Aoife hat geschrieben: Pflichtuntersuchungen sind nicht nur menschenrechtswidrig, sondern auch unter rein gesundheitlichen Aspekten definitiv kontraproduktiv.
Ein bisher nicht beachteter Aspekt der Pflichtuntersuchungen ist das Verbot von Zwangsarbeit gem Art 4 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention). SexarbeiterInnen wird mit der Untersuchung ein Zeitaufwand von bis zu 1 Arbeitstag pro Woche für eine berufspezifische, aber unbezahlte, Tätigkeit abverlangt. Rechtsanwälte haben sich schon (erfolglos) beschwert, wenn sie nur ein paar pro bono Fälle pro Jahr erledigen mussten. Daraus hat sich eine Judikatur entwickelt, die auch zur Zwangsuntersuchung anwendbar ist.
Das einfache Argument, dass die Zwangsarbeit mit der Berufswahl freiwillig akzeptiert wird (z.B.: wer Sexworker sein will, muss eben die Untersuchungen in Kauf nehmen), hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1983 im Fall van der Mussele gg Belgien verworfen. Der Gerichtshof hat dort Zwangsarbeit definiert durch Arbeit, die unter Androhung von Strafe verlangt wird, die aber nicht freiwillig erbracht wird. Allerdings ist es zulässig, im Sinn der gesellschaftlichen Solidarität gewisse Arbeiten zu verlangen, wenn der Aufwand nicht unverhältnismäßig ist - das fällt dann unter erweiterte Bürgerpflichten. So muss jeder Hausbesitzer dafür sorgen, dass der Schnee vom Gehsteig geräumt wird, Anwälte können in manchen Ländern verpflichtet werden, ab und zu Pflichtverteidigungen ohne Entgelt zu führen, Ärzte zu unbezahlten Behandlungen in Notfällen usw.
Im Fall der SexarbeiterInnen wäre die Zwangsuntersuchung nach diesem Argument zunächst auch ein Akt der gesellschaftlichen Solidarität. Doch er wäre unverhältnismäßig, weil gleich 20% der Arbeitszeit unentgeltlich dafür aufgehen (Wartezeiten durch schlechte Koordination), weil die Untersuchungen der Gesellschaft nichts bringen (weder sinken Geschlechtskrankheiten, wie Syphilis im Vergleich mit D zeigt, noch werden sexuell versklavte Frauen entdeckt, wie die jüngsten Erfahrungen in Wien zeigen) - und weil in Österreich die von der UNO 2010 festgestellte erniedrigende Behandlung der SexarbeiterInnen bei der Untersuchung hinzukommt. Damit wird eine vorgeblich "normale Berufspflicht" zu einer systematischen Menschenrechtsverletzung, die Hausbesitzer, Anwälte, Ärzte, ... bei ihren solidarischen Leistungen nicht erleben müssen.
Dadurch verletzt Österreich mit den Zwangsuntersuchungen für SexarbeiterInnen auf systematische Weise gleichzeitig Art 3 EMRK (Verbot der Folter) und Art 4 EMRK (Verbot der Sklaverei), die beide (als absolute und notstandsfeste Rechte) zum Kernbestand der Konvention zählen.
Hinzu kommt mit den gehäuften Mordfällen an SexworkerInnen eine Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben) unter dem Aspekt, dass der Staat die Pflicht zum Schutz der Frauen und zur Aufklärung der Verbrechen an ihnen nicht wahrnimmt. Mit den Zwangsvorführungen zur Zwangsuntersuchung werden Art 3, Art 5 (Schutz der Freiheit) und Art 8 (Schutz des Privatlebens) verletzt. Mit den verdeckten und oft tatprovokativen Ermittlungen zur Bestrafung nicht registrierter Sexarbeiterinnen wird Art 6 (Fairness) verletzt. Da SexarbeiterInnen keine praktische Möglichkeit haben, sich wirkungsvoll gegen diese verdeckten Polizeiübergriffe zu beschweren, schon gar nicht in ihrer eigenen Wohnung, sondern sie bei Beschwerden Verleumdungsklagen riskieren, kommen noch die Verletzungen von Art 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) und Art 10 (Meinungsfreiheit) hinzu. Im Genuss aller dieser Rechte werden SexarbeiterInnen auch benachteiligt (Art 14 EMRK), zusätzlich zur "gewohnten" Benachteiligung als Frauen. Insgesamt wird durch solche Benachteiligungen auch der Lebensstil der SexarbeiterInnen bekämpft (Verletzung von Art 9, Freiheit der Weltanschauung).
Irgendwie ist es schon bemerkenswert, welche gravierenden Missstände die österreichische Bürokratie mit recht geringem Aufwand zu Stande bringt und sogar mit ein und derselben Maßnahme, Zwangsuntersuchungen von SexarbeterInnen, gleich mehrere Grundrechte der Betroffenen gleichzeitig verletzt werden.