_, Hamburg
Undine de Rivière, Landessprecherin Hamburg des BesD e.V.
Alexander Hoffmann, Rechtsanwalt
Christine Nagl, Plattform Menschenrechte, Salzburg
Susanne Kock, Sozialwissenschaftlerin Uni Münster, Streetworkerin bei Projekt Marischa Katharina Staake, Winsen/Luhe
Holga, queere feministische Aktivist*in, München
Dr. Joana Lilli Hofstetter, Vorstand der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung Kathrin Schrader, Prof.in Dr.in Soziale Arbeit, Frankfurt
Daniel Horneber, Behindertenaktivist
Sylvia Köchl, freie Autorin in Wien, Mitinitiatorin der Petition http://change.org/vergessene-opfer zur Anerkennung
von "Asozialen" und "Berufsverbrechern" als Opfer des Nationalsoialismus
Brigitte Halbmayer, Sozialwissenschaftlerin, Wien
Obertunte, recherchiert zu queerer Geschichte Oberschwaben/Drag artist
Matthias Pöhl, Rechtsanwalt, München
Ruth Martini, Promotionskolleg Intersektionalitätsstudien, Uni Bayreuth
Tom Wochnig, München
Bärbel Klein, Hamburg
Welches Problem auch immer in der Gesellschaft besteht-
der Staat weiss eine völlig irre Problemlösung die niemandem nützt, aber Arbeitsplätze im Beamtenapparat schafft. H.S.

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deernhh
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Re: Gedenkplatte für SW im Nationalsozialismus

Beitrag von deernhh »

Interessant, wer da so alles unterschrieben hat, den offenen Brief ....

Es wurde lange, bevor der Gedenkstein in dieser Art mit dieser Inschrift an diesem Ort verlegt wurde, gefragt, ob man damit einverstanden sei.

Da die Resonanz der Kritiker*innen lange ausblieb bzw. sich nicht zu einer Diskussion, bevor der Gedenkstein verlegt wird, herablassen wollte, wurde er nun verlegt.

Ja, nun steht man vor Tatsachen und es folgt ein Donnerwetter in Form eines offenen Briefes mit Unterschriften.




Stolperbordstein
Denkmal für Sexarbeiterinnen, die im Nationalsozialismus diskriminiert und ermordet wurden

Stolperbordstein heißt ein Denkmal für Sexarbeiterinnen, die im Nationalsozialismus diskriminiert und ermordet wurden. Der Name verbindet zwei Begriffe: „Bordstein“ bezieht sich auf die Straßenprostitution, während „Stolperstein“ für die Opfer des NS-Regimes steht. Die Gedenkplatte befindet sich in Hamburg-St. Pauli und erinnert an eine bisher wenig erforschte Gruppe von NS-Opfern.[1]

Hintergrund: Sexarbeit im Nationalsozialismus

Gedenktafel für Sexarbeiterinnen im Nationalsozialismus, Hamburg-St. Pauli 2024
Während des Nationalsozialismus galt Sexarbeit (auch als Prostitution bekannt) als „asoziales Verhalten“ und wurde als „Sünde und Schande für die Volksgemeinschaft“ betrachtet. Obwohl die Tätigkeit der Frauen nicht explizit verboten war, unterlag sie strenger Überwachung, und die Frauen wurden oft kaserniert.[2] In einigen Städten Deutschlands, darunter Hamburg-St. Pauli, wurden eiserne Tore vor Bordellgassen errichtet, um die Kontrolle zu verschärfen. Die Herbertstraße, eine Hamburger Bordellgasse, war und ist bis heute nur Männern zugänglich.[3][4]

Prostituierte galten im nationalsozialistischen Sozialrassismus als „unterwertige Elemente“. Sie waren behördlicher Willkür und Schikane ausgesetzt, darunter Kasernierung, Entmündigung, Zwangssterilisierung und Einweisung in Wohlfahrtsanstalten, Gefängnisse oder Konzentrationslager wie das KZ Neuengamme oder das Frauen-KZ Ravensbrück.[5][6] Einige Frauen wurden zur Zwangsarbeit in Wehrmachtsbordellen gezwungen.[7]

Die Rolle der Polizei und die Vorbeugende Verbrechensbekämpfung

Ein Erlass von 1937 verlieh der Polizei weitreichende Befugnisse zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“. Unter dem Vorwand, dass ihr “asoziales Verhalten” die Allgemeinheit gefährde, konnte die Polizei Menschen ohne Gerichtsverfahren und ohne zeitliche Begrenzung in sogenannte Vorbeugehaft nehmen. Was jeweils als „asoziales Verhalten“ galt, bestimmte die Polizei.[5][8]

Die Situation im Konzentrationslager

Prostituierte trugen im KZ wie andere als „asozial“ Eingestufte einen schwarzen oder grünen Winkel an ihrer Kleidung. Sie standen auf der untersten Stufe der Lagerhierarchie und wurden selbst von Mithäftlingen oft verachtet. Wie viele von ihnen im KZ umkamen oder durch die Schikane von Polizei und Gestapo getötet oder verletzt wurden, ist nicht genau erforscht. Schätzungen sprechen von mindestens 70.000 als „asozial eingestuften“ Menschen, die in den Konzentrationslagern einen grünem oder schwarzen Winkel tragen mussten. Ihre Todesrate lag besonders hoch.[3][9]

Aufarbeitung nach 1945

Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde die Diskriminierung von Menschen, die von der sozialen Norm abwichen wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen, oft fortgesetzt. Die Betroffenen selbst schwiegen meist aus Scham vor erneuter Stigmatisierung. Im Gegensatz zu politisch, religiös und rassistisch Verfolgten erkannte man sie nicht als NS-Opfer an und sie erhielten keine Entschädigung.[10]

Erst im Frühjahr 2020 stimmten alle Parteien des Deutschen Bundestags (mit Ausnahme der AfD) einem Antrag des Abgeordneten Frank Nonnemacher zu, dessen zentraler Satz lautet: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.“[11] Damit wurde zumindest ein Teil des Unrechts anerkannt, dem Sexarbeiterinnen im Nationalsozialismus ausgesetzt waren.[12]

Der Stolperbordstein als Gedenkstätte

Vor dem Eingangstor zur Herbertstraße nahe der Reeperbahn wurde mit Unterstützung des Bezirks Hamburg-Mitte am 09. August 2024 eine Bodenplatte in den Bordstein eingelassen, die an die Schicksale verfolgter Prostituierter erinnert.[13] Die Inschrift lautet: „Entrechtet – Ausgegrenzt – Ermordet“. Die Initiative dazu ging vom Verein Lebendiges Kulturerbe St. Pauli und der Kirchengemeinde St. Pauli aus.[3] Ein QR-Code auf der Platte führt zu weiteren Informationen über die Geschichte der Herbertstraße und ihrer Bewohnerinnen.[14]

https://de.wikipedia.org/wiki/Stolperbordstein
messingplatte-vor-der-herbertstrae-foto-dagmargehm.jpg

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lust4fun
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Re: Gedenkplatte für SW im Nationalsozialismus

Beitrag von lust4fun »

Danke für eure Beiträge!

Wenn ich mal wieder an der Herbertstraße vorbeikommen sollte, werde ich es machen wie bei allen Stolpersteinen. Ich werde kurz verharren, ein Namaste zumindest andeuten und so innerlich einen Gruß an die Beschriebenen schicken.

Gedanklich werde ich versuchen die offenbare Komplexität und die Widersprüche zu sortieren:
• Gute Idee mit dem QR-Code – so wird eine lebendige, ausbaufähige Doku daraus. Im Moment gibt es den Link, aber leider noch keine Inhalte dazu. (Timing?)
• Gut gemeint, ist es auch gut gemacht?
• Ist es gut, den Begriff „ermordet“ zu verwenden, wenn schon hier der inhaltliche Streit beginnt?
• Selbst bei Gedenken geht es im Hintergrund um einen Streit um Plagiate.
• „Seelenlos“ finde ich die „Fabrikarbeit“ nicht.
• In unserer nichtidealen Welt gibt es überall dieselben Kommunikationsprobleme. Man wirft sich gegenseitig vor: „Mehrmals hatten wir uns dazu in den vergangenen Wochen an Sie gewendet.“ „Ein echter Austausch kam bisher nicht zustande.“
• Wieder arbeiten sich die aneinander ab, die hier dringend zusammenstehen sollten.

Dann komme ich doch wieder auf die historischen Gehalt. Lese das, was bekannt ist und das, was ungeklärt ist. Mission erfüllt.

Und stolpere nicht über die Schwelle, sondern über das metallene Tor. Vom Gauleiter 1933 installiert. Und 2024 steht es noch. Warum?